Die Stärkung des Immunsystems ist in der heutigen Zeit sehr in den Fokus vieler Menschen gerückt. In Zeiten einer weltweiten Pandemie haben sich viele Menschen zurecht gefragt, wie sie ihre eigene Widerstandsfähigkeit gegen Krankheitserreger aufbauen können. Es geht darum, nicht passiv und hilflos der drohenden Gefahr gegenüber zu stehen, sondern aktiv selbst etwas tun zu können. Selbstwirksamkeit als probates und gesundes Instrument.
Leider ist ein bestimmter, relativ einfacher Weg, die Immunabwehr zu stärken, noch im Schatten anderer Möglichkeiten. Warum ist das noch nicht überall angekommen? Nutze Deine Atmung!
Atmung als direkter Weg zum Immunsystem
Doch vielleicht ist „Schattendasein“ übertrieben. Gerade in den letzten Jahren haben bestimmte Atemtechniken (allen voran die Wim Hof Atmung) und neues Wissen über Wege und Strategien zu einer gesunden Atmung weiter Verbreitung erfahren. Völlig zurecht und ich wage zu prognostizieren, dass dies erst der Beginn ist. Nach einer Welle der Erkenntnis bezüglich Meditation, Achtsamkeit, Stressreduktion und der Bedeutung gesunder, individuell abgestimmter Ernährung einerseits und optimalem Schlaf andererseits, gilt es nun, eine der basalen körperlichen Grundfunktionen – unsere Atmung – den Platz einzuräumen, den sie verdient hat. Wenn hier von neuen Erkenntnissen über Atmung geschrieben wird, ist das natürlich richtig, denn in den letzten Jahren ist viel Forschungsarbeit geleistet worden. Und doch ist so einiges alles andere als neu. Eher wiederentdeckt – in den Schubladen, die – schwer erklärlich – zugemacht worden sind. Altes Wissen über Atmung.
Wim Hof Methode im Fokus der Wissenschaft
Im Jahre 2014 wurde im renommierten Journal PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America) ein Artikel publiziert mit dem Titel: „Voluntary activation of the sympathetic nervous system and attenuation of the innate immune response in humans“ [1]. Diese Studie basiert auf einer Einzelfalluntersuchung des Holländers Wim Hof [2]. Des Mannes, der über zwanzig Weltrekorde bezüglich Kälteertragen aufgestellt hat und seine eigene Methode, die sogenannte Wim Hof Methode, sehr erfolgreich in die ganze Welt exportiert hat. Zu dieser Zeit war Wim Hof noch relativ unbekannt, nur in Holland selbst war er „der Eismann“ – verrückt und belächelt. Nachdem die Niederländischen Mediziner des Radboud University Medical Centers in Nimwegen Wim Hof ein paar Jahre zuvor untersuchten und die Resultate als Einzelfallstudie veröffentlichten, brachten sie es zustande, diesmal eine Gruppe von jungen Leuten zu untersuchen, die dann mit einer Kontrollgruppe verglichen wurde. Üblicherweise ist die grundlegende Aufgabe der Arbeit dieser Gruppe, geeignete Maßnahmen und Wirkmechanismen gegen die zunehmende Inzidenz der Sepsis zu finden. Sowohl bei Wim Hof selbst, als auch in der in PNAS veröffentlichten Gruppenstudie ging es um die menschliche Immunreaktion auf eine Injektionen von Lipopolysaccariden (LPS). LPS sind Bestandteile gramnegativer Bakterien, welche in der äußeren Membran verankert sind. Beim Zerfall der Mikroorganismen werden sie freigesetzt. Sie wirken im Wirt als Endotoxine und rufen u.a. die Ausschüttung von IL-1 und TNF-α aus Makrophagen hervor. Ein relativ kontrollierbarer Prozess, der es erlaubt, während der ersten 4 – 6 Stunden nach der Endotoxininjektion durch regelmäßige Blutentnahmen dem Immunsystem quasi bei der Arbeit zuzuschauen.
Die 2014er Studie zeigte, dass es möglich ist, mit etwas so simplen wie einer Atemtechnik, das Immunsystem so zu modulieren, dass das sonst zu beobachtende starke Krankheitsgefühl von den Teilnehmern, welche die Wim Hof Methode trainiert hatten, kaum berichtet wurde. Und dies nach nur zehn Tagen des Trainings. Objektive Parameter zeigten, dass sich die Zytokinlevel zwischen den Gruppen deutlich unterschieden: bei den Trainierten stieg IL-10 rasant nach der LPS-Gabe an und korrelierte mit einer Erhöhung des Adrenalins. Entzündungsfördernde Mediatoren wie IL-6, IL-8 und TNF-α waren in einer geringeren Zahl zu finden und korrelierten mit IL-10. Durch diese besondere Art der Atmung wurde der Sympathikus aktiviert, was zu einer Erhöhung des Adrenalins führte, ohne aber zugleich Noradrenalin und Kortisol ebenfalls zu erhöhen. (Die Bezeichnung Adrenalin und Epinephrine sind synonym. Dahinter steht eine hochinteressante Wissenschaftsgeschichte mit teilweise rassistischen Motiven. Für mehr Information siehe Brian B. Hoffman: „Adrenaline“. Harvard University Press, Cambridge und London 2013). Die Atmung ist dabei kein Geheimnis und lässt sich von mittlerweile unzähligen Anleitungsvideos erlernen [3]. Die Ergebnisse haben für sehr viel Aufsehen gesorgt, sodass mittlerweile einige renommierte Universitäten die Wim Hof Methode untersuchen. Es erschien kurz nach der Veröffentlichung der Ergebnisse ein erklärender, sehr positiver Artikel in Nature, der optimistisch davon ausging, dass wir uns auf einem guten Weg befänden, den Zusammenhang von Immunreaktion und neutraler Regulation zu finden [4]. Um sich einen Eindruck zu machen, wie die Versuchspersonen der Studie nach Endotoxingabe geatmet haben, ist das Anschauen des folgenden Videos aus dem zusätzlichen Dateien des Journals spannend [5]. Anfangs waren die Forscher selbst äußerst skeptisch und zurückhaltend. Der Erstautor Matthijs Kox erzählte mir in einem Interview, dass Wim Hof sich selbst bei ihnen vorstellte – mit der Behauptung, er kenne einen Weg, sein Autonomes Nervensystem zu beeinflussen und demzufolge auch seine Immunantwort [6]. Dies galt als medizinisch nicht möglich. Mittlerweile denken die Wissenschaftler etwas anders darüber. Abseits von überzogenen Erwartungen und überkritischer Berichterstattung wird sich die Essenz und Anwendbarkeit von Atemtechniken in Zukunft herausstellen.
Weitere Studien
Seit der PNAS Studie 2014 sind einige weitere Studien zur Wim Hof Methode publiziert worden. Alles mit unterschiedlichen Schwerpunkten. So untersuchten Forscher der Universität Michigan in Detroit Wim Hof mittels fMRT (funktionelle Magnetresonanztomographie) und PET (Positronen-Emissionstomographie), um die metabolischen und neuronalen Zusammenhänge auf Kälte zu beleuchten [7]. Die 2019 erschienene Studie der Holländischen Gruppe zeigte bei Patienten mit der chronischen Autoimmunerkrankung Axiale Spondyloarthritis nach 8-wöchiger Intervention (Wim Hof Methode) einen signifikanten Abfall der ESR (Erythrozytensedimentationsrate) [8].
Adrenalinschübe gezielt nutzen
Insbesondere häufig unverständlich ist für viele, warum die Sympathikusaktivierung und Modulation des Immunsystems denn positiv sein soll. In vielen Fällen ist das nicht unbedingt so, nämlich dann, wenn es nicht nur kurzzeitig, sondern sich zu einer chronischen Belastung ausweitet, wie z. B. bei permanentem Stress. Doch wie Matthijs Kox mir berichtete, sind eine Sympathikusaktivierung und damit ein erhöhter Adrenalinspiegel wünschenswert bei Autoimmunerkrankungen. Adrenalin scheint sich einen schlechten Ruf erarbeitet zu haben. Sehr zu Unrecht, denn es ist für die Arbeit des Immunsystems von großem Vorteil. Hilfreich ist hier, das Modell der allostatischen Last von McEwen heranzuziehen [9]. Es beschreibt den Effekt der Überbeanspruchung nach wiederholter und chronischer Exposition gegenüber Stress. Um es kurz und sehr reduktionistisch auszudrücken: unser Gehirn ist eine Vorhersagemaschine. Um die Unsicherheit des Lebens einigermaßen regulieren zu können, scannen wir unsere Umgebung und treffen permanent Vorhersagen, wie sich die Umwelt uns gegenüber entwickelt. In einer vorhersehbaren Umgebung empfinden wir Sicherheit. Befinden wir uns jedoch in einem Umfeld, dass uns beständig bedroht und wir somit immer auf der Hut sein müssen, finden wir uns in einem dauerhaften Stresszustand wieder. Ständig und vor allem mit viel Energieaufwand versuchen wir, vorausschauend zu agieren und die Gefahr von unliebsamen Überraschungen zu minimieren. Und genau dies geht mit einer größeren allostatischen Last einher, die hilfreiche, kurzfristige Anpassungsprozesse letztlich langfristig ins Gegenteil umschlagen lässt: wir bezahlen den Preis einer chronischen Aktivierung von neuroendokrinen, kardiovaskulären und emotionalen Alarmzuständen mit der Währung von pathophysiologischen Veränderungen.
Lassen Sie uns jetzt den Bogen machen zur kurzfristigen Sympathikusaktivierung. Solange wir uns die Chance geben, einen kurzfristigen Adrenalinschub zu geben, wird unser Stresssystem und unser Immunsystem aktiviert und zwar einhergehend mit zwei entscheidenden Faktoren: erstens ist diese Aktivierung nicht dauerhaft, sondern zeitlich begrenzt und zweitens ist der mentale Zustand spielerisch, neugierig und entspannt, aber nicht geprägt von Hilflosigkeit oder Angst. Atemtechniken, die diese kurzzeitigen Effekte auslösen können, lassen sich also deshalb nutzen, um Stress zu steuern und für sich selbst und das eigene Immunsystem nutzbar zu machen. Inwieweit diese Techniken einen speziellen oder nur einen möglichen Weg darstellen (neben z. B. kontrollierten Stresszuständen wie Sport, Eisbäder, Sauna-Anwendungen etc.), wird sich noch zeigen.
Fazit: Adrenalin und Lernen
Es mag überraschend sein, dass sich diese kurzzeitigen positiven Effekten sogar direkt für verbesserte Lern-und Gedächtniskonsolidierung nutzen lassen. Egal, ob es sich um das Faktengedächtnis oder um das für den Sport hochrelevante motorische Gedächtnis handelt, eine spezielle Aktivierung des Sympathikus am Ende einer Lerneinheit, genauer eine Erhöhung des Adrenalinspiegels durch Atemtechniken oder andere Wege, zu erreichen, führt zu einer deutlichen Verbesserung der mnestischen Einprägung bzw. Retention. Ein weiterer wichtiger Punkt: die regelmäßige Aktivierung von Adrenalin bei gleichzeitiger mentaler Ruhe resultiert in einer gegenseitigen Verstärkung. Das bedeutet, dass wir in Situationen, die stressvoll sind und eher außerhalb unserer Kontrolle liegen, was sicher auf viele sportliche Wettkampfsituationen zutrifft, eher eine antrainierte geistige Ausgeglichenheit erreichen und trotz der Sympathikusaktivierung mehr kognitive und emotionale Kapazitäten besitzen, diese Situation zu unserem Vorteil zu bewältigen. Es gibt also Transfereffekte kurzzeitigen Stresstrainings auf Bereiche, die nicht komplett kontrollierbar sind.Weitere in der sportärztezeitung erschienene Artikel zum Thema Atmen:
Weitere in der sportärztezeitung erschienene Artikel zum Thema Atmung / Atmen:
Literatur
[1] https://www.pnas.org/content/111/20/7379.abstract
[3] https://matthiaswittfoth.de/wim-hof-methode/
[4] https://www.nature.com/news/behavioural-training-reduces-inflammation-1.15156
[5] https://www.pnas.org/content/early/2014/04/30/1322174111/tab-figures-data
[6] https://scienceontherocks.org/episode-7-investigating-the-iceman-matthijs-kox/
[7] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/29438845/
[8] https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0225749
[9] B.S. McEwen, E. Stellar: Stress and the individual. Mechanisms leading to disease.. In: Archives of Internal Medicine. 153, Nr. 18, 27. September 1993, S. 2093 – 101.
Autoren
ist promovierter Neurowissenschaftler und zertifizierter Wim-Hof-Method Instructor. Nach fast zwei Jahrzehnten Forschungstätigkeit (Bremen, Hannover, Boston) mittels funktioneller Bildgebung des Gehirns, gibt er seit einigen Jahren europaweit Atem- und Kältetrainings in Workshops.