Meistens ist Atmen für uns eine Selbstverständlichkeit. Es passiert einfach von alleine. Geht uns allerdings die Luft aus – bei Belastung oder auf Grund einer Erkrankung – rückt unsere Atmung sehr schnell in unser Bewusstsein. Ohne Nahrung können wir ein paar Wochen überleben, ohne Flüssigkeit ein paar Tage, ohne Sauerstoff jedoch nur wenige Minuten.
Wir atmen etwa 15.000 bis 20.000 Mal pro Tag. Das ist erst einmal ein mechanischer Akt mit dem Ziel eines Gasaustauschs zur Energiegewinnung. Wir können dazu unser Zwerchfell, unsere Zwischenrippenmuskulatur oder unsere Atemhilfsmuskulatur im Bereich des Schultergürtels einsetzen. Es ist also gut nachvollziehbar, dass die Art und Weise wie wir atmen – unsere „Atemtechnik“ – Reaktionen in unserem Bewegungsapparat hervorruft. Im Grunde ist es vergleichbar zu unserer Lauftechnik beim Joggen bei der sich ein kleiner Fehler über die Distanz bemerkbar machen wird. Nur eben mit dem Unterschied, dass wir ein Leben lang ohne längere Pausen atmen.
Der Supermuskel
Der wichtigste Muskel für unsere Atmung ist unser Zwerchfell. Dieser „Supermuskel“ spielt zeitgleich eine wichtige Rolle für unsere Stabilität im Rumpfbereich oder „Core“. Das Zwerchfell beeinflusst die Druckverhältnisse im Brust- und Bauchraum und damit auch die Aktivität unseres Beckenbodens. Verdeutlicht man sich diese Zusammenhänge, so wird auch nachvollziehbar, dass unsere Körperhaltung und -kontrolle eng mit unserem Zwerchfell verknüpft sind. Faszinierend ist, es zu beobachten wie schnell wir mit einer bewussten Atmung spürbare mechanische und psychische Effekte erzielen können.
Ein Beispiel aus der Praxis
Einer der Hauptgründe für Patienten unsere private Notfallsprechstunde am Wochenende aufzusuchen sind akute Rückenschmerzen. Dank unserer umfangreichen Bildgebung mit MRT, CT und Röntgen können wir strukturelle Beschwerden in der Regel schnell abklären. Beinahe bei jedem akuten Rückenschmerzpatienten ist aber zusätzlich auch die Atmung verändert. Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule führen zu einem muskulären Hartspann der Rückenmuskulatur, als Schutzreflex des Körpers. Diese An- oder Verspannung wird dann oftmals selber zu einem relevanten Schmerzauslöser. Die Atmung erfolgt dann betont über die Zwischenrippenmuskulatur und die Atemhilfsmuskulatur. Neben einer adäquaten Schmerztherapie mit Injektionen, Infusionen, Akupunktur oder einer manuellen Therapie, leite ich die Patienten in einer entspannten Rückenlage mit gebeugten Knien zu einer gezielten Bauchatmung an. Auf diese Weise reduziere ich die Anspannung, lockere die Rückenmuskulatur und biete dem Patienten eine Linderung, die er ohne therapeutisches Zutun selber anwenden kann. Die bewusste Atmung gibt Patienten das Gefühl der Selbstwirksamkeit und hat damit direkt einen positiven psycho-physiologischen Effekt.
Biochemische und psycho-physiologische Effekte
Neben dem biomechanischen hat unsere Atmung auch einen biochemischen und psycho-physiologischen Effekt. Bei der biochemischen Betrachtung geht es in erster Linie um die Aufnahme von Sauerstoff und den Abtransport von Kohlendioxid. Dieser Gasaustausch erfolgt in der Lunge und in unseren Zellen bei der Energiegewinnung. Atmung beeinflusst unmittelbar den pH Wert unseres Blutes. Durch Hyperventilation können wir aktiv darauf Einfluss nehmen. Wer sich zu diesem Thema tiefergehend informieren möchte, sollte sich mit der Atemtechnik von Wim Hof auseinandersetzen.
Psycho-physiologisch ist unsere Atmung interessant, weil sie uns einen Zugriff auf unser autonomes Nervensystem ermöglicht. Bei Anspannung, Stress und Schmerz verändert sich unsere Atemmechanik und der Muskeltonus erhöht sich. Der Oberkörper mit der Zwischenrippenmuskulatur und dem Schultergürtel wird verstärkt aktiviert. Viele Menschen haben einen dauerhaft erhöhten Sympathikotonus. Durch eine bewusste Atmung lässt sich dieser reduzieren. Wir können in gewissen Grenzen, Stress und Schmerz „wegatmen“.
Was testet die Lungenfunktion?
Die Anzahl der Menschen, die ein ungünstiges Atemmuster aufweisen ohne sich dessen bewusst zu sein, ist größer, als die meisten vermuten. Das liegt daran, dass wir die Atmung selten testen. Bei Lungenpatienten, Sporttauglichkeitsuntersuchungen führen wir sportmedizinisch eine Lungenfunktion durch. Dabei werden das Lungenvolumen, die Flussgeschwindigkeit und weitere Parameter untersucht. Damit soll abgeklärt werden, ob eine restriktive oder obstruktive Lungenfunktionsstörung vorliegt. Restriktiv bedeutet, dass das zur Verfügung stehende Lungenvolumen reduziert ist. Gründe dafür können beispielsweise in Verklebungen und Narben liegen, aber auch an einer eingeschränkten Mechanik. Nimmt man sich die Zeit für eine manualmedizinische Untersuchung und eine Anleitung zur bewussten Bauchatmung, so lassen sich „funktionelle“ Restriktionen oft binnen weniger Minuten beheben.
Ein Beispiel für eine obstruktive Einschränkung der Lungenfunktion ist Asthma. Ganz vereinfacht ausgedrückt ist hier die Flussgeschwindigkeit durch Schwellungen der Atemwege eingeschränkt, wobei das Volumen oftmals normal ist.
Screening der Atmung – Keep it simple!
Um ein ungünstiges Atemmuster zu erkennen, reicht oftmals ein einfacher Screen der Atmung ohne technisches Equipment aus. Auf Grund der zentralen Funktion unserer Atmung setze ich ein Screening der Atmung auch im Rahmen meines „Return to Sport“ Algorithmus ein. Ein grundlegendes Assessment der Atmung ist durch eine einfache Beobachtung des Sportlers/Patienten und die Beantwortung einiger simpler Fragen möglich. Hält ein Sportler bei Übungen die Luft an?
Ist das der Fall, so toleriert der Sportler oder Patient die Übung – er beherrscht sie aber nicht! Ob im Training oder in der Therapie, der Trainierende sollte in der Lage sein, während einer Übung zu atmen! In vielen Fällen führt eine Veränderung der Ausgangsposition oder eine Regression der Übung dazu, dass der Sportler bei der Ausführung wieder regelmäßig ein- und ausatmet.
Bei Patienten kontrolliere ich regelmäßig, ob sie die bewusste Bauchatmung beherrschen. Meistens lege ich sie dazu entspannt auf den Rücken, bitte sie eine Hand auf ihren Bauchnabel und eine auf ihr Brustbein zu legen und möglichst entspannt zu atmen. Dann beobachte ich, wie sich ihre Hände bewegen. Zuerst sollte sich bei der Einatmung die Hand auf dem Bauchnabel heben, dann die Hand auf dem Brustbein. Bei der Ausatmung ist die Reihenfolge umgekehrt. Beherrscht ein Sportler seine Bauchatmung nicht unter diesen kontrollierten Bedingungen, so wird er sie unter Belastung mit hoher Wahrscheinlichkeit erst recht nicht anwenden. Diese Testposition ist auch eine der einfachsten Positionen für ein gezieltes Training der Atmung. Als Biofeedback dienen die eigenen Hände oder ein spezieller Atemgürtel. Ein guter Atemrhythmus für den Einstieg ist eine Ein- und Ausatmung über jeweils vier Sekunden. Wird diese beherrscht, so kann zwischen Ein- und Ausatmung eine zusätzliche Sekunde gewartet werden. Das entspricht dann sechs bis sieben Atemzügen pro Minute.
Alternativ kann die Atmung auch in Bauchlage ausgeführt werden. Im Yoga nennt man diese Übung Krokodilsatmung. Hierbei dient der Boden als Biofeedback. Zuerst drücke ich bei der Einatmung den Bauchnabel gegen den Boden, dann das Brustbein. Schritt für Schritt kann die Körperposition progressiv verändert werden. Je weniger Auflagefläche der Körper auf dem Boden hat, desto herausfordernder ist es. Beispiel: Vierfüßlerstand, beidbeiniger Kniestand, einbeiniger Kniestand, Ausfallschritt, aufrechter Stand, Einbeinstand.
Foto: Dr. Markus Klingenberg, Return to Sport, 2. Auflage, Pflaum-Verlag, JulianHukePhotography
Die funktionellen Zusammenhänge von Mobilität und Atmung spüren die Sportler auch bei komplexen Übungen wie dem Bretzel. Eine Verkürzung der vorderen Kette auf der einen Seite beeinflusst die Rotation des Brustkorbs zur Gegenseite. Die Kunst der Trainingsplangestaltung liegt in der richtigen Auswahl der Übung und des Übungslevels für einen Sportler oder Patienten. Beim Aufbau eines Trainingsplans bietet es sich an die bewusste Atmung am Anfang und am Ende zu integrieren. Inzwischen bieten auch viele Smart Watches eine Funktion zum Training der Atmung an.
Merke: Sport ist eines der effektivsten Medikamente, wenn man es richtig dosiert!
Brauche ich Trainingsgeräte für die Atmung?
Grundsätzlich nein. ABER – Trainingsgeräte haben oftmals einen Aufforderungscharakter. Sie sprechen unseren Spieltrieb an und können Leistung spürbar und messbar machen. Das Spektrum der Trainingsgeräte reicht von lowtech bis hightech. Die einfachste und günstigste Variante die Atmung zu trainieren ist es unter Belastung durch einen Strohhalm zu atmen. Lungenpatienten kennen den klassischen Triflow Trainer mit verschiedenen Kugeln die durch den Luftstrom der Ausatmung bewegt werden. Es gibt für Sportler und Patienten einfache und handliche Widerstandtrainer wie den Relaxator und Ultrabreathe oder technisch ausgereifte Varianten mit zahlreichen Einstellungen wie den POWERBreathe. Aus dem funktionellen Training wissen wir, dass ein gewisser Widerstand oftmals hilfreich beim Erlernen von Bewegungsmustern ist. Das gilt natürlich gleichermaßen für die Atmung. Ich setze Atemtrainer deshalb gerne als wertvolle Unterstützung ein. Die Voraussetzung ist die grundlegende Beherrschung der Atemtechniken. Wird diese zu Beginn nicht beherrscht, kann ich einen Atemgürtel empfehlen. Dieser kann gezielt zum Atemtraining aber auch zur generellen Wahrnehmungsverbesserung eingesetzt werden. Durch den sanften Druck beim Tragen im Alltag, erinnert der Atemgürtel Patienten wie Sportler daran, vermehrt in den Bauch zu atmen.
Foto: Ludwig Artzt GmbH Foto: Ludwig Artzt GmbH
Foto: Ludwig Artzt GmbH Foto: Ludwig Artzt GmbH
Bei welchen Krankheitsbildern teste ich die Atmung regelmäßig?
Die folgende Auflistung umfasst die häufigsten Indikationen in meiner sportorthopädischen Sprechstunde bei denen ich mir die Atmung meiner Patienten genauer anschaue. Der Screen der Atmung ist auch Teil meines Basis Screens im Rahmen einer Return to Sport Untersuchung nach Sportverletzungen oder längeren Sportpausen.
- Schulter-/Nackenschmerzen
- Rückenschmerzen
- Leistenbeschwerden
- Untersuchung auf Tauchtauglichkeit
- Leistungsdiagnostik
- Return to Sport Screen
Atmung beim Training – Wann atme ich am besten, und wie?
Das kommt ganz darauf an, was mein Ziel ist. Bei einer Extension der Wirbelsäule öffnen wir unseren Brustkorb und erleichtern damit die Einatmung. Eine Flexion der Wirbelsäule verstärkt die Ausatmung. Eine gutes Beispiel sind die beiden Übungen „Kuh und Katze“. Solche Kombinationen gebe ich meinen Sportlern und Patienten auch als Hausaufgaben mit. Geht es um eine Verbesserung der Mobilität beim Stretching, so verstärkt man die Dehnung in der Phase der Ausatmung.
Geht es um die Bewältigung hoher Belastungen beim Training, atmen wir in der Phase der Flexion ein und während der Extension aus. Beispiel: Kreuzheben, Kniebeuge, Bankdrücken.
Ein Training der bewussten Atmung – ob isoliert oder in Verbindung mit einer Übung – dauert nur wenige Minuten. Entscheidend ist die Regelmäßigkeit!
Katze Kuh
Zusammenfassung
Unsere Atmung beeinflusst unseren Bewegungsapparat, unsere sportliche Leistungsfähigkeit und unseren Stresslevel. Ein regelmäßiges bewusstes Training der Atmung kann jedem Sportler empfohlen werden. Ärzte, Therapeuten und Trainer können die Atmung ihrer Sportler mit einfachen Screening Methoden überprüfen und bei Bedarf korrigieren. Zusätzlich können Trainingsgeräte speziell für die Atmung eingesetzt werden.
Foto: Ludwig Artzt GmbH Foto: Ludwig Artzt GmbH
Autoren
ist Orthopäde und Sportmediziner. Er ist Partner einer interdisziplinären Gemeinschaftspraxis in Bonn und operativ als Belegarzt an der Beta Klinik Bonn tätig. Als kooperierender Arzt des Olympiastützpunktes Rheinland versorgt er Hobby- und Profisportler verschiedener Disziplinen. Seit 20 Jahren betreut Dr. Klingenberg Privatpersonen und Firmen als Personal Trainer. Regelmäßig bildet Dr. Klingenberg Trainer, Therapeuten und Ärzte sportmedizinisch weiter. Er ist Autor des Buchs “Return to Sport” und leitet die gleichnamige Ausbildung für das ARTZT Institut. Dieser Kurs ist seit April 2021 auch online verfügbar: https://www.artzt.eu/fortbildungen/weitere-fortbildungen/