Die Beliebtheit des freizeitmäßigen sowie sportlichen Radfahrens nimmt seit Jahren stetig zu und hat in der Corona-Ära einen zusätzlichen Schub erhalten. Das fördert auch mehr mit dem Radfahren assoziierte Verletzungen und Erkrankungen des Sitzbereichs zu Tage.
Akute perineale und genitale Beschwerden wie Scheuerwunden, Folliculitis, Furunkel, Schmerzen, perineal-genitale Par- und Dysästhesien (v.a. die regelhaft akzeptierten eingeschlafenen Genitalien) sind bekannte Beschwerdebilder aller Geschlechter. Daneben gibt es häufig Symptome, die subakut sind oder verzögert entstehen und daher von den Betroffenen weniger mit dem Radfahren in Zusammenhang gebracht werden. Dies sind Druckempfindungen im Damm, gehäufter Harndrang, Miktionsbeschwerden und Störungen der Erektion. Alle Beschwerden haben eine gemeinsame Ursache, nämlich die per Radsattel übermäßige Druck- und Scherbelastung des empfindlichen Dammbereichs.
Anatomie und Pathologien des genital-perinealen Bereichs
Der physiologische Sitzbereich (hinterer äußerer Beckenboden mit Sitzbeinhöcker) ist anatomisch relativ einfach und robust aufgebaut. Das mediale Perineum hingegen beinhaltet multiple vulnerable Strukturen (Tab. 1). Eine passagere oder langfristige Druck- und Scherbelastung der sensiblen Strukturen im medialen Damm beim sitzenden Fahrradfahren kann verschiedenste sowohl akute als auch chronische Symptome und Funktionsstörungen auslösen [2 – 5, 9 – 15, 18 – 21] (Tab. 2).
Diskussion
Eine Druck- und Scherbelastung des medialen Perineums beim Radfahren sollte unbedingt vermieden werden. Dies ist jedoch mit den meisten erhältlichen und auf den Rädern montierten Satteln nicht möglich, da diese formbedingt – zu schmal und konvex – dem medialen Damm von vorne bis hinten mit mehr oder weniger Druck anliegen (Abb. 1). Sattel mit Loch- bzw. Schlitzkonstruktionen zeigen keine signifikante Reduktion von gefährdender Belastung. Die Kanten der Aussparungen erzeugen nachweislich kritische Druckspitzen [1, 17]. Daher bietet es sich an, den Druck gezielt auf die beiden Areale um die Sitzbeinhöcker zu verteilen (Abb. 2). Die Gewebsstrukturen dort haben im Allgemeinen eine höhere Toleranz für Druckbelastungen, wie man sie vom normalen Sitzen kennt. Die optimale Druckverteilung auf die Sitzbeinhöcker kann nur gewährleistet werden, wenn der Sattel a) eine Breite hat, die zum Abstand der Sitzbeinhöcker passt und b) diese beiden Kontaktpunkte ausreichend höher liegen als der Rest des Sattels (Stufe zur Sattelnase) [16]. Die anatomische Varianz des Abstands der Sitzbeinhöcker zueinander liegt einer eigenen Untersuchung zufolge beim Mann zwischen 9 und 16 cm, (n = 275, Median 13,32 cm), bei der Frau zwischen 11 und 17 cm (n = 445, Median 12,05 cm) (Staudte 2017). Ermittelt wird dieser Wert durch einen Abdruck der Sitzbeinhöcker im Sitzen auf einer Wellpappe (Maß = Mitte – Mitte) (Abb. 3). Für die passende Sattelbreite werden je nach Einsatzgebiet (Rennrad vs. Citybike) dem gemessenen Abstand 2 bis 4 cm dazu addiert.
Weiche Sattel erzeugen durch vermehrtes Einsinken der Sitzbeinhöcker eine größere Sitzfläche und sind für kurze Fahrten (< 30 min.) subjektiv am bequemsten. Bei längeren und sportlichen Fahrten jedoch kommt es durch die eingeschränkte Bewegungsfreiheit der am Schambein und Sitzbein ansetzenden Muskeln häufig zu Beschwerden (Hüftstrecker/Adduktoren). Vorsicht ist bei der Wahl eines harten Sattels angebracht, der mit hohem Druck eine kleine Fläche an den Sitzbeinhöckern belastet. Dies kann zu einem schmerzhaften Überlastungssyndrom führen. Plane Sitzflächen sind günstiger als konvexe, da konvexe Formen mehr Druck auf den medialen Damm ausüben. Der Faktor Zeit ist nach dem Sattel am schwerwiegendsten. Jeder noch so bequeme, aber ungünstig drückende Sattel wird zum Gesundheitsrisiko, wenn er lange und wiederholt gefahren wird. Genauso kann der Sattel mit dem optimalen Druckbild bei ebenfalls langer, einseitiger Belastung Probleme verursachen. Zusätzliches Gewicht (z. B. Rucksack) steigert den Druck im Sitzbereich.
Schlussfolgerung und Empfehlungen zur Prävention
Zur Vermeidung wesentlicher Beschwerden im Damm durch das sitzende Radfahren ist eine definierte Druckbelastung der Areale um die Sitzbeinhöcker unter weitest gehender Aussparung des medialen Perineums die beste Lösung. Der individuellen Anatomie sollte mit der Messung des Sitzbeinhöckerabstands und einer dazu passenden Sattelbreite Rechnung getragen werden. Daneben ist es essentiell, dass der Sattel einen Höhenunterschied zwischen hinterer Sitzfläche und Sattelnase aufweist. Der Radfahrer hat die Freiheit bei der Wahl des Sattels, wenn er eines beachtet: bei Symptomen oder Beschwerden sollte immer etwas verändert werden und zwar frühzeitig.
Literatur
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Autoren
ist Facharzt für Urologie und Teilhaber im Medizinischen Versorgungszentrum im Medicenter am OEZ in München. Außerdem Forschung und Entwicklung von ergonomischem Radsportzubehör, insbesondere Fahrradsättel an der Urologischen Klinik im Klinikum Großhadern der LMU-München, ab 2002 in der gemeinsam mit Tobias Hild gegründeten Firma SQ-lab.