„Das am wenigsten registrierte, zu selten diagnostizierte und am meisten unterschätzte Schädelhirntrauma ist bei weitem die Gehirnerschütterung“ (Brain Trauma Foundation, www.braintrauma.org).
Schädelhirntraumata stellen in mehrfacher Hinsicht Sportvereine und die betreuenden Mediziner vor große medizinische, als auch rehabilitative Herausforderungen. Das akute Störungsbild sportassoziierter Schädelhirntraumata (saSHT) ist sehr komplex und umfasst eine Vielzahl von Symptomen [1].
Kognitive, emotionale und interaktionelle Folgen eines saSHT sind im Querschnittsbild bei einmaliger Untersuchung nicht immer leicht zu erkennen und erfordern unter Umständen Kontrolluntersuchungen und einen interdisziplinären diagnostischen Ansatz. Kurzzeitig kann sich das allgemeine Verletzungsrisiko erhöhen, aber auch noch Monate und Jahre nach leichtem (saSHT) können kognitive Störungen, vor allem des Gedächtnisses und Defizite der Aufmerksamkeitsfunktion, des Antriebs und der psychomotorischen Geschwindigkeit sowie von Exekutivfunktionen, resultieren. In den letzten Jahren finden sich immer wieder Hinweise auf Langzeitfolgen nach leichtem saSHT inklusive Gehirnerschütterungen beim Sport, die auch als chronische traumatische Enzephalopathie (CTE) bezeichnet werden. Hierbei könnte durch die Etablierung von sinnvollen Schutzmaßnahmen die Prävention positiv beeinflusst werden.
CTE
Per Definition ist die chronisch traumatische Enzephalopathie eine progressive neurodegenerative Erkrankung, die nach mehrfachen saSHT und subklinischen Hirntraumata auftreten kann. Das klinische Bild ist variabel, in der zerebralen Bildgebung findet sich eine abnorme Tau-Pathologie in den typischen Verletzungsregionen des Gehirns, die meist beim typischen Akzelerations-Dezelerations-Mechanismus bei Kontaktsportarten betroffen sein können. Beim Kopfanpralltrauma können bis zu 40 G auf das Gehirn einwirken. Die mittlere Expositionsdauer seit dem saSHT liegt zwischen 10 und 20 Jahren, die klinischen Symptome entwickeln sich ebenfalls in diesem Zeitfenster. Hinsichtlich der klinischen Zeichen finden sich Verhaltensmerkmale/ psychiatrische Merkmale bis hin zur Suizidalität, kognitive Veränderungen bis hin zu Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, Sprachstörungen und motorische Funktionseinschränkungen, wie Dysarthrie und Gangstörung, sowie ein Tremor. Des Weiteren existieren Hinweise darauf, dass auch das saSHT ein Risikofaktor für die Entstehung einer Alzheimerdemenz sein könnte bzw. die Zeit bis zum Auftreten einer Alzheimerdemenz verkürzt. Zudem finden sich Anhaltspunkte basierend auf Einzelfallberichten, dass sich im Fußball nach repetitivem Kopftrauma eine amyotrophe Lateralsklerose (ALS) entwickeln kann [2]. Vor zwei Jahren zeigte eine Kohortenstudie aus Schottland, dass bei Profifußballspielern die Morbidität und Mortalität durch neurogenerative Erkrankungen (Morbus Parkinson, M. Alzheimer und andere Demenzerkrankungen) sowie Motoneuronerkrankungen wie ALS signifikant um den Faktor 3,5 höher ist als in Vergleichsgruppen der Allgemeinbevölkerung. Erstmals wurden mögliche Assoziationen des Risikos für die Entwicklung neurodegenerativer Erkrankungen in Bezug auf die Spielfeldposition der Fußballer, die Länge der Berufskarriere und die Geburtsjahrgänge ermittelt. Am häufigsten, nämlich um den Faktor 5, waren Spieler auf Verteidigungspositionen betroffen (HR 4,98). Auch die Karrierelänge war entscheidend: so war das Risiko am höchsten bei einer Berufskarriere von mehr als 15 Jahren (HR 5,2; p<0,001). Die Autorinnen und Autoren sehen die Ergebnisse als Bestätigung der Hypothese, dass wiederholte, auch leichte Kopfverletzungen als Verteidiger und die Karrierelänge, als Maß für eine Kumulation, das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen signifikant erhöhen können [3]. Bei sich verdichtenden wissenschaftlichen Hinweisen auf kumulative Effekte ergeben sich klare Implikationen für eine Prävention bzw. das Erarbeiten von Kopfschutzstrategien. Die Prävention der chronischen traumatischen Enzephalopathie (CTE) nach wiederholten leichtgradigen Kopfverletzungen bei Sportarten wie Boxen, Fußball, American Football, Rugby, Handball oder Eishockey könnte durch die Etablierung von sinnvollen Schutzmaßnahmen durchaus positiv beeinflusst werden, diese haben sich in vielen Risikosportarten bereits bewährt [4].
Situation in Deutschland
In Deutschland wird die Zahl saSHT auf 44.000 pro Jahr geschätzt, die Dunkelziffer liegt sehr wahrscheinlich deutlich höher. In einer systematischen Analyse der VBG im Sportreport wurden im Spitzensport in der Saison 2015/2016 knapp 130 saSHT bei Schwerpunktsportarten wie Basketball, Eishockey, Fußball und Handball diagnostiziert und gemeldet. Die Prävalenz lag sportartübergreifend bei 3,6 %, die kumulative Saisoninzidenz bei 0,04 saSHT je eingesetzten Sportler. Hinsichtlich der betrachteten Sportarten konnten allerdings signifikante Unterschiede festgestellt werden. Im Fußball wurden 0,6 Verletzungen im Bereich des Kopfes pro 1.000 Stunden registriert. Videoanalysen von saSHT ergaben, dass knapp 85 % der Fälle durch direkten Kontakt gegen den Kopf verursacht wurden, weitere 15 % durch indirekten Kontakt, typischerweise durch Stürze auf den Kopf nach einem vorausgegangenen Körperkontakt mit einem Gegenspieler. Der Anteil an gegnerischem Foulspiel bei saSHT beträgt ca. 12,5 %. Bei Betrachtung der sportartspezifischen Aktion zum Zeitpunkt der Verletzung fällt ein enormer Anstieg der Verletzungen, resultierend aus Kopfballsituationen, im Vergleich zu den Vorjahren auf (+8,8 %) [5]. Dabei verletzen sich Verteidiger am häufigsten bei Kopfbällen. Kopfverletzungen im Fußball finden sich bei 6,6 % [5]. Ursache sind die Kollision mit dem Gegenspieler (Kopf-Kopf-Kollision) sowie Schlag durch den Gegenspieler mit den oberen Extremitäten, vor allem Ellbogen, weiterhin direkte Kopfbälle. Kopf und Fußverletzungen ereignen sich überwiegend durch direkten Kontakt. Beim Handball findet sich bezüglich der Verteilung der Verletzungen für den Kopfbereich eine Inzidenz von 7 %. Bei Kreisläufern wurden dabei auffällig mehr Kopfverletzungen registriert als in der Gesamtgruppe. Kopfverletzungen sind fast ausschließlich in Kontaktsituationen zu beobachten, in 41,5 % ist ein Foulspiel die Ursache, typischerweise ein Schlag mit Arm, Unterarm oder Ellbogen. Der höchste Anteil an saSHT fand sich erwartungsgemäß im Eishockey.
Vor diesem Hintergrund hat die VBG zusammen mit Neurologen, Neuropsychologen, Durchgangs- und Mannschaftsärzten sowie Sportwissenschaftlern ein Algorithmus zum Umgang mit SHT im Sport entwickelt [6]. Um beim Eintritt eines saSHT einen Vergleichsmaßstab zur Verfügung zu haben, wird die Durchführung eines neurologischen / neuropsychologischen Basistestes vor der Saison gefordert. Die Diagnostik und Behandlung nach saSHT erfolgt unter Leitung des Mannschaftsarztes interdisziplinär durch die enge Einbindung neurologischer und neuropsychologischer Kompetenzen (Abb. 1).
Nutzen der Basisuntersuchungen Nervensystem (Tabelle)
Durch eine Basisuntersuchung erfolgt einerseits die Prävention mit Bewusstseinsbildung bei Sportlern, Trainern und Mannschaftsärzten, gegebenenfalls aber auch die Identifikation einer Vorbelastung durch Erfassung kognitiver Parameter in der Leistungsdiagnostik. Durch individuelle Vergleichswerte können nach einem Trauma Einschränkungen optimal individuell beurteilt werden, die Versorgung nach einem saSHT ist erleichtert bzw. die weitere Behandlung individuell gestaltbar. Die Vergleichswerte liefern Entscheidungsparameter, ob ein Sportler wieder im Training oder Wettkampf einsatzfähig ist. Des Weiteren können aufgrund der Baseline-Untersuchung aber auch spezielle Empfehlungen für das Training resultieren („neurozentrierte Trainingsmethodik“).
Die Akutdiagnostik nach saSHT am Spielfeldrand orientiert sich an der Unfallmechanik und an bestimmten Symptomen oder Symptomkonstellationen („red flags“) [7] und wird durch das medizinische Personal vor Ort sichergestellt [8]. Probleme ergeben sich insbesondere, wenn wie im Fußball in wenigen Minuten die Entscheidung über eine weitere Teilnahme des Spielers am Spiel entschieden werden soll. Offensichtliche Symptome wie Bewusstlosigkeit oder Erbrechen treten in den wenigsten Fällen auf, was die Erkennung von saSHT erschwert. Auch der Spieler selbst nimmt akute Funktionsbeeinträchtigungen häufig nicht wahr. Trotzdem kann es bereits bei leichteren Kollisionen, insbesondere solcher mit rotatorischer Komponente des Kopfes zu diffusen axonalen Verletzungen des Gehirns kommen. Neben einem möglichen Ödem sind kognitive und motorische Defizite möglich, infolgedessen aber selten auch ein „second impact“ Trauma. Daher muss im Zweifel der Sportler aus dem Spiel genommen werden.
Die initiale Behandlung umfasst zunächst körperliche Ruhe („rest as needed and as tolerated“), danach eine angepasste physische und mentale Aktivierung, im Späteren nach ca. fünf bis sechs Tagen bei Beschwerdefreiheit Aufnahme des regulären Trainings- bzw. Spielbetriebes.
Abb. 2 Return to Play (RTP)
In der Postakutphase wird die Diagnostik fachspezifisch erweitert, mit dem Ziel der Feststellung des Schadensausmaßes und des Schweregrades. Zum Einsatz kommen dafür neurologische, neurophysiologische, neuropsychologische, bildgebende und labordiagnostische Methoden und Verfahren. Diese umfassende multimodale Stufendiagnostik stellt die wesentliche Voraussetzung für einen individuellen Behandlungsplan dar. Bei anhaltenden Beschwerden und nach umfassender Diagnostik ist eine Aufklärung, Psychoedukation, spezifische Behandlung der Beschwerden und Symptome z. B. Lagerungs- oder Gleichgewichtstraining, kognitives Training, Psychotherapie, gegebenenfalls auch Sehtraining sowie eine medikamentöse Therapie indiziert. Erst danach sollte eine Rückkehr zum Spielbetrieb bzw. zum Wettkampfbetrieb erfolgen. Für anhaltende Beschwerden existieren folgende Risikofaktoren: Initiale Ausprägung und Schwere der Symptome und Befunde, subakute migräneartige Kopfschmerzen oder depressive Symptome, vorhergehende SHT, vorhergehende Lernschwierigkeiten oder Migräne in der Anamnese sowie psychische Störungen in der Anamnese, weiterhin eine positive Familienanamnese und das weibliche Geschlecht. Diese Risikofaktoren müssen individuell gewürdigt werden.
Fazit
Einige Maßnahmen zur Prävention konnten im Profisport bereits eingeführt und etabliert werden. Die Umsetzung dieser Maßnahmen, Sensibilisierung für die Thematik und Schulung der Sportler und der Akteure in den Vereinen ist jedoch noch weniger weit vorangeschritten. Prävention, Diagnostik und spezifische individualisierte Therapie und Rehabilitation von saSHT sollten einen höheren Stellenwert als bisher einnehmen. Die regelhafte Einbindung eines neurologischen und neuropsychologischen Sachverstandes kann in einem modernen sportmedizinischen Konzept die Qualität der medizinischen Versorgung deutlich verbessern. Insbesondere bei der Bewertung eines Schweregrades, verbunden mit der Quantifizierung der neuronalen Läsionslast, gibt es noch erheblichen Forschungsbedarf. Auch die Definition eines leichten saSHT ist sehr unscharf. Fortschritte bildgebender Verfahren, Biomarker aus dem Serum oder Speichel sowie spezielle neurophysiologische Untersuchungen bieten hier vielversprechende Ansätze, können aber für einen Routineeinsatz in der Praxis noch nicht empfohlen werden [9].
Literatur
1. Reinsberger C, Sportassoziierte Schädelhirntraumata. InFo Neurologie + Psychiatrie 2022; 24 (2)
2. Gänsslen A. et al. Chronisch Traumatische Enzephalopathie: Wie Sportverletzungen das Gehirn schädigen können. Dtsch Arztebl 2016; 113(37): [13]
3. Russell ER et al. Association of Field Position and Career Length With Risk of Neurodegenerative Disease in Male Former Professional Soccer Players. JAMA Neurol 2021; 78 (9): 1057-1063
4. McCrea MA et al. Opportunities for Prevention of Concussion and Repetitive Head Impact Exposure in College Football Players: A Concussion Assessment, Research, and Education (CARE) Consortium Study. JAMA Neurol 2021 Mar 1; 78(3): 346-350
5. VBG-Sportreport 2017
6. VBG-Sportreport 2018
7. Feddermann-Demont N. et al Recommendations for initial examination, differential diagnosis, and management of concussion and other head injuries in high-level football. Scand J Med Sci Sports. 2020; 00:1-13
8. Sport Concussion Assessment Tool 6 (SCAT6) British Journal of Sports Medicine 2023; 57:622-631
9. Patricios JS, et al. Consensus statement on concussion in sport: the 6th International Conference on Concussion in Sport-Amsterdam, October 2022. Br J Sports Med 2023; 57:695-711
Autoren
ist Facharzt für Neurologie. Er ist Leiter des Neurozentrums BG Klinikum Hamburg sowie Chefarzt der Abteilung Neurotraumatologie und Sportneurologie. Außerdem neuromedizinische Betreuung von Spitzensportlern und Vereinen im Rahmen des Concussion Center Hamburg.
ist Direktor der Kliniken für Neurologie, Stroke Unit und Frührehabilitation am BG Klinikum Bergmannstrost in Halle/S. Er ist Facharzt für Neurologie, Pharmakologie und Toxikologie u.a. mit den Spezialgebieten Neurotraumatologie und Neurotoxikologie. Außerdem ist er seit 2018 als Beratungsarzt der VBG tätig. Darüber hinaus ist der aktive Judoka (1. Dan) seit 2012 Mannschaftsarzt des Judoclubs Leipzig (1. Bundesliga).