UEFA-Teams berichten für Muskelverletzungen eine Inzidenzrate von 31 %, die mit einer verletzungsbedingten Ausfallrate von 27 % einhergehen. Am häufigsten sind Verletzungen der Hamstring-Muskulatur (37 %), gefolgt von Verletzungen der Adduktoren, des Quadriceps und
der Wadenmuskulatur (23 %, 19 % bzw. 13 %) [1]. Die durchschnittliche Ausfallzeit aufgrund von Muskelverletzungen beträgt 8 – 28 Tage und die Rezidivrate 16 % [2].
Heilung: Viele Faktoren, ein Ziel!
Um Muskelverletzungen sinnvoll kategorisieren zu können, eignen sich laut den Autoren die Parameter Schweregrad, Lokalisation, betroffenes Gewebe und die Frage, ob es sich um das erste oder ein wiederholtes Trauma an dieser Stelle handelt [3]. So ist etwa die Heilungsprognose für distale Waden- sowie proximale Hamstring- und Quadrizepsläsionen ungünstiger als für andere Lokalisationen, was sich in längeren Genesungszeiten und komplexerer Individualisierung der Therapie niederschlägt. Um hier initial zu einer Diagnose zu kommen und den Heilungsverlauf realistisch verfolgen zu können, sollten klinische und funktionale Untersuchungen Hand in Hand mit bildgebenden Verfahren gehen. Das gewählte Behandlungsregime muss diese Faktoren möglichst optimal mit dem sportlichen Leistungslevel, der individuellen Schmerztoleranz und der Compliance des betroffenen Athleten in Einklang bringen.
4-Phasen-Rehabilitationsprotokoll bei Muskelverletzung
Die vier Phasen des Protokolls ergeben sich aus dem biologisch determinierten Reparaturprozess von verletztem Muskelgewebe. Entsprechend der jeweiligen Heilungstendenzen sollte mit passenden Maßnahmen interveniert werden, um das in der aktuellen Phase vorhandene Potenzial optimal auszuschöpfen – ohne dabei Schaden durch frühzeitige Überlastung anzurichten.
Fallbeispiel
Anhand eines Profifußballers der deutschen Bundesliga mit diagnostizierter Hamstring-Verletzung wollen wir den Rahmen einer vierwöchigen Rehabilitationsmaßnahme unseres Konzepts näherbringen. Im Allgemeinen werden sportartspezifische Programme individuell angepasst, eine spezifische Übungsreihe im Rahmen unseres Return-to-Competition (RTP)-Programms ist jedoch standardisiert. Isokinetik Test und MRT- sowie Ultraschall Kontrollen fließen in die Beurteilungen des RTC-Algorithmus ein.
Sofortmaßnahmen (0 – 72 h nach der Muskelverletzung)
- In den ersten 8 h oder nach 36 – 48 h: Bildgebendes Verfahren zur Beurteilung des Ausmaßes der Verletzung (weil Einblutungen nach ca. 24 h auf dem Höhepunkt sind und nach 48 h abnehmen) zur exakten Diagnose
- Nach 24 – 72 h: Anwendung der PRICE-Regel (Kompression, ergänzt durch wiederholte 15-minütige Eis-Applikation an der hochgelagerten Extremität), um Hämatombildung und myofibrilläre Nekrosen zu limitieren
- Möglichst kurzzeitige Immobilisierung (3 – 5 Tage), z. B. mittels Taping, um die Bildung von gesundem Bindegewebe zu ermöglichen
- Für 72 h: Vermeidung jeglicher gewebeerwärmender physiotherapeutischer Interventionen
- Spätestens nach 24 h: Manuelle Lymphdrainage; anschließend elastische Bandagierung
- Injektion mittels Traumeel nach Bildgebung am 3. – 5. und 10. Tag (möglicherweise ein additiver positiver Effekt auf die verletzte Muskulatur [4] [5]). Leider gibt es zur zeitlichen Abfolge kaum Evidenz. Behelfsweise kann bzw. muss die Orientierung in der Praxis daher am Lokalbefund des Gewebes (Schwellung, Muskeltonus, Druckschmerzhaftigkeit), dem subjektiven Empfinden des Athleten sowie der eigenen Erfahrung oder dem Erfahrungsaustausch mit Kollegen erfolgen, um den richtigen Zeitpunkt für die Injektionen und Zeitabstände zu definieren. Alternativ können insbesondere bei Verletzungen im myotendinösen Übergang bzw. Sehnenverletzungen Injektionen mit Eigenblutpräparaten erfolgen. Perinervale Injektionen eigenen sich zur gezielten Relaxierung der Muskulatur und geben gleichzeitig Ausschluss über wesentliche Teilursachen der Muskelverletzung.
Return to Activity (Reparationsphase)
Ab Tag 2 nach der Muskelverletzung entfernen Makrophagen nekrotisierte Muskelfasern, während Fibroblasten das Bindegewebe am Ort des Traumas vorläufig vernarben lassen. Dieses noch junge Gewebe ist extrem anfällig für Wiederverletzung oder eine Verschlimmerung der Läsion, deshalb ist Training nur unter aufmerksamer Beobachtung angesagt. Gewünschte funktionelle Outcomes: Behandlung prädisponierender Faktoren und antagonistischer Muskeln, Schmerzfreiheit bei Alltagstätigkeiten, Kräftigung des verletzten Muskels, Wiederherstellung von mindestens 50 % der maximalen Belastung und 90 % der ursprünglichen muskulären Dehnungsfähigkeit.
Die Rehabilitationsmaßnahme begann mit einer vorbereitenden osteopathischen und physiotherapeutischen Behandlung, die eine manuelle Hüft- und Kniebehandlung, passive und aktive Dehnung der Adduktoren, des Gluteus major, der äußeren Hüftrotatoren und der hinteren Muskelkette umfasste. Zudem standen viszerale Techniken des Rektums sowie Dickdarm auf dem Programm. Die zugehörigen Segmente in der Lendenwirbelsäule wurden ebenso behandelt. Im Rahmen der aktiven Rehabilitation führte der Spieler u. a. möglichst isolierte isometrische Kontraktionen des betroffenen Muskels durch – ausnahmslos unter Schmerzfreiheit. Ebenso erfolgte neben Mobilisation der Nachbargelenke eine kontrollierte Dehnung der betroffenen Muskelgruppen im schmerzfreien Bereich. Neuroathletisches Training half dem Spieler, alltägliche Bewegungsmuster nahezu gänzlich schmerzfrei ausführen zu können. Außerdem wurde eine Aktivierung der umliegenden Muskulatur (Fokus Antagonisten) und ein aerobes Ausdauertraining exklusive der betroffenen Muskulatur durchgeführt. Passive Maßnahmen können und sollten zu diesem Zeitpunkt wieder gewebeerwärmend erfolgen, um neben der Schmerzlinderung eine Gewebeheilung anzuregen. Um diese fokussiert auf Zellebene zu erreichen, fand während der gesamten Rehabilitation täglich eine Behandlung mit Mikrostrom statt.
Return to Sports (Regenerationsphase)
In dieser Phase wird das neu gebildete muskuläre Narbengewebe dichter, das Granulationsgewebe kompakter und elastischer. Myofasern füllen die verletzungsbedingte Lücke. Jetzt fördern gezielt gesetzte mechanische Reize unter professioneller Anleitung die finale Gewebereparatur. Gewünschte funktionelle Outcomes: Schmerzfreiheit und volles Körperbewusstsein bei komplexen Bewegungsabläufen, vollständige Dehnbarkeit des betroffenen Muskels, Wiedererlangung der sportbezogenen aeroben Parameter, Körpergewicht wie vor der Muskelverletzung.
Unter Voraussetzung einer schmerzfreien, submaximalen, isolierten Kontraktion des verletzten Muskels wurde die konzentrische Aktivität angestrebt. Vergleichswerte der isometrischen Kraft wurden in einem Screening zu Beginn der Vorbereitung erhoben. Hier bietet sich für alle Spieler eine Testung der disponierten Muskelgruppen an. Die exzentrische Kontraktion wurde noch bewusst vermieden. Mit Erreichen einer schmerzfreien Konzentrik ergeben sich weitere Möglichkeiten der Übungsausführung und Ansprache der Antagonisten. Nicht selten bringt gezielte Aktivierung eben dieser eine positive Beeinflussung des Tonus bzw. Schmerzzustandes des verletzen Muskels mit sich. Das aerobe Ausdauertraining wurde unter nun vorsichtiger Einbeziehung der betroffenen Muskulatur fortgesetzt.
Fokus auf exzentrische Belastung Return to Play (Remodellierungsphase)
Die letzte Genesungsphase ist dem Umbau des Reparatur-/Narbengewebes in gesundes, voll funktionales Muskelgewebe gewidmet. Unterstützt von professionell angeleiteten sportartspezifischen Kraft- und Dehnungsübungen kann dies, je nach Verletzungsschwere, bis zu 60 Tage dauern. Gewünschte funktionelle Outcomes: Vollständige Wiederherstellung von Kraft, Dehnbarkeit und Arbeitswiderstand des verletzten Muskels, Wiedererlangung aller sportartspezifischen Fähigkeiten und dafür benötigten athletischen Parameter.
Unter Voraussetzung der schmerzfreien, isolierten, isometrischen und konzentrischen Kontraktion begann die Einführung der Exzentrik. Diese ermöglichte die Simulation sportartspezifischer Bewegungsabläufe und ein Wiederholen des Verletzungsmusters in kontrolliertem Setting. Im Ausdauertraining konnte gezielt die betroffene Muskelgruppe in allen Aktivitätsphasen einbezogen werden. Die Mobilität der unteren Extremität entsprach zunehmend mindestens dem Niveau vor der Verletzung und eine endgradige Dehnung der Strukturen rief keine Beschwerden mehr hervor. Vor dem wichtigen Schritt zu sportartspezifischem Einzeltraining mit Ball durchlief der Spieler die Kriterien einer Testbatterie. Diese beinhalten u. a. hoch dynamische Bewegungsabläufe, welche filmisch dokumentiert wurden, um Ausweichmechanismen sowohl für den Therapeuten als auch für den Spieler offensichtlich darzustellen. Eine objektive Auswertung der allgemeinen Ermüdungswiderstandsfähigkeit erfolgte mit Tracking der vitalen Werte während der Ausdauerbelastungen. Durch die Analyse und den Vergleich mit Ausdauerleistungen vor der Verletzung konnte der Trainingsumfang gut gesteuert werden. Ein weiterer wichtiger Faktor der Objektivierung ist der isokinetische Krafttest. Hier konnte im Vergleich der Werte der gesunden Seite und vorausgegangener Isokinetiktests der Stand der Rehabilitation abgelesen werden. Bei guten Ergebnissen ergibt sich bei geeigneter grafischer Darstellung die Möglichkeit, dem Spieler entsprechendes Vertrauen in das wiederhergestellte Gewebe zu vermitteln (Abb. 1).
Ähnliches gilt für EMG-Aufzeichnungen unter Laufbelastung oder Richtungswechseln. Die hier erhaltenen Daten vermittelten ein Problem der intermuskulären Koordination (Abb. 2). Ein durch Feedback gesteuertes Training konnte die physiologischen Abläufe verbessern. Ein weiterer Faktor der risikoverminderten Wiedereingliederung ist die Kontrolle von Muskelkraft und Bewegungsabläufen nach Ausdauerbelastung. In diesem Fall wurden isometrische Krafttests und Videoaufnahmen komplexer dynamischer Abläufe nach Laufbelastungen durchgeführt.
Das sportartspezifische Einzeltraining folgte einer Steigerung der dynamischen Anforderungen. Wichtig waren erneut die Vermittlung von Vertrauen und Wiedergabe objektiver Werte unter für den Spieler weniger kontrollierbaren Bedingungen. Das Training beinhaltete in Einzelbetreuung bzw. in der Kleingruppe simulierbare positionsspezifische Anforderungen. Das fortgeführte Testprotokoll versuchte, sämtliche hochdynamischen Bewegungsabläufe mit und ohne Ball abzudecken, um somit die Gefahr eines Rezidivs zu vermindern. Dieses Risiko der hochgradigen Belastung der betroffenen Muskelgruppe unter allgemeiner Ermüdung sollte zu Beginn vermieden werden. Zu diesem Zeitpunkt und weiterlaufend während der Reintegration in das Mannschaftstraining besteht hier ein erheblicher Faktor eines Rückfalls.
Return to Competition
Hat der Sportler die besprochenen Anforderungen des Protokolls bestanden und eine Woche lang mindestens vier Trainingseinheiten unter entsprechender Überwachung problemlos absolviert, kann er sicher ins Spiel zurückkehren. Zusätzliches Monitoring von Performancedaten wie Herzfrequenz (die Differenz gegenüber der Zeit vor der Verletzung sollte nicht mehr als 10 %) und VO2max (mindestens 90 % des ursprünglichen Leistungsniveaus) ist sinnvoll.
Diskussion
Bei Muskelverletzung nicht zu viel Gewicht aufs MRT legen
Wir möchten hinweisen, dass Kernspin-Bilder einen angemessenen Zeitpunkt für den Return-to-Play verzögern könnten. Der Grund: Auch Wochen nach Heilung und vollständiger funktioneller Erholung weisen Signalveränderungen im MRT eventuell noch auf strukturelle Schäden hin. Für eine sichere Rückkehr in Training und Wettkampf empfiehlt sich unser Konsenspapier daher die Einbeziehung folgender Schlüsselfaktoren:
■ Klinische Symptomfreiheit
■ Schmerzfreiheit bei Muskelpalpation sowie bei passiver und aktiver Dehnung
■ Schmerzfreiheit unter isometrischer, konzentrischer und exzentrischer Belastung
■ Isokinetiktest
■ Abschluss des verordneten Rehabilitationsprogramms
■ Subjektives Empfinden des Athleten
Literatur
[1] Ekstrand J, Waldén M, Hägglund M. Hamstring injuries have increased by 4% annually in men’s professional football, since 2001: a 13-year longitudinal analysis of the UEFA Elite Club injury study. Br J Sports Med. 2016 Jun;50(12):731–7.
[2] UEFA Elite season report 16-17.pdf.
[3] Palermi S, Massa B, Vecchiato M, Mazza F, De Blasiis P, Romano AM, Di Salvatore MG, Della Valle E, Tarantino D, Ruosi C, Sirico F. Indirect Structural Muscle Injuries of Lower Limb: Rehabilitation and Therapeutic Exercise. J Funct Morphol Kinesiol. 2021; 6: 75.
[4] Belikan P, Nauth L, Färber LC, et al. Intramuscular Injection of Combined Calf Blood Compound (CFC) and Homeopathic Drug Tr14 Accelerates Muscle Regeneration In Vivo. Int J Mol Sci. 2020; 21: 2112.
[5] Langendorf EK, Klein A, Rommens PM, Drees P, Ritz U, Mattyasovszky SG. Calf Blood Compound (CFC) and Homeopathic Drug Induce Differentiation of Primary Human Skeletal Muscle Cells. Int J Sports Med. 2019; 40: 803-809
Autoren
ist Osteopath, Do., Physiotherapeut, Bsc und Heilpraktiker Physiotherapie. Er ist Leiter der medizinischen Abteilung Physiotherapie und Rehabilitation des VfL Bochum 1848. Seine bisherigen Stationen waren Borussia Dortmund Akademie, FC St. Pauli sowie Eintracht Frankfurt.
ist Rehabilitationstrainer + Physiotherapeut Rehabilitation beim VfL Bochum 1848.
ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie mit Zusatzbezeichnungen Sportmedizin, Manuelle Medizin und Chirotherapie. Er ist Oberarzt an der Abteilung für Sportmedizin, Klinikum Westfalen und Mannschaftsarzt des VfL Bochum 1848.