Der Functional Movement Screen (FMS) hat in Freizeit- und Leistungssport weite Verbreitung gefunden, da er einfach durchzuführen ist, sowie offensichtliche Muskelfunktionsdefizite erfahrbar macht. Jedoch ist der breite Einsatz eines Werkzeugs kein ausreichendes Kriterium für dessen Qualität. Bei einem diagnostischen Werkzeug müssen hierfür noch andere Kriterien wie Reproduzierbarkeit, Gültigkeit und Nützlichkeit der erhobenen Information betrachtet werden.
Der FMS erfasst die Muskelfunktion von Muskelketten bei einfachen Bewegungsaufgaben mit dem Ziel, mögliche Mobilitäts- oder Stabilitätseinschränkungen zu identifizieren. Die Muskelfunktion im Kontext von Muskelketten zu bewerten ist keineswegs neu. Der Anatom Baeyer philosophierte bereits in den 1920ern über Muskelketten, berichtet Prof. Kurt Tittel.Tittel selbst entwickelte das innovative Muskelschlingenmodell zur Analyse von sportlichen Bewegungen in den 1950er Jahren [1]. Scheinbar fand sein Muskelschlingenmodell keine breite Anwendung, nach Kenntnissen des Autors berichten erst in den 1970er Jahren amerikanische Autoren von Muskelschlingen („Serapen“). Mit Bezug auf den FMS bedeutet es, dass das Originelle in der systematischen Erfassung von Muskelketten durch ein praktikables Messprotokoll liegt. Das FMS-Protokoll hat diesen Ansatz für die breite Masse greifbar und anwendbar gemacht. Allerdings gehören Vereinfachungen zu den herausforderndsten intellektuellen Aufgaben, sodass sie per se Schwierigkeiten mit sich bringen.
Konkret verbirgt sich hinter dem FMS die Annahme, dass eine adäquate Bewegungsausführung (Bewegungsqualität) und Mobilität zur Verletzungsminimierung beitragen kann. Dies lässt sich aus den Bewertungskriterien wie Bewegungssymmetrie sowie Haltungs- oder Gelenkstabilität ableiten. Zudem versucht man mit dem FMS-Protokoll bewegungsassoziierte Schmerzen zu identifizieren. Dieser methodische Ansatz lässt sich durch die empirische Erkenntnis belegen, dass Schmerzen die Muskelaktivität beeinflussen können und somit Dysfunktionen entstehen können [2, 3]. Zunächst deuteten erste Pilotstudien z. B. von Kiesel et al. daraufhin, dass sich der Gesamtscore des FMS möglicherweise zur Bestimmung des Verletzungsrisikos eignet [4]. Jedoch bestätigten Studien mit größeren Stichproben diese Annahme nicht. Doch wie lässt sich dieses Ergebnis erklären?
Der FMS und seine Rolle innerhalb der Verletzungsprävention
Vergegenwärtigt man sich das Thema Verletzungsprävention im Kontext des Leistungstrainings, so wird deutlich, dass man sich im Hochleistungssport häufig an der Grenze des Möglichen bewegt. Hierbei stellt nur die Verletzungsprävention nur ein Aspekt innerhalb der Trainingsstrategie dar [5]. Außerdem deuten Analysen daraufhin, dass neben möglicher motorischer Einschränkungen oder muskuloskeletale Schmerzen, Wettkampfdichte und der damit verbundene Einfluss auf die Regeneration und Fitness, die Wettkampftaktik sowie die individuelle Risikobereitschaft das Verletzungsrisiko beeinflussen können. Anhand dieser Faktoren wird ersichtlich, dass die Verletzungsprävention eine vielschichtige Aufgabe darstellt und der FMS nicht zur Bestimmung des generellen Verletzungsrisikos verwendet werden sollte, sondern für den Aspekt der motorischen Einschränkungen. Selbst innerhalb dieses Aspekts lassen sich noch feine Unterschiede herausarbeiten, welche sie im weiteren Verlauf des Beitrags feststellen können.
Die Aufgabengültigkeit im Kontext der Verletzungsprävention
Neben der Bewertung rückt die Aufgabenvalidität in den Brennpunkt, wenn es um die diagnostische Leistungsfähigkeit eines Items geht. Die Gültigkeit eines Items ergibt sich aus Gültigkeit und Zuverlässigkeit der Aufgabe und der Bewertung. Hinsichtlich der Aufgabengültigkeit im Kontext der Verletzungsprävention müssen wir die Frage beantworten, ob Charakteristika der Verletzungssituation wie z. B. Bewegungsschnelligkeit [6, 7], Kraftstöße [8], Ermüdung [9] oder Fokuswechsel [10] simuliert werden. Im ursprünglichen FMS- Protokoll sind allerdings keine ermüdenden Situationen, Kraftstöße wie Sprünge, Variationen in der Bewegungsschnelligkeit oder Wechsel zwischen internen oder externen Aufmerksamkeitsfokus zu finden.
Eine Untersuchung von Kraus, Schütz und Doyscher brachte hervor, dass kein direkter Zusammenhang zwischen der Landequalität (LESS) und der Bewertung einzelner FMS-Items besteht. Dies spricht für die Integration von Sprung- bzw. Landeaufgaben in eine präventionsorientierte Testbatterie. Allerdings zeigte sich ein indirekter Zusammenhang zwischen der mit dem FMS erfassten Rumpfstabilität, der Landequalität sowie der Mobilität der dorsalen Muskelkette der unteren Extremität bei Männern [11]. Bei den Frauen hingegen zeigte sich ein negativer Zusammenhang (hohe FMS Scores korrelieren mit niedrigen Landequalität) zwischen der Mobilität der dorsalen Muskelkette und der Landequalität, was auf ein exzentrisches Kraftdefizit hinweist [12]. Das exzentrische Kraftdefizit und die muskuläre Spannungsfähigkeit haben sich in Pilotstudien als nützlicher Parameter für die mechanische Leistung und Schmerzreduktion [13] sowie Mobilitätsveränderungen erwiesen (unveröffentlichte Beobachtungen). Muskelaktivitätsanalysen lieferten die Erkenntnis, dass sich die Muskelaktivität des Quadrizeps beim Deep Squat verglichen mit einer schnell ausgeführten Kniebeuge bei einer Zusatzlast von 100 % des individuellen Körpergewichts um das drei- bis vierfache unterscheidet. Dies deutet auf unterschiedliche Rekrutierungsmuster hin, so dass davon auszugehen ist, dass beim FMS vornehmlich die Funktion der langsamen motorischen Einheiten evaluiert wird. Außerdem identifizierte der Autor eine starke Korrelation zwischen der dynamischen Muskelaktivitätsbalance des Quadriceps und der Hamstrings bei dem Item Deep Squat und der isometrischen Muskelaktivitätsbalance bei dem Item Trunk Stability Push Up. Dies deutet auf den Zusammenhang zwischen der motorischen Halte- und Zielfunktion auf Ebene der kleinen motorischen Einheiten hin [14].
Das FMS-Protokoll erfasst strukturelle und motorische Asymmetrien, da diese sich als Risikofaktor für ein erhöhtes Verletzungsrisiko und reduzierte Leistungsfähigkeit erwiesen haben. In einer Untersuchung (Cross-Over-Design) mit 50 Probanden zeigte sich eine Leistungsasymmetrie von 10 % in der Ausfallschrittkniebeuge bei 30 % Zusatzlast vom Körpergewicht bei den Probanden mit einer asymmetrischen Dysfunktion (Score 1). Jedoch konnten dieses Muster auf Score 2/3 nicht. Dies erklären die Autoren mit einer zu geringen Empfindlichkeit des Scores [15]. Hierzu könnten spezifischere Messkriterien oder Muskelaktivitätsanalysen tiefere Einsichten vermitteln. Außerdem zeigt sich, dass sich mit zunehmender Belastung die Funktion der Synergisten erhöht [16]. Hieraus leitet sich die Integration spezieller Screening-Aufgaben für die mediale und laterale Muskelkette ab.
Mängel in Studiengestaltung und Messmethodik
Die methodische Begutachtung der Pilotstudien von Kiesel et al. zeigt, dass methodische Mängel wie die unpräzise Definition von Verletzungen, fehlende Kontrollgruppen sowie Vergleichsinstrumente wohl zu falschen Annahmen führten. Auf messmethodischer Ebene widerspricht die Summierung von ordinalen Resultaten zu einem Gesamtscore (metrisches Niveau) dem methodischen Handwerk, was sich in einer Item-Analyse (N=445) bestätigte. Hierbei stellte sich heraus, dass die Probanden vermehrt in den mobilitätsbezogenen Aufgaben (Active Straight Leg Raise und Shoulder Mobility) bessere Bewertungen erzielten als in den Bewegungsaufgaben [17]. Dieses Ergebnis bestätigte auch eine Untersuchung zur subjektiv empfundenen Aufgabenschwierigkeit. Anzumerken ist zudem, dass die Reproduzierbarkeit von FMS-Scores durch Lerneffekte von Probanden und Bewerten beeinflusst werden kann. Studien um den kanadischen Forscher Frost arbeiteten einen signifikanten Lerneffekt der Probanden auf Ebene des Gesamtscores heraus. Ebenso zeigt sich ein Einfluss von Erfahrung und Kompetenz des Bewerters auf die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse. Außerdem zeigen sich Probleme bei der Reliabilität der Rand-Scores 1 und 3. Bis zu einem gewissen Grad lässt sich dies durch gezielte Trainingsmaßnahmen und Einsatz von Videos reduzieren. Jedoch sollte innerhalb der Ausbildung mehr Gewicht auf die Randbereiche gelegt werden. Um eine hohe Reliabilität vor allem in den Randbereichen zu gewährleisten, werden mindestens 50 Übungsversuche als Ausbildungsziel empfohlen werden.
Fazit
Der FMS zielt vornehmlich auf die Identifikation einfacher motorischer Limitationen. Die Aufgabenanalyse und empirische Studien deuten darauf hin, dass der FMS die Funktion von Muskelschlingen bei niedrig intensiven Belastungen auf Ebene des Körpergewichts ohne Stoßbelastung erfasst. Daher vermittelt der Schnelltest Informationen zur Mobilität und motorischen Kontrolle maßgeblich für die Rekrutierung langsamer Muskelfasern. Bisher ist geklärt, dass eine niedrigintensive Dysfunktion sich in einer Leistungsasymmetrie ausdrücken kann. Jedoch existiert kein Zusammenhang zwischen dem FMS-Score des Deep Squats und der Landequalität. Dies kann an den methodischen Mängeln des Messverfahrens liegen oder an der fehlenden Stoßbelastung. Der Differenzierungsniveau der Messprotokolls lässt sich durch den Einsatz von Technologien verbessern. Um von dem internen auf den externen Fokus zu lenken, lohnt sich z. B. der Einsatz eines Metronoms mit variierter oder randomisierter Frequenz, um die situative Stabilität automatisierter Bewegungsmuster besser erkennen zu können. Der Einsatz von sensibler und praktikabler Technologie in Kombination mit hochintensiven Bewegungsaufgaben und variierendem Aufmerksamkeitsfokus würde die präventivdiagnostische Leistungsfähigkeit einer funktionsorientierten Testbatterie erhöhen, da es spezifischer die Verletzungssituation simuliert. In Kombination mit einem strategischen und physiologischen begründete Anpassungsmanagement spricht vieles für die erfolgreiche Verletzungsprävention im Rahmen leistungssportlicher Ziele. Dagegen spricht ein erhöhter Aufwand, allerdings erwarten Trainer und Betreuer eine erhöhte Aufwandbereitschaft von Athleten. Im Umkehrschluss dürfen Athleten oder Trainer auch von uns erwarten, dass wir uns für eine bessere Qualität einsetzen.
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Literatur
[1] Tittel K. Beschreibende und funktionelle Anatomie. 16. überarbeitete Auflage. München: KIENER Verlag; 2016.
[2] Edgerton VR, Wolf SL, Levendowski DJ, Roy RR. Theoretical basis for patterning EMG amplitudes to assess muscle dysfunction. Med Sci Sports Exerc. 1996;28(6):744 – 751.
[3] Bosco C. Methods of Functional Testing During Rehabilitation Exercises. In: Puddu G, Giombini A, Selvanetti A, eds. Rehabilitation of Sports Injuries. Berlin: Springer; 2001:11 – 22.
[4] Kiesel K, Plisky PJ, Voight ML. Can Serious Injury in Professional Football be Predicted by a Preseason Functional Movement Screen? N Am J Sports Phys Ther. 2007;2(3):147 – 158.
[5] Cardinale M. Commentary on “Towards a Grand Unified Theory of sports performance”. Hum Mov Sci. 2017. doi:10.1016/j.humov. 2017.04.015.
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[16] Wiemann K, Tidow G. Die Adduktoren im Sprint – bisher vernachlässigt? Lehre der Leichtathletik. 1994;33(19):15-18.
[17] Kraus K, Doyscher R, Schütz E. Methodological Item Analysis of the Functional Movement Screen. Dtsch Z Sportmed. 2015;2015(10):263 – 268. doi:10.5960/dzsm.2015.199.
Autoren
entwickelt und evaluiert Strategien zur Unterstützung der regenerativen Erneuerung und zum Schutz vor degenerativem Verfall. Dabei hilft ihm seine Erfahrung als wissenschaftlicher Gutachter und sein Können bei der Bewertung von Produkten, Training oder Therapien. Sein praktisches Know-How für den wirkungsvollen Talentschutz und regenerative Talententwicklung bringt Dr. Kraus bei Sportverbänden (IBU, BVDG) und Unternehmen (z. B. Hopital de la Tours) mit ein.