Die Deutschen altern: Derzeit sind 16 Millionen der 83 Millionen Deutschen über 67 Jahre alt und es wird prognostiziert, dass die Zahl der über 67-jährigen bis 2035 um 22 % auf 20 Millionen ansteigt (Daten Statistisches Bundesamt). Ein Problem, das im Alter auftritt, ist das Muskelaltern, für das Irwin H. Rosenberg 1988 den Begriff „Sarkopenie“ vorgeschlagen hat.
Der Begriff „Sarkopenie“ ist von griechisch Sarx „Fleisch“ und Penia „Verlust“ abgeleitet [1] und wird heute zumeist verwendet, um zwei Dinge zu benennen:
- Altersphänomen: Rückgang von Muskelmasse, Kraft und Schnellkraft
- Diagnostizierbare Muskelkrankheit (ICD-Code 62.50)
Warum ist Sarkopenie eine ernstzunehmende Erkrankung? Sarkopenie lässt uns älter aussehen, macht uns gebrechlich, reduziert die Mobilität (z.B. Rollator-Abhängigkeit), erhöht das Risiko von Stürzen [2, 3], von Abhängigkeit und von einer Einlieferung ins Alters- oder Pflegeheim. Sie ist zudem mit einer erhöhten Sterblichkeit assoziiert [4]. Aufgrund all dieser mit Sarkopenie assoziierten Probleme und Folgen ist es wichtig, dass ernsthaft damit begonnen wird, diese Erkrankung in der ärztlichen Routine zu diagnostizieren, zu vermeiden und zu behandeln. Ein Diagnoseschema für Sarkopenie ist in der Abbildung dargestellt. Konkret wird bei der Sarkopenie-Diagnose mit dem SARC-F-Fragebogen zuerst geprüft, ob die Patienten Probleme mit der Kraft, beim Gehen, Aufstehen oder Treppensteigen haben oder gestürzt sind [6]. Ab 4 Punkten im SARC-F-Fragebogen soll ein Griffkraft-Test oder ein Stuhl-Aufsteh-Test durchgeführt werden. Ist die Griffkraft unter 27 kg bei Männern oder unter 16 kg bei Frauen und/oder brauchen die Patienten mehr als 15 Sekunden, um fünfmal von einem Stuhl aufzustehen, dann kann „Sarkopenie wahrscheinlich“ diagnostiziert werden. Bereits bei dieser Diagnose sollten Patienten behandelt werden [6].
Wie kann Sarkopenie vermieden und behandelt werden?
Im Gegensatz zu anderen Alterskrankheiten, wie z. B. Demenz oder Krebs, kann Sarkopenie einfach diagnostiziert sowie effektiv vermieden und behandelt werden. Wir empfehlen, dass insbesondere alle über 65-jährigen (und generell alle Altersgruppen) gemäß der WHO-Empfehlungen ein kombiniertes Kraft- und Ausdauertraining zur Sarkopenieprävention und für die Gesundheitserhaltung durchführen [7]. Im Gegensatz dazu sollten Sie Patienten mit der Diagnose „Sarkopenie wahrscheinlich“ mit einem spezifischen Sarkopenie-Krafttraining sowie mit einer anabolen Ernährung behandeln.
Sarkopenie-Krafttraining
Ein Sarkopenie-Krafttraining ist ein Krafttraining, das effektiv Alltagsfunktionen wie Gehen, Treppensteigen, Aufstehen und Tragen sowie Muskelmasse, Kraft und Schnellkraft verbessert und zudem das Sturzrisiko senkt. Ein derartiges Krafttraining ist die wichtigste Maßnahme, um Sarkopenie zu vermeiden oder zu behandeln. Dabei ist ein hohes Alter keine Entschuldigung, denn selbst über 90-jährige können mit Krafttraining Muskelmasse und Kraft verbessern [13]. Das Krafttraining muss so gewählt werden, dass die Patienten das Training – auch mit Begleiterkrankungen wie z.B. beginnender Demenz oder Arthrose – durchführen können und gerne durchführen. Hier gilt: lieber ein mäßig effektives, funktionelles Krafttraining, das die Patienten langfristig mit Freude durchführen, als ein hocheffektives Krafttraining, das nach zwei Monaten abgebrochen wird. Strategien für das Sarkopenie-Krafttraining sind Krafttraining mit einer niedrig angesetzten Dosierung, „Exercise Snacking“ (Mini-Krafttrainingseinheiten), Eigengewichtsübungen mit einem Fokus auf große Muskelgruppen (Beine, Rücken, Schultern; z. B. Stuhlaufstehen oder Kniebeugen am Stuhl) sowie Training mit elastischen Bändern. Dabei sind die Beinstrecker die Muskeln, die am meisten trainiert werden sollen, denn sie werden für Gehen, Aufstehen, Treppensteigen und Sturzvermeidung benötigt.
Ein Krafttraining mit niedriger, jedoch effektiver Dosierung beinhaltet [8]:
- 1 – 2 Trainingseinheiten pro Woche mit geringen bis moderaten Widerständen (»8 – 20 Wiederholungen bis zur Erschöpfung)
- Fokus auf die Beinstrecker (essentiell für Gehen, Aufstehen, Treppen steigen und Sturzprävention) und alle großen, funktionell bedeutsamen Muskelgruppen
- 1 – 2 Sätze (Durchgänge) pro Übung
- 1 – 2 Minuten zwischen den Sätzen
Trainieren können Senioren zu Hause (geringe Barriere, aber oft wenig effektiv ohne Anleitung), in Alterssportgruppen im Sportverein (gut gegen Vereinsamung, kann bei gutem Trainer effektiv sein, motivierend, Anfahrt ist eine Hürde) oder an Maschinen im Fitnessstudio (oft größere Hürde für Senioren, doch wahrscheinlich am effektivsten) umgesetzt werden. In den eigenen vier Wänden sind das Aufstehen von einem Stuhl, Kniebeugen am Stuhl für die Beinmuskulatur sowie Übungen mit elastischen Bändern geeignet, wobei das Sturzrisiko minimal sein sollte. Beim Aufstehen von einem Stuhl kann der Schwierigkeitsgrad erhöht werden, indem der Stuhl lediglich leicht berührt werden darf, ohne dass sich die Person hinsetzt. Elastische Bänder, vor allem für Übungen für den Oberkörper sowie Fußgelenksgewichte z. B. für Beinstreckübungen im Sessel können für Patienten mit Bewegungseinschränkungen geeignet sein. Gerade bei Senioren mit Begleiterkrankungen sollte das Sarkopenie-Krafttraining modifiziert werden. Bei Bluthochdruck empfehlen wir beispielweise die Methode des Cluster-Trainings. Dabei werden die Gesamtwiederholungen eines Satzes durch kurze Pausen getrennt. Bei einem Wiederholungsziel von 12 bei Kniebeugen kann beispielsweise nach jeweils 4 Wiederholungen für 30 Sekunden pausiert werden. Diese Methode reduziert die wahrgenommene Ermüdung [11] und kann das Krafttraining vereinfachen. Die Vorteile sind weniger Stress für das kardiovaskuläre System [9] bei gleicher Trainingseffektivität für Muskelkraft [10]. Eine weitere Methode der Trainingsanpassung ist das „Exercise Snacking“. Es beinhaltet kurze, aber häufigere (z.B. 4 – 5 x pro Woche) Trainingseinheiten. Z.B. können bei ausgewählten Übungen – wie beim Zirkeltraining – so viele Wiederholungen wie möglich innerhalb einer Minute ausgeführt werden, bevor es zur nächsten Übung geht [12]. Die Pause zwischen den Übungen beträgt eine Minute. Bei fünf Übungen morgens und abends beträgt die Belastungsdauer lediglich zehn Minuten pro „Exercise Snack“.
Anabole Ernährung
Zusätzlich zum Krafttraining empfehlen wir eine anabole Ernährung mit mindestens 1,0 – 1,2 g Protein pro kg Körpergewicht pro Tag [14], eventuell ergänzt mit Kreatin, Vitamin D oder Fischöl. Wichtig ist, dass Sie nicht nur abstrakte Proteindosen empfehlen, sondern die Patienten dazu befähigen, dass sie ihre Empfehlungen auch unter besonderen Umständen, wie z. B. „Essen auf Rädern“ oder bei geringem Appetit, umsetzen können. Um eine 60 kg schwere Frau täglich mit »70 g hochwertigem Eiweiß zu versorgen, bietet sich beispielsweise Kuh- oder Sojamilch (200 mL, 7 g Protein), ein Speisequark (250 g, 25 g Protein) mit Obst und gelegentlich ein mittelgroßes Ei (7 g Protein) an. Bei den anderen Hauptmahlzeiten raten wir ebenso zu proteinreichen Lebensmitteln wie Milchprodukten (Milch, Buttermilch, Kefir, Yoghurt ohne Zuckerzusatz), mageres Fleisch, Fisch und Hülsenfrüchte. Bei Menschen mit Kau- und Schluckbeschwerden, Appetitlosigkeit oder motorischen Einschränkungen, die oft bei Demenz [15] auftreten, sind Trinkmahlzeiten z. B. mit Molke-Proteinpulver (Whey) eine Alternative [16]. Trinkmahlzeiten sind nicht nur eine Option, um eine höhere Energiedichte zu erreichen, sondern eignen sich auch, um zusätzlich 1 Esslöffel Kreatinmonohydrat (5 g) unterzurühren. Kreatin ist ein sicheres und effektives Nahrungsergänzungsmittel, das zusätzlich zum Krafttraining Muskel- und Kraftaufbau steigern kann [17]. Außerdem kann es sinnvoll sein, dass Sie den Vitamin-D-Status Ihrer Patienten messen. Besteht ein Mangel, dann wird eine Supplementation empfohlen [18]. Des Weiteren werden mehrfach ungesättigte Fettsäuren wie Fischöl zur Vermeidung und Behandlung von Sarkopenie diskutiert [19]. Wir empfehlen den wöchentlichen Verzehr fettreicher Fische wie Forelle, Hering, Makrele oder Lachs. Alternativ können die Senioren Fischölkapseln nehmen. Hier kann es jedoch bei den häufig großen Kapseln Probleme beim Schlucken geben.
Fazit und Forderungen
Zusammenfassend ist Sarkopenie ein Altersphänomen und eine Alterserkrankung, die einfach diagnostiziert, vermieden und mit Sarkopenie-Krafttraining und einer anabolen Ernährung behandelt werden kann. Dies geschieht derzeit zu wenig und daher fordern wir:
- Jeder Haus- oder Sportarzt sollte bei über 65-jährigen mit Muskel- oder Mobilitätsproblemen auf Sarkopenie testen und ab der Diagnose „Sarkopenie wahrscheinlich“ eine Therapie starten.
- Sarkopenie-Patienten sollten mit einem Sarkopenie-Krafttraining behandelt werden, das Alltagsfunktionen wie Gehen, Treppensteigen, Aufstehen und Tragen sowie Muskelmasse, Kraft und Schnellkraft verbessert und das Sturzrisiko reduziert sowie einer anabolen Ernährung mit mindestens 1,0 – 1,2 g Protein pro kg Körpergewicht pro Tag.
- Bei nicht-sarkopenen Senioren sollten Sie das WHO-Gesundheitstraining, eine Kombination von Ausdauer- und Krafttraining [7], zur Prävention von Sarkopenie und anderen Alterserkrankungen empfehlen.
- Sarkopenie sollte im Medizinstudium und bei der Ausbildung von Pflegern, Fitnesstrainern, Sportwissenschaftlern und anderen Gesundheitsberufen gelehrt werden. Eine Zusatzausbildung „Sarkopenie“ ist anzustreben.
Literatur
[1] Rosenberg IH. Sarcopenia: origins and clinical relevance. JNutr. 1997;127(5 Suppl):990S-1S.
[2] Chen L-K, Woo J, Assantachai P, Auyeung T-W, Chou M-Y, Iijima K, et al. Asian Working Group for Sarcopenia: 2019 Consensus Update on Sarcopenia Diagnosis and Treatment. Journal of the American Medical Directors Association. 2020;21(3):300-7.e2.
[3] Yeung SSY, Reijnierse EM, Pham VK, Trappenburg MC, Lim WK, Meskers CGM, et al. Sarcopenia and its association with falls and fractures in older adults: A systematic review and meta-analysis. J Cachexia Sarcopenia Muscle. 2019;10(3):485 – 500.
[4] Celis-Morales CA, Welsh P, Lyall DM, Steell L, Petermann F, Anderson J, et al. Associations of grip strength with cardiovascular, respiratory, and cancer outcomes and all cause mortality: prospective cohort study of half a million UK Biobank participants. BMJ (Clinical research ed). 2018;361:k1651.
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[7] WHO. WHO guidelines on physical activity and sedentary behaviour. World Health Organization; 2020.
[8] Coelho-Junior HJ, Uchida MC, Picca A, Bernabei R, Landi F, Calvani R, et al. Evidence-based recommendations for resistance and power training to prevent frailty in community-dwellers. Aging Clin Exp Res. 2021;33(8):2069-86.
[9] Iglesias-Soler E, Boullosa DA, Carballeira E, Sanchez-Otero T, Mayo X, Castro-Gacio X, et al. Effect of set configuration on hemodynamics and cardiac autonomic modulation after high-intensity squat exercise. Clin Physiol Funct Imaging. 2015;35(4):250-7.
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[13] Cadore EL, Casas-Herrero A, Zambom-Ferraresi F, Idoate F, Millor N, Gómez M, et al. Multicomponent exercises including muscle power training enhance muscle mass, power output, and functional outcomes in institutionalized frail nonagenarians. Age (Dordr). 2014;36(2):773-85.
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[15] Volkert D, Chourdakis M, Faxen-Irving G, Fruhwald T, Landi F, Suominen MH, et al. ESPEN guidelines on nutrition in dementia. Clin Nutr. 2015;34(6):1052-73.
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[17] Candow DG, Forbes SC, Kirk B, Duque G. Current Evidence and Possible Future Applications of Creatine Supplementation for Older Adults. Nutrients. 2021;13(3).
[18] Uchitomi R, Oyabu M, Kamei Y. Vitamin D and Sarcopenia: Potential of Vitamin D Supplementation in Sarcopenia Prevention and Treatment. Nutrients. 2020;12(10).
[19] McKendry J, Currier BS, Lim C, McLeod JC, Thomas ACQ, Phillips SM. Nutritional Supplements to Support Resistance Exercise in Countering the Sarcopenia of Aging. Nutrients. 2020;12(7).
Autoren
hat an der Sporthochschule in Köln studiert und promoviert. Er war dann 18 Jahre im UK, vor allem in Schottland an den Universities of Dundee & Aberdeen. Seit 2016 ist er Professor für Sportbiologie an der TU München. Sein Forschungsfokus ist die molekulare Sportphysiologie und die Erforschung der Muskulatur.
ist Sportwissenschaftlerin (M.Sc.) und wiss. Mitarbeiterin an der Professur für Sportbiologie der TU München. Ihr Forschungsinteresse gilt vor allem den Anpassungen der Muskulatur durch Kraft- und Ausdauertraining und der Sarkopenie. Sie ist zudem als Athletiktrainerin tätig.
ist Sportwissenschaftler (M.Sc.) und Lehrbeauftragter an der TU München für den Lehrstuhl der Sportbiologie. Parallel ist er selbstständiger Trainer mit Fokus auf Muskelaufbau und Maximalkraft.
hat 2019 seinen Master in Sportwissenschaft an der University of Jyväskylä (Finnland) abgeschlossen und promoviert an der Professur für Sportbiologie TU München zu molekularen Mechanismen der Duchenne Muskeldystrophie. Er betreut seit 10 Jahren Menschen aller Altersklassen mit dem Schwerpunkt auf Athletiktraining für Spielsportler und ist selbst Kraftdreikämpfer.