Das Thema “Return to Sport(s)” findet sich seit einigen Jahren regelmäßig in den orthopädischen und sportmedizinischen Fortbildungsprogrammen. Die meisten Vorträge und Studien beschäftigen sich mit der Rückkehr zum Sport nach Knieverletzungen. Das Kniegelenk ist eines der häufigsten verletzten Gelenke. Dementsprechend viele Kollegen sind auf dessen Versorgung spezialisiert. Langsam verbreitet sich die Erkenntnis, dass die strukturelle Ausheilung einer Verletzung nicht automatisch mit einer funktionellen Wiederherstellung gleichgesetzt werden kann. Wie wir zumindest aus dem Fußball wissen, stellt die unvollständige funktionelle Wiederherstellung nach einer Sportverletzung einen der höchsten Risikofaktoren für eine erneute Verletzung dar!
Einer der Hauptgründe dafür ist der Umstand, dass Schmerz Bewegungsmuster verändert. Das ist beispielsweise nach einer Distorsion des Sprunggelenks sinnvoll, um das verletzte Gelenk zu entlasten. Der Sportler schränkt seine Abrollbewegung ein und entlastet das Gelenk. In vielen Fällen bleibt nach der Ausheilung, eine veränderte und oft tückischer Weise schmerzfreie Funktion – wie eine eingeschränkte Dorsalextension im oberen Sprunggelenk – für längere Zeit bestehen. Auf diese Weise erhöht sich das Verletzungsrisiko des Sportlers. Deshalb ist es wichtig sich bei einer sportmedizinischen Untersuchung den Bewegungsapparat auch in “Bewegung” anschauen, um funktionelle Risikofaktoren erkenne zu können. Mit diesem Beitrag möchte ich auf die Möglichkeiten eines funktionellen Screenings des Bewegungsapparates für Sportmediziner hinweisen und Tipps für die Umsetzung im Alltag liefern.
Welche Zielgruppe spricht ein funktionelles Screening in der sportmedizinischen Sprechstunde an?
Es handelt sich um eine Untersuchung für die meisten Patienten in der sportmedizinischen oder orthopädischen Sprechstunde. Profisportler werden in der Regel schon über ihren Verband oder Teamarzt betreut. Außerdem kann kaum eine Praxis wirtschaftlich nur von Profisportlern leben.
Einfache funktionelle Untersuchungen sind für jeden Patienten mit Beschwerden des Bewegungsapparates relevant. Zusätzlich sind sie hervorragend für präventive Untersuchungen von Hobbysportlern und Menschen mit einem körperlich anspruchsvollen Beruf geeignet.
Ein Screening sollte vom Allgemeinen zum Speziellen erfolgen. Zuerst geht es um grundlegende Bewegungsmuster, dann um grundlegende Belastungen. Sportartspezifische Tests spielen für die allgemeine Sportmedizin Sprechstunde meistens keine Rolle, da mit der Spezialisierung auch der Geräte- und Zeitaufwand deutlich steigt. Bei den Basisfähigkeiten gibt es genug zu tun. Ich muss mir keine Gedanken darüber machen, ob ein Fußballspieler wieder fit genug ist, um zu Dribbeln und auf das gegnerische Tor zu schießen, wenn er nicht sicher auf einem Bein stehen kann.
Zielgruppen für ein Screening
- Sportler und Menschen mit körperlich anspruchsvollem Beruf im Rahmen einer präventiven Untersuchung oder Leistungsdiagnostik
- Sportler nach einer Sportverletzung, die wieder in ihren Sport einsteigen wollen
- Menschen die nach längerer Sportpause mit dem Training beginnen möchten
- Screening zur Steuerung eines medizinischen Trainings oder einer Reha
Was gibt es schon an Empfehlungen?
Die deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (DGSP) hat auf ihrer Webseite eine S1-Leitlinie zur Vorsorgeuntersuchung im Sport veröffentlicht. Diese sehr gut ausgearbeiteten Empfehlungen decken schwerpunktmäßig die “internistischen Sportmedizin” ab.
- Anamnese und körperliche Untersuchung
- EKG in Ruhe und Belastung
- Ggf. Echokardiographie
- Blutwerte
- Lungenfunktion / Spirometrie
- Leistungsdiagnostik
- Befundbericht / Trainingsempfehlung
Die “orthopädische Sportmedizin” wird leider vergleichsweise unvollständig abgedeckt. Während im internistischen Teil Untersuchungen in Ruhe und unter Belastung (Belastungs-EKG, ggf. Stress-Echo) durchgeführt werden, bleibt es bei der Untersuchung des Bewegungsapparates weitestgehend bei der Vermessung des Körpers nach der Neutral-O Methode. Viele Beschwerdebilder treten aber erst unter Belastung auf, weshalb meiner Ansicht nach auch eine Untersuchung unter Belastung des Bewegungsapparates erfolgen muss. Veränderungen des Rhythmus oder der Durchblutung treten im EKG ja auch häufig erst unter Belastung auf.
Zuerst sollte immer die Qualität der grundlegenden Bewegungsmuster überprüft werden, dann sollte eine Testung unter Belastung erfolgen. Grundlegende Bewegungsmuster umfassen die Aspekte Mobilität (z.B. Finger-Boden-Abstand), Koordination (z.B. Einbeinstand) und Stabilität (z.B. Rumpfstütz). Von komplexen Bewegungen – wie beispielsweise einer tiefen Kniebeuge – ausgehend, können dann bei Bedarf gezielt einzelne Gelenke untersucht werden. Ist die Qualität gegeben, erfolgt die Testung unter Belastung, beispielsweise mit Sprüngen.
Endogene vs. Exogene Ursachen für Sportverletzungen
Im Hinblick auf ihre Ursache lassen sich Sportverletzungen in endogene und exogene Verletzungen aufteilen. Exogene Verletzungen können durch klimatische Bedingungen, Sportgeräte oder Mit-/Gegenspieler verursacht werden und können durch den Sportmediziner nur eingeschränkt beeinflusst werden. Endogene Ursachen können im Rahmen eines Screenings wiederum gut erfasst werden. Defizite der Mobilität, Stabilität und neuromuskulären Ansteuerung sind häufige, vermeidbare Ursachen für Überlastungen und Verletzungen.
Hier ein paar Beispiele für typische „endogene Sportverletzungen“ aus der sportmedizinischen Sprechstunde:
- Schmerzen des Tractus iliotibialis am Kniegelenk bei einem Läufer: Bei langandauernden Belastungen wie Langstreckenlauf oder Triathlon, kann sich ein Mobilitätsdefizit des Sprunggelenks oder eine Dysbalance im Bereich der Hüftmuskulatur über die Dauer der Belastung bemerkbar machen. Neben der akuten Therapie der Beschwerden sollte auch die eigentliche Ursache erkannt und adressiert werden.
- Achillessehnenschmerzen beim Volleyballspieler: Viele kurze, intensive Belastungen durch Sprünge und Landungen beim Volleyball oder Basketball summieren sich über ein Training oder Spiel zu einer beachtlichen Gesamtbelastung. Springen und Landen fordern den gesamten Körper. Wenn nicht unter Belastung getestet wird, können Defizite nicht erkannt werden.
- Schulterschmerzen beim Kraftsportler: Wenige hohe Gewichtsbelastungen mit Zusatzgewichten wie beispielsweise beim Krafttraining erfordern eine solide Stabilität und gute Koordination der Muskelschlingen. Zusätzlich spielt das Thema Atmung eine wichtige Rolle. Bevor schwere Gewichte bewegt werden, sollte zumindest auch das eigene Körpergewicht beherrscht werden, z.B. beim Liegestütz.
- LWS Schmerzen beim Tennisspieler: Fehlt die Mobilität in einem Bereich kompensiert häufig ein benachbartes Areal. Fehlende Beweglichkeit der Schulter oder der Brustwirbelsäule resultiert z.B. beim Tennisaufschlag oft in einer wiederholten Überstreckung der Lendenwirbelsäule und daraus resultierenden Schmerzen.
Low-tech vs. High-tech Screenen
Was braucht man, um den Bewegungsapparat in der Arztpraxis zu screenen? Von low-tech bis high-tech ist alles möglich. Zum Einstieg reichen eine Matte, ein Stab und etwas Klebeband. Verschiedene Firmen haben hier handliches Equipment entwickelt (Beispiel). In der high-end Variante kann beispielsweise ein SkillCourt eingesetzt werden. Dabei erfasst ein Laser ein zuvor definiertes Feld und der Sportler wird mit eine spezielle Software über einen Monitor von einer Aufgabe zur nächsten geführt. Neben einem Screening ist dann auch direkt ein Training der erkannten Defizite im SkillCourt möglich. Für Vereine, Rehakliniken, große sportmedizinische Abteilungen und physiotherapeutische Praxen kann eine solche Investition sehr sinnvoll sein.
Vorsorge ist besser als Therapie
In den meisten Bereichen der Medizin haben sich mittlerweile Vorsorgeuntersuchungen etabliert. Von klein auf gehen wir jedes Jahr zum Zahnarzt. Wir gehen zum Hautarzt und lassen unsere Leberflecken untersuchen. Wir sollten spätestens ab dem 50.sten Lebensjahr einmal den Darm untersuchen lassen. Die Liste lässt sich noch weiter fortsetzen.
Was machen wir eigentlich für unseren Bewegungsapparat, der unverändert für die meisten verpassten Arbeitstage verantwortlich ist? Nichts! Es gibt keine flächendeckende strukturierte Vorsorge für unseren Bewegungsapparat. Die Nachfrage seitens der Patienten ist gering, umgekehrt aber auch das Angebot seitens der Orthopäden, Hausärzte und Sportmediziner. Gründe dafür sind fehlende Programme und Abrechnungsmöglichkeiten. Das „Rezept für Bewegung“ ist eine gute Aktion, aber für den Patienten in der Regel auch eine Selbstzahlerleistung. Ich habe über die letzten Jahre die Erfahrung gemacht, dass das Interesse der Patienten und die Bereitschaft für eine sportmedizinische Leistung selber zu zahlen, vorhanden ist. Es bedarf allerdings eines klar strukturierten und attraktiven Konzeptes seitens des Arztes.
Sport verschreiben – aber richtig
Wenn wir Sport als eines der wirksamsten Medikamente betrachten, sollte wir es auch genauso sorgfältig verschreiben. Bevor ich etwas verschreibe, benötige ich eine Diagnose, so auch bei der Verordnung von Bewegung. In der ärztlichen Ausbildung spielt eine aktive Trainingsplangestaltung keine Rolle. Auch im Rahmen der Weiterbildung zum Sportmediziner wird diese Thematik allenfalls vereinzelt behandelt. Viele Sportmediziner sind sportlich aktiv und einige besitzen auch eine Ausbildung als Sportlehrer oder Trainer und damit das notwendige Wissen für eine konkrete Trainingsempfehlung. Das ist aber keinesfalls die Regel. In diesem Fall ist eine Kooperation mit entsprechenden Spezialisten sinnvoll. In diesem Zusammenhang darf auch der notwendige Zeitaufwand für die Erstellung eines Übungsprogramms nicht unterschätzt werden.
Die ärztliche Untersuchung und ein Screening liefern in erster Linie eine Standortbestimmung für den Sportler oder Patienten. Sie resultieren entweder in einer Freigabe des Sportlers (z.B. Tauchtauglichkeit, Teilnahme am wettkampforientierten Training etc.) oder sie definieren ein klares Ziel, das durch Therapie und Training erreicht werden sollte. Eine enge Kooperation mit Physiotherapeuten und Trainern erleichtert die aktive Umsetzung des Trainingsziels. Mein Präsenzkurs “Return to Sport” findet aus genau diesem Grund immer Berufsgruppen übergreifend für Trainer, Therapeuten und Ärzte statt.
Eine weitere Möglichkeit für den Arzt besteht darin, einen Sportwissenschaftler in der Praxis anzustellen, um diese Leistung delegiert selber erbringen zu können. Das kann beispielsweise auch in Form eines 450 Euro Jobs erfolgen.
Abschließend möchte ich noch die “App auf Rezept” erwähnen. Seit Ende 2020 ist es Ärzten möglich vom BfArM zugelassene Apps per Rezept zu verordnen. Die App Vivira ist derzeit als einzige zur Trainingstherapie bei Beschwerden der Wirbelsäule, des Hüft- und Kniegelenks zugelassen. Das Trainingskonzept dahinter, habe ich als Leiter des wissenschaftlichen Beirats in den letzten Jahren entwickelt. Ein wesentlicher Vorteil eines “App” Rezeptes im Vergleich zu einem “normalen” Rezept für Krankengymnastik liegt darin, dass das Budget des Arztes nicht belastet wird.
Möglichkeiten der Abrechnung
Für gesetzlich Versicherte gibt es mit einigen Krankenkassen Vereinbarungen über eine sportärztliche Vorsorgeuntersuchung. Diese ist internistisch ausgerichtet und ihre Vergütung ist wie zu erwartenden nicht einheitlich. Bei Privatpatienten kann eine sportmedizinische Vorsorge- oder “Return to Sport”- Untersuchung nach der GOÄ abgerechnet werden. Je nach Inhalt müssen einzelne Ziffern analog angesetzt werden. Alternativ können sportmedizinische Leistungen auch als individuelle Gesundheitsleistung (IGEL) abgerechnet werden.
Aus der Erfahrung der letzten zehn Jahre kann ich betonen, dass man als Arzt nur Leistungen anbieten sollte, bei denen man sich wohl und sicher fühlt. Die Fragen einiger Sportler hinsichtlich Trainingssteuerung, Ernährung und Ausrüstung können sehr detailliert sein und ihre Beantwortung kann den zeitlich angesetzten Rahmen deutlich überschreiten.
In einem Online Coaching, dass ergänzend zum Kurs “Return to Sport” in Zusammenarbeit mit dem ARTZT Institut angeboten wird, berate ich Ärzte und Therapeuten zur Integration und korrekten Abrechnung von sportmedizinischer Leistungen in der Praxis.
Präsenz und 1:1 Coaching “Return to Sport” (ARTZT Institut)
Online Kurs “Return to Sport” (ARTZT Institut)
Buch: Return to Sport (2. Auflage, Pflaum-Verlag)
Leitlinie sportmedizinische Untersuchung (DGSP)
Autoren
ist Orthopäde und Sportmediziner. Er ist Partner einer interdisziplinären Gemeinschaftspraxis in Bonn und operativ als Belegarzt an der Beta Klinik Bonn tätig. Als kooperierender Arzt des Olympiastützpunktes Rheinland versorgt er Hobby- und Profisportler verschiedener Disziplinen. Seit 20 Jahren betreut Dr. Klingenberg Privatpersonen und Firmen als Personal Trainer. Regelmäßig bildet Dr. Klingenberg Trainer, Therapeuten und Ärzte sportmedizinisch weiter. Er ist Autor des Buchs “Return to Sport” und leitet die gleichnamige Ausbildung für das ARTZT Institut. Dieser Kurs ist seit April 2021 auch online verfügbar: https://www.artzt.eu/fortbildungen/weitere-fortbildungen/