Weltweit bislang einmalig können in Deutschland seit Oktober 2020 ausgewählte Apps vom Arzt auf Rezept verordnet werden. Davon profitieren zuerst einmal die 74 Millionen gesetzlich versicherten Patienten. Grundlage dafür ist das „Digitale-Versorgung-Gesetz – DVG“ aus dem Jahr 2019, das die Entwicklung verschreibungsfähiger digitaler Gesundheitsanwendungen, kurz DiGA, ermöglicht. Dr. Markus Klingenberg erklärt die Vorteile der neuesten Gesundheitheits-App für Patienten, Trainer und Ärzte.
Die ersten vom Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zugelassenen Apps befassen sich mit den Krankheitsbildern Tinnitus, Angststörungen, Rücken, Hüft- und Knieschmerzen. Weitere Apps für die Behandlung eines erhöhten Blutdrucks, Diabetes- und Schlafstörungen befinden sich im Prozess der Zulassung. Um verordnet werden zu können, muss eine App den komplexen Prüfungsprozess beim BfArM in Bonn absolvieren. Dieser überprüft, ob ein gesundheitlicher Nutzen der App für den Patienten wissenschaftlich mit aussagekräftigen Studien nachgewiesen wurde. Selbstverständlich müssen auch hohe Anforderungen im Bereich des Datenschutzes erfüllt sein. Nach einer Zulassung wird weiterhin verlangt, dass sich die Therapieempfehlungen der Apps mit dem Wissensfortschritt aktualisiert werden. Mit diesen hohen Auflagen soll der inzwischen unüberschaubare Markt der Gesundheits-Apps für die Patienten gefiltert werden. Bei insgesamt über 100 000 Apps rund um die Themen „Gesundheit“ und „Training“ ist das sicherlich ein sinnvolles Vorgehen.
Vorteile für Patient
Die Vorteile für den Patienten sind vielfältig. Gesetzlich versicherte Patienten erhalten mit der jeweiligen App eine medizinische Leistung im Gegenwert von einigen hundert Euro kostenfrei. Bucht jemand die gleiche App im App Store ohne Rezept, zahlt er ganz regulär für deren Nutzung. Es gibt keine Terminschwierigkeiten und keine Wartezeit. Unser Mobiltelefon haben wir beinahe immer zur Hand. Patient kann unabhängig von Zeit und Ort 24/7 auf die Anwendung zugreifen. So kann der Mit motivierenden und spielerischen Elementen können je nach App die Rituale und Verhaltensweisen des Patienten positiv beeinflusst werden. Der Begriff „Gamification“ beschreibt diese Möglichkeit, den Patienten mit spielerischen Elementen vom „Müssen“ zum „Wollen“ zu bewegen. Das erfolgtbeispielsweise über Erinnerungen, Motivation, virtuelle Abzeichen und Lob.
Die erfolgreiche Therapie von Volkskrankheiten wie hohem Blutdruck, Diabetes, Fettstoffwechselstörungen und Rückenschmerzen erfordert meistens eine Veränderung im Lebensstil der Betroffenen. Dazu ist es wichtig sich diesen zu visualisieren – als Therapeut und vor allem als Patient. Apps können hervorragend dazu beitragen, sich den eigenen Lebensstil zu verdeutlichen und ihn dann bei Bedarf aktiv zu verändern. So können wir uns „unbewusst“ ungünstige Verhaltensmuster im ersten Schritt „bewusst“ machen. Im nächsten Schritt werden günstige Verhaltensweisen „bewusst“ eingeübt, bevor sie im besten Fall „unbewusst“ fortgesetzt werden.
Die Nutzung der App wird automatisch und ohne Mühen für den Patienten dokumentiert und diese Daten kann er dem behandelnden Arzt zur Steuerung der Therapie vorlegen. Auch das ist eine der Auflagen des BfArM an die App Entwickler. Die Hoheit über seine Daten hat immer der Patient. Die Firmen haben keine Möglichkeit, die Nutzungsdaten einem individuellen Patienten zuzuordnen. Die Auswertung der anonymisierten Daten wiederum ermöglicht es, die Wirksamkeit der App zu überprüfen und die Programme weiterzuentwickeln.
Vorteile für den Arzt
Auch für den Arzt sind die neuen digitalen Gesundheitsanwendungen interessant. Im Allgemeinen ist der Kassenarzt bei gesetzlich versicherten Patienten durch Budgets in seinem Verschreibungsverhalten limitiert. Verschrieben werden soll, was medizinisch „ausreichend“ und wirtschaftlich „notwendig“ ist – also keineswegs das, was für ein optimales Behandlungsergebnis „möglich“ ist. Überschreitet der Arzt sein Budget, zum Beispiel indem er überdurchschnittlich viele Physiotherapiebehandlungen verschreibt, droht ihm ein Regress. Die App auf Rezept ist vorerst nicht budgetiert. Das führte schon – zusammen mit der freien Preisgestaltung der Firmen – zu Protesten seitens der gesetzlichen Krankenkassen. Zu teuer und zu wenig Evidenz lauten die Vorwürfe. Dabei wird natürlich nicht berücksichtigt, dass die Entwicklung einer App gemäß den strengen Vorgaben schnell Investitionen im Millionenbereich liegt. Um am Beispiel der Physiotherapie zu bleiben, liegt hier für die individuelle Leistung eines Therapeuten überhaupt keine Evidenz vor und ebenfalls keine überprüfbare Verpflichtung zur ständigen Weiterbildung in allen Teilbereichen vor. Zusammengefasst hat der Arzt mit der App auf Rezept einen weiteren Pfeil im Köcher seiner therapeutischen Optionen.
Wie läuft das ab?
Ein Patient kann eine App auf zwei Wegen erhalten: entweder per Rezept von seinem Arzt oder direkt von seiner Krankenkasse, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind. Die zu therapierende Erkrankung muss vor allem schon aktenkundig sein.
- Der Patient erhält ein Rezept für eine digitale Gesundheitsanwendung beim Arzt. Dieses löst er direkt, postalisch oder online bei seiner Krankenkasse ein.
- Die Krankenkasse stellt ihm entweder einen 16-stelligen Freischaltcode oder einen QR Code zur Verfügung. Dieser ist anonym, so dass der App Hersteller nur weiß, dass die Freischaltung versichert ist. Persönliche Daten des Nutzers erhält er aber nicht.
- Der Patient lädt die Anwendung seinem App Store auf sein Mobiltelefon und kann sie für den verordneten Zeitraum benutzen. Die Abrechnung erfolgt direkt zwischen seiner Krankenkasse und dem App Hersteller.
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Wie wird die Wirksamkeit einer App nachgewiesen?
In den letzten fünf Jahren habe ich als Leiter des wissenschaftlichen Beirat das Trainingskonzept hinter „Vivira“ entwickelt (www.Vivira.com) und möchte kurz ausführen, wie wir die Wirksamkeit der App belegt haben. Vivira ist als erste verschreibungsfähige App zur Behandlung orthopädisch-physiotherapeutischer Beschwerdebilder zugelassen worden. In erster Linie sind das Rückenschmerzen, Hüft- und Kniegelenksschmerzen. In den letzten Jahren konnte die App – genau wie jetzt auch – ohne Rezept heruntergeladen werden. Wie bei beinahe jeder anderen App, werden die Daten des Nutzers mit dessen Einverständnis gesammelt. So konnten wir über 50.000 Datensätze auswerten. Selbst für eine Multicenter Studie wäre das eine enorme Herausforderung eine solche Datenmenge in überschaubarer Zeit zu erheben und auszuwerten. So konnten wir die Effekte unseres standardisierten Trainingskonzepts überprüfen. Es zeigten sich unter der Trainingstherapie vorteilhafte Effekte wie beispielsweise eine Schmerzreduktion und eine verringerte Einnahme von Schmerzmedikamenten. Ein Grund für den Erfolg ist der zu Grunde liegende Algorhithmus. Alle Übungen unterliegen einer strukturierten Regression und Progression. Der Nutzer kann also je nach Trainingszustand eine leichtere oder schwere Variante wählen. Nach jeder Übung wird er hinsichtlich Umsetztbarkeit und Schmerz befragt und in Abhängigkeit seiner Antworten, passt sich das Programm individuell an den Nutzer an.
Neben dem generellen Wirksamkeitsnachweis ist auch der Vergleich mit der aktuellen Standardtherapie gefordert. Deshalb läuft derzeit eine prospektive Studie, die eine reguläre Krankengymnastik mit Vivira zur Behandlung von Rückenschmerzen über einen Zeitraum von drei Monaten zu vergleichen. Im Praxisalltag ist selbstverständlich kein entweder/oder, sondern vielmehr ein komplementärer Einsatz beider Therapieformen vorgesehen.
Weitere Optionen, die derzeit für den „normalen“ Nutzer schon vorhanden sind, werden Schritt für Schritt auch den GKV Nutzern eröffnet werden. Es gibt beispielsweise die Möglichkeit für einen Nutzer sich selber zu screenen, um Defizite in den Bereichen Mobilität, Stabilität und neuromuskuläre Ansteuerung zu erkennen und deren Verbesserung im Verlauf des Trainings überprüfen zu können. Nicht nur der Nutzer, sondern auch die App bleibt in Bewegung.
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Autoren
ist Orthopäde und Sportmediziner. Er ist Partner einer interdisziplinären Gemeinschaftspraxis in Bonn und operativ als Belegarzt an der Beta Klinik Bonn tätig. Als kooperierender Arzt des Olympiastützpunktes Rheinland versorgt er Hobby- und Profisportler verschiedener Disziplinen. Seit 20 Jahren betreut Dr. Klingenberg Privatpersonen und Firmen als Personal Trainer. Regelmäßig bildet Dr. Klingenberg Trainer, Therapeuten und Ärzte sportmedizinisch weiter. Er ist Autor des Buchs “Return to Sport” und leitet die gleichnamige Ausbildung für das ARTZT Institut. Dieser Kurs ist seit April 2021 auch online verfügbar: https://www.artzt.eu/fortbildungen/weitere-fortbildungen/