In vielen Kulturen ist der Atem gleichbedeutend mit dem Geist oder der Seele. Die unterschiedlichsten Übungen und Praktiken, die das Ziel haben, bestimmte Zustände zu erreichen oder einfach gesund zu bleiben oder zu werden, nutzen den kontrollierten Atem.
Bei genauerem Hinschauen kann man feststellen, dass Atemtraining in vielen Sportarten wieder langsam an Bedeutung gewinnt. Dies liegt einerseits daran, dass es mittlerweile einen beeindruckenden wissenschaftlichen Katalog von Wirkungsweisen und Zusammenhängen des Atems mit den unterschiedlichsten Körperfunktionen gibt. Andererseits kann jeder Sportler schnell mit professioneller Instruktion erleben und erfahren, wie kraftvoll und effektiv Atemübungen sind. Es ist dann offensichtlich, welche Kraft der Atem auf Ebenen der Neurotransmitter, Hormone und der Kognitionen und Emotionen haben kann. (Anmerkung der Redaktion: Vergleiche dazu auch Artikel Thorsten Ribbecke: Hierarchie der Regenerationsstrategien, sportärztezeitung 03/19, S.44 – 48, Kapitel Ernährung, Schlaf & Atmung. Außerdem aktuelle Ergebnisse REGman-Studie www.regman.org & Studie „Resting the mind“ Loch et al. 2019 https://doi.org/10.1016/j.peh.2019.04.002)
In diesem kurzen Überblicksartikel geht es sowohl um die stressreduzierenden (und damit leistungssteigernden) Effekte von Atemtraining als auch um die in spannenden Studien nachgewiesenen immunmodulierenden Auswirkungen.
Atmung
Der Vorgang des Atmens scheint sehr simpel zu sein: wir Menschen nutzen bei unserer aeroben Atmung einen Teil des in der Atemluft enthaltenen Sauerstoffs (O2) und atmen Kohlendioxid (CO2) aus. Normalerweise wird unser Atemprozess vom Autonomen Nervensystem gesteuert – wir müssen zum Glück nicht in jedem Augenblick darüber nachdenken, ob, wann und wie wir atmen. Doch es wird schon dann interessant, wenn man bedenkt, dass das Atmen trotz seiner autonomen Kontrolle eben auch bewusst gesteuert werden kann. Bezogen auf die Atmung finden wir eine sensible Dynamik in dem Säure-Base-Ausgleich. Durch intensiveres Atmen lässt sich der Anteil von Sauerstoff und Kohlendioxid im Blut relativ schnell beeinflussen. Verstärktes tiefes Ein- und Ausatmen führt dazu, dass die O2-Sättigung des Blutes ansteigt, während vermehrt CO2 abgeatmet wird. Was passiert, wenn wird die Luft anhalten? Da die sogenannte innere Atmung, also der Austausch in den Körperzellen weiterläuft, sammelt sich CO2 in der Lunge an, jedoch ohne die Zufuhr von frischer sauerstoffreicher Luft, fällt die Sättigung des Blut-O2 kontinuierlich ab; bis dann wieder eingeatmet wird. Mittels dieser einfachen und selbstkontrollierten Zustandsveränderungen, lassen sich mit wiederholtem Training erstaunliche Effekte beobachten, die Hinweise darauf geben, wie wir durch Atemtraining unser Immunsystem positiv beeinflussen können. Lange bekannt sind in der Sportmedizin Trainingsformen, die eine Hypoxie zu nutzen versuchen (Höhentraining). Es hat sich gezeigt, dass die Nutzbarmachung von gezielten Anpassungsmechanismen des Körpers viele positive Auswirkungen haben. Nicht zuletzt ist hier die intermittierende Hypoxie in Form der Intervall-Hypoxie-Hyperoxie-Therapie zu nennen.
Immunmodulierende Effekte von Atmung
Im niederländischen Nimwegen haben Kox und Kollegen (2012 und 2014) untersucht, welchen Einfluss Atemtraining (mit und ohne Kombination mit regelmäßiger Kälteexposition) auf sowohl subjektives Krankheitsempfinden als auch auf objektive Stresshormon- und Entzündungsparameter hat [1, 2]. Dazu untersuchten sie die Auswirkungen von intravenöser Applikation von Lipopolysacchariden auf eine Trainings- und eine Kontrollgruppe. In zahlreichen Vorstudien zeigt sich, dass die experimentelle Endotoxemie (2 ng/kg E. Coli Endotoxine) neben dem subjektiven Krankheitsgefühl zu einer Aktivierung des Sympathikus nebst vermehrter Ausschüttung von Katecholaminen und pro-inflammatorischen Markern führte. Doch zeigte die Gruppe der Trainierten signifikant weniger subjektive Krankheitsgefühle und eine massive Ausschüttung von Adrenalin an (kurzzeitiges Training von zehn Tagen). Es wurde hierbei beobachtet, dass besonders eine hohe Ausschüttung eines anti-inflammatorischen Zytokins (IL-10) zu einer Modulation bzw. Abschwächung von pro-inflammatorischen Interleukinen führte (IL-6, IL-8, TNF-Alpha). Wie konnten diese trainierten Teilnehmer das Kunststück schaffen, ihr Immunsystem willentlich zu beeinflussen? Etwas, von dem man glaubte, dass es medizinisch nicht möglich sei. Die Antwort ist erstaunlich: sie nutzen sowohl verstärktes Atmen, als auch Atemanhaltephasen (Hypoxie) als Vorbereitung und auch während des Versuchs. Die Quintessenz dieser Studien: Durch kontrollierte Atmungsprozesse lassen sich autonome Körperprozesse steuern und in eine gesundheitlich positive Richtung lenken.
Hypoxie als hormetisches Tool
Lassen Sie uns diese Resultate in einen größeren Rahmen einbetten. Evolutionsbiologisch ist der Mensch offenbar angelegt, mit extremen Umweltreizen wie Kälte, Hitze, Strahlung, Toxinen und körperlicher Belastung umzugehen. Das Prinzip Hormesis besagt, dass in einer dosisabhängigen Weise, diese Belastungen dazu beitragen können, die Gesundheit auszugleichen und den Körper widerstandsfähig zu halten [3]. Der hypoxische Stress steht hierbei für eine Phase, die kontrolliert herbeigeführt werden kann und den Körper zu neuen Anpassungen zwingt. Wichtig ist hier der intermittierende Charakter der Intervention. Offenbar kommt es bei verminderter O2-Aufnahme zu einer Erhöhung von Laktat und Pyruvat. Ein brandaktueller Artikel diskutiert demzufolge die Aktivierung des Cori-Zyklus [4].
Wirkungen & Fazit
Ich selbst gebe seit mehr als vier Jahren Workshops, die Atem- und Kältetraining beinhalten, und dies in den unterschiedlichsten Kontexten mit Klienten, die den Wunsch nach Reduzierung beruflichen Stress (Top-Perfomer und SEOs) haben, bis zu Menschen mit Angststörungen oder Autoimmunerkrankungen. Dabei treten durch Atemtechniken und Eisbäder folgende Effekte ganz besonders hervor:
- schnelle und deutliche Verminderung des Stresserlebens
- Loslassen von zurückgehaltenen Emotionen (Trauer und Freude)
- häufig eine Integration von Traumata
- Erleben von euphorischen Zuständen
- Erfahrung von Selbstwirksamkeit und
- langfristig der Verbesserung krankheitsbedingter Symptomatiken (eine aktuelle Studie zeigt die positive Wirkung bereits bei Patienten mit axialer Spondyloarthirits [5])
Alle diese Effekte werden mittlerweile als Wettbewerbsvorteile im sportlichen Kontext erkannt und auch schon genutzt. Ich hoffe sehr, dass noch mehr Sportmediziner diese Zusammenhänge und Techniken kennen und alte Konzepte hinterfragen, die Atemtechniken eine marginale Rolle zuweisen. Nicht zuletzt in diesen gesamtgesellschaftlich schwierigen Zeiten während der Coronapandemie steckt in der Nutzbarkeit von kontrollierter Atmung und deren nachgewiesenen Effekten auf das Immunsystem ein immenses Potenzial – abseits von sozialer Distanzierung und Impfstoffentwicklung. Bislang existieren keine gezielten Studien zum Thema Virusinfektionen und Atemtechniken, aber die Frage ist doch, was haben wir mit so einer effektiven und einfachen Immunstärkung zu verlieren?
Sicherheitshinweis Atmen & Kälte: Bitte führen Sie Atemtechniken nur in einer sicheren Umgebung durch, d.h. im Sitzen oder Liegen. Niemals während Tätigkeiten, die ihre volle Aufmerksamkeit erfordern und vor allem niemals im Wasser, da Schwindel oder Benommenheit unvorhersehbar auftreten können. Kältetraining wird in diesem Artikel erwähnt als extremer Umweltreiz, der Hormesis anstößt. Weil wegen dem diffusen Symptombild von SARS-CoV2 niemand sicher sagen kann, ob er gerade akut infiziert ist und sein Immunsystem daher alle Ressourcen benötigt, wird dringend abgeraten, jetzt mit einem Kältetraining zu starten. Wenn Sie dies jedoch bereits seit mehr als ein paar Wochen praktizieren und gute Erfahrungen gemacht haben, können Sie dieses natürlich weiter durchziehen.
Literatur
[1] The influence of concentration/meditation on autonomic nervous system activity and the innate immune response: a case study. Kox M, Stoffels M, Smeekens SP, van Alfen N, Gomes M, Eijsvogels TM, Hopman MT, van der Hoeven JG, Netea MG, Pickkers P. Psychosom Med. 2012 Jun;74(5):489-94. doi: 10.1097/PSY.0b013e3182583c6d.
[2] Voluntary activation of the sympathetic nervous system and attenuation of the innate immune response in humans. Kox M, van Eijk LT, Zwaag J, van den Wildenberg J, Sweep FC, van der Hoeven JG, Pickkers P. Proc Natl Acad Sci U S A. 2014 May 20;111(20):7379-84. doi: 10.1073/pnas.1322174111. Epub 2014 May 5.
[3] Hormesis: The dose response for the 21st century: The future has arrived. Agathokleous E, Calabrese EJ. Toxicology. 2019 Sep 1;425:152249. doi: 10.1016/j.tox.2019.152249. Epub 2019 Jul 19. Review.
[4] Involvement of Lactate and Pyruvate in the Anti-Inflammatory Effects Exerted by Voluntary Activation of the Sympathetic Nervous System. Zwaag J, Ter Horst R, Blaženović I, Stoessel D, Ratter J, Worseck JM, Schauer N, Stienstra R, Netea MG, Jahn D, Pickkers P, Kox M. Metabolites. 2020 Apr 10;10(4). pii: E148. doi: 10.3390/metabo10040148.
[5] An add-on training program involving breathing exercises, cold exposure, and meditation attenuates inflammation and disease activity in axial spondyloarthritis – A proof of concept trial. Buijze GA, De Jong HMY, Kox M, van de Sande MG, Van Schaardenburg D, Van Vugt RM, Popa CD, Pickkers P, Baeten DLP. PLoS One. 2019 Dec 2;14(12):e0225749. doi: 10.1371/journal.pone.0225749. eCollection 2019.
Autoren
ist promovierter Neurowissenschaftler und zertifizierter Wim-Hof-Method Instructor. Nach fast zwei Jahrzehnten Forschungstätigkeit (Bremen, Hannover, Boston) mittels funktioneller Bildgebung des Gehirns, gibt er seit einigen Jahren europaweit Atem- und Kältetrainings in Workshops.