Welche Struktur steht beim Sport in jeglicher Hinsicht im Mittelpunkt? Richtig, die Muskulatur. Sie dient dem Sportler zur Umsetzung seines Talents als einfaches Werkzeug. Kommt es im Zuge dessen zu einer Verletzung, wird mithilfe eines professionellen Funktionsteams dieser Struktur wieder zu seiner alten Form verholfen.
Radiologen leiten ein MRT ein, Ärzte setzen unter anderem gezielt eine oder mehrere Spritzen, Physiotherapeuten bedienen sich der Manuellen Therapie oder anderen Methoden zur Behandlung der betroffenen Struktur und der Athletiktrainer betreut den Wiedereinstieg in ein erfolgreiches Mannschaftstraining.
Muskelverletzungen – Ursachen und Messungen
Muskuläre Verletzungen machen die Mehrheit aller Sportverletzungen aus [1]. Hierbei sind externe Einwirkungen nicht immer der Grund für die Verletzung. Sogar in sportartspezifischen Alltagsbewegungen kommt es immer häufiger zu Verletzungen des Muskelapparats [1]. Diese reichen von den üblichen Distorsionen bis hin zu Muskelbündelrissen. Was ist die mögliche Ursache? Wie unter anderem im Artikel „moderne Fußballmedizin“ der Ausgabe 02/17 der sportärztezeitung erwähnt wird, ist die wachsende Belastung/Überlastung der Spieler eine vertretbare Hypothese, die den Grund dieser zweifelhaften Entwicklung darstellt. Dr. Kurt Mosetter beschreibt in seinem Beitrag hervorragend die Notwendigkeit, in einem gut organisierten interdisziplinären Umfeld handeln zu müssen, um den Spieler bestmöglich betreuen zu können [2]. Um dies zu gewährleisten, ist es essenziell, dass man in der Lage ist, die neusten Erkenntnisse und Technologien mit den altbewährten Erfahrungen zu kombinieren und in diesem interdisziplinären Umfeld zu kommunizieren. Ein probates Mittel der Kommunikation stellen objektive Daten, aus beispielsweise einer biomechanischen Messung, dar.
Hierfür werden unter anderem bei arthrogenen Einschränkungen Gelenkwinkel gemessen. Anschließend wird mithilfe konservativer Maßnahmen, wie Manuelle Therapie oder Osteopathie [3], das System so verändert, dass im besten Fall die gewünschte Beweglichkeit erreicht wird. Um dies zu überprüfen wird anschließend eine Evaluation durchgeführt, bei welcher der Winkel erneut gemessen wird. Eine komplizierte Verletzung, die einen chirurgischen Eingriff benötigt, wird in jedem Fall vorher mit einer Bildgebung (Röntgen, MRT, CT, Ultraschalldiagnostik u. a.) dargestellt. In der Regel wird nach erfolgreichem Eingriff wieder ein neuer Befund erstellt. Eine bestmögliche Dokumentation wird nur über ein gleichbleibend bildgebendes Verfahren gewährleistet.
EMG-Anwendung
Das Zeitalter der Digitalisierung ermöglicht uns nicht erst seit heute den Blick in die so wichtige Struktur für den Athleten. Das neuromuskuläre System [4] als Oberleitung eines komplexen Zusammenspiels vieler verschiedener muskulärer Verknüpfungen und Funktionseinheiten kann über die Elektromyografie (EMG) sichtbar dargestellt werden [5]. Seit nun mehr als sechs Jahren arbeite ich intensiv mit dem Oberflächen-EMG, da hiermit auch in der sportspezifischen Funktion eine optimale Ableitung der Muskelaktivität möglich ist, ohne eine Struktur verletzen zu müssen. Das Verfahren wurde mehr und mehr ein unverzichtbarer Gegenstand meiner Diagnostik, um eine handfeste Aussage des muskulären Status zu fällen. Hypothesen sollen dadurch zu validierten Fakten werden. Das EMG wird als Biofeedbackgerät, Analyse -und Befundtool für therapeutische Intervention verwendet.
Meine Erfahrung hat gezeigt, dass der Mensch mit seiner Komplexität nur dann muskulär auf höchstem Niveau begleitet werden kann, wenn seine Individualität nachhaltig analysiert, dokumentiert und kommuniziert wird. Detaillierte Diagnostik geschieht nur mit einem intraindividuellen Referenzwert. Individuell neuromuskuläre Aktivitätsmuster müssen erkannt und in der Folge berücksichtigt werden. Dies kann durch eine gezielte „Preseason Messung“ umgesetzt werden. Die Gewährleistung soll über einen einmaligen Einsatz betrieben werden, der gegenwärtig ohne großen Aufwand in jedem Profiverein umsetzbar wäre. Ein Vorbild hierfür stellt unter anderem Bayer 04 Leverkusen dar. Im Zuge meiner Arbeit als MYOact durfte ich die personell, strukturell und technologisch hoch professionelle Präventionsarbeit des Funktionsteams kennenlernen. Mit der gezielten Umsetzung eines durchdachten Betreuungskonzeptes konnte die Anzahl der muskulären Verletzung in der ersten Hälfte der Saison 2017/18 deutlich reduziert werden. Um diesem Beispiel zu folgen, gilt es, manche festgefahrene Strukturen aufzubrechen und sich aus der Komfortzone zu bewegen. Auch Borussia Mönchengladbach hat sich personell im Bereich der EMG-Anwendung gut aufgestellt und setzt es seit einiger Zeit um.
Fenster zur neuromuskulären Ansteuerung öffnen
Auch in der Betreuung diverser wissenschaftlicher Arbeiten (unter anderem Kooperation mit der Hochschule Osnabrück), habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, diese ergänzende Form der Sportler -/Patientenbetreuung evidenzbasiert zu untermauern. Ich sehe es als eine absolute Notwendigkeit, dass wir uns heute der modernen Technologie bedienen. Es muss einen tieferen Einblick in die Struktur, nicht nur für den Therapeuten, sondern auch für den Sportler geben. Immer wieder stellen sich Physiotherapeuten und Athletiktrainer die Frage, wie man einen spezifischen Zielmuskel optimal trainieren bzw. ansteuern kann. Wenn man sich nun der unzähligen Literatur bedient, findet man für jeden Muskel im Körper ein adäquates Übungsprogramm. Diese Erkenntnis gepaart mit der Erfahrung des Therapeuten/Trainers führt zu der entsprechenden Übungsauswahl für den Sportler. Doch woher können wir uns sicher sein, dass diese Übung auch wirklich den optimalen Effekt bei unserem individuellen Sportler hat? Könnte es vielleicht sein, dass ich in der empfindlichen Phase der Rehabilitation kontraproduktive Übungen anleite? All diese Fragen kann ich erst dann beantworten, wenn ich das Fenster zur neuromuskulären Ansteuerung öffne. Hierdurch erweitere ich meinen Blick in eine neue Welt hochrelevanter Informationen, die bei richtiger Bewertung meine Therapie -und Trainingsentscheidung wesentlich qualifizierter und nachvollziehbar macht.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erwähnen, dass das EMG alleinstehend keine hundertprozentige Aussagekraft in der Analytik besitzt, es dient allerdings als ergänzendes Mittel zur Verbesserung meiner Befundun gund Therapie-Intervention. Betrachtet man beispielsweise ein Röntgenbild ohne es in eine klinische Untersuchung einzubinden, könnte man dazu neigen, der dargestellten Kniearthrose die Ursache der Knieschmerzen zuzuschreiben. Dass dieses Symptom jedoch von einer anderen Struktur oder einer gewissen Segmenthöhe abhängt, kann ich erst beurteilen, wenn ich klinisch untersucht habe. Dies muss die Basis aller Analyseverfahren sein. Erst, wenn ich dann im EMG signifikante Dysbalancen [5] feststelle, plane ich meine Therapie und mein Training so, dass ich im Wiederbefund als erstes eine Symptomverbesserung mit zweitens einem angepassten EMG-Wert habe. Das hierfür nötige Training unterstütze ich zu jederzeit mithilfe des EMG Biofeedbacks. Es ermöglicht dem Sportler, seine Muskulatur bewusster anzusteuern und seine Individualität kennenzulernen. Der Trainer bekommt zudem ein visuelles Feedback, um im Falle einer Fehlsteuerung korrigierend eingreifen zu können. Somit werden Kompensationen aufgedeckt, die bisher kaum mit dem geübten Auge festgestellt werden konnten.
Fazit
Es ist Zeit, dass das EMG vermehrt seinen Weg aus dem Labor auf die Trainings -und Therapiefläche findet. Der Spitzensport sollte Vorreiter in einer Entwicklung sein, bei der eine neue Generation sensorgestützter Therapeuten in der Lage ist, biomechanische Daten für die Optimierung der Therapie und des Trainings zu generieren und nutzbar zu machen. Mit MYOact betreue ich Profi -und Breitensportler sowie den „Alltagspatienten“, um mit Hilfe des EMGs, eine optimale neuromuskuläre Ansteuerung anzuleiten.
Literatur
[1] VBG Report 2017
[2] Mosetter, Kurt / Ellermann, Andree: Moderne Fußballmedizin. In: sportärztezeitung 02/17, S.4-9
[3] Langer, Werner / Hebgen, Eric: Lehrbuch Osteopathie 2. Auflage 2017, S. 55 ff.
[4] Müller-Wohlfahrt, Hans-Wilhelm/Ueblacker, Peter/Hänsel, Lutz: Muskelverletzung im Sport, 2. Auflage 2014, S. 61
[5] Konrad, Peter: EMG Fibel: Version 1.1 Januar 2011 (https://www.velamed.com/wp-content/uploads/2017/08/EMG-FIBEL-V1.1.pdf), S. 5, S. 37
Autoren
hat Medientechnologien an der Hochschule Rhein-Main studiert, bevor er sich entschlossen hat, Physiotherapeut zu werden. Nach seinem Examen hat er sich direkt neben der Manuellen Therapie auf die Anwendung des EMG im klinischen Kontext spezialisiert. Seit über sechs Jahren implementiert er es in den Praxisalltag mit über 10.000 Messungen Erfahrung. Mit der Gründung von MYOact hat er sich u. a. auf den Leistungssport fokussiert und arbeitet mit Mannschaften aus der ersten Bundesliga und der Premier League zusammen, widmet sich aber auch der Analyse von Breitensportlern und dem „Alltagspatienten“. Außerdem ist er wiss. Beirat der sportärztezeitung.