Autoren: Prof. Dr. Wolgang Potthast, Dr. Igor Komnik, Ingo Rembitzki, Prof. Dr. Dr. Thomas Stein, Dr. Josef Viellehner
Problemdarstellung: Das vorgestellte Fallbeispiel behandelt eine zum Untersuchungszeitpunkt 22-jährige Tänzerin, die sich nach dem Befund eines intraspinalen extraduralen Abszesses in Höhe des zehnten bis zwölften Brustwirbels einhergehend mit extremen Schmerzen in den
unteren Extremitäten, einer Dekompressionsoperation unterzog.
Die Operation lieferte keine nennenswerte Besserung des Zustands und die anschließende postoperativen Diagnose einer inkompletten Paraplegie (L1 ASIA). Heute kann die Patientin mit großem Aufwand eigenständig gehen. Qualitativ fällt hierbei ein insgesamt sehr instabiles, Gangbild auf mit relativ häufigen (ca. 50 % der Schritte) Cross-Over-Schritten vornehmlich mit dem linken Fuß, der auf Höhe des rechten Fußes oder sogar rechts daneben aufsetzt. Dies führt zu geringer Spurbreite und dadurch weiter reduzierter Gangstabilität. Ausgleichende ausladende Armbewegungen mit großer Bewegungsamplitude zur Aufrechterhaltung der dynamischen Stabilität sind die Folge. Weiterhin ist eine starke Beckenrotation auffällig. Zusätzlich erscheint dieses Bewegungsmuster sehr energieaufwändig und wenig effizient.
Konservativer Ansatz zur Verbesserung der Gangstabilität und Laufharmonie
Zur passiven Unterstützung durch Erhöhung der Beinsteifigkeit kommt eine individuelle Kompressionshose mit Redressionszügeln (iSR) (RehTape® Compression Wear) mit hoher Kompressionswirkung vom Becken herab bis über den gesamten Ober- und Unterschenkelbereich zum Einsatz. Zuggurtende elastische Bandelemente („Muskelzügel“, Redressionszügel), die an wohldefinierten Zielbereichen auf das Gewebe der Kompressionshose aufgebracht sind und in physiologischer Richtung über Knie- und Hüftgelenke ziehen, sollen agonistisch zu Hüftrotatoren und -flexoren sowie Knieextensoren wirken. Das zugrunde liegende RehTape® Konzept des Clinical Excellence Circle e.V. beruht auf dem Prinzip, dass die stark komprimierende Wirkung auf die Weichteilgewebe wie Haut, subkutanes Fettgewebe, Muskulatur etc. durch die Volumenreduktion einen Anstieg des Drucks in den Gewebestrukturen bewirkt. Da in idealen Flüssigkeiten der hydrostatische Druck überall gleich hoch ist, werden sich in diesen stark wasserhaltigen Strukturen Druck und Druckanstieg näherungsweise homogen verteilen. Dies bewirkt dann durch die gesamte interne Druckerhöhung eine Zunahme der Beinsteifigkeit gegenüber äußeren Kräften bzw. Störungen. Die semielastischen, individuell eingesetzten Zuggurtungen unterschiedlicher Elastizität (Redressionszügel) sollen unterstützend die Bewegungskontrolle verbessern (Abb. 1).
Abb. 1 Schematische Darstellung der Kompressionswirkung durch die Kompressionshose Softorthese.
Der statische Druck verteilt sich weitgehend homogen und führt zu einer insgesamt erhöhten Beinsteifigkeit.
Methodik
Im Bewegungsanalyselabor des Instituts für Biomechanik und Orthopädie der Deutschen Sporthochschule Köln wurden unter verschiedenen Bedingungen komplexe dreidimensionale Bewegungsanalysen mit Bestimmung der Bodenreaktionskräfte bei Gangexperimenten durchgeführt. Die experimentelle Intervention bestand in der Applikation der im Vergleich zum Gehen mit einer kurzen Sporthose ohne jegliche unterstützende Wirkung (Abb. 2). Die Gangversuche erfolgen bei selbstgewählter nicht vorgegebener Geschwindigkeit, ohne Gehstützen oder weitere Hilfsmittel und mit jeweils identischem Schuhwerk. Ein Satz von 52 retroreflektierende Marker wurden an ausgewählten anatomischen Referenzpunkten mit hautfreundlichem doppelseitigem Klebeband aufgebracht. Deren Bewegungen wurden mit 18 hochauflösenden Infrarot-Highspeed-Kameras eines Motion Capture Systems (Qualisys) hochpräzise erfasst. Ein digitales Menschmodell (OpenSim) mit vierzehn Segmenten (Kopf, Rumpf, je zweimal: Fuß, Hand, Unter- und Oberschenkel, Unter- und Oberarm) erlaubt es nun, die Segment- und Gelenkbewegungen bzw. die Gang-Kinematik in den unterschiedlichen Bedingungen zu kalkulieren. Zur Untersuchung der Wirkung der Kompressionshose wurden zunächst die Gangbilder mit iSR und mit kurzer Sporthose verglichen. Quantitativ dienten die Raum-Zeit-Parameter Schrittlänge, Spurbreite und Schrittfrequenz sowie die Ganggeschwindigkeit, die medio-laterale Exkursion des Beckens und der Abstand des Körperschwerpunts zum Fußaufsatzpunkt in Bewegungsrichtung zur Beurteilung der Effekte durch die iSR und zur Analyse der Gangstabilität.
Ergebnisse
Qualitativ ließ sich unter der Verwendung der iSR ein deutlich stabileres, wiederholbareres und harmonischeres Gangbild erkennen. Die Cross-Over-Schritte mit einhergehenden Instabilitäten waren nicht mehr zu erkennen und wurden eliminiert. Entsprechend waren die ausgleichenden Armbewegungen sowie die Oberkörperbewegungen deutlich reduziert. Insgesamt wirkte der Bewegungsrhythmus gleichmäßiger, die Gangbewegung weniger unterbrochen und sequenziell und dadurch stabiler. Die Ganggeschwindigkeit blieb unter den zwei Bedingungen (ohne Unterstützung: 0,44 m/s ± 0,01; iSR: 0,43 m/s ± 0,06) unverändert. Das oben qualitativ als stabiler beschriebene Gangbild lässt sich auch quantitativ zweifelsfrei nachweisen: Die Spurbreite war unter Verwendung der iSR um etwa 5 % (24,2 cm ± 2,7 vs. 25,5 cm ± 1,4) erhöht, was bedeutet, dass die seitliche Unterstützungsfläche vergrößert und damit die dynamische Stabilität verbessert ist. Gleichzeitig zeigt sich eine um ca. 10 % reduzierte Lateralbewegung des Beckens (14,2 cm ± 2,3 vs. 12,4 cm ± 1,9). Dieses deutlich geringere Rechts-Links-Schwanken erhöht zusätzlich neben der erhöhten Spurbreite die dynamische Stabilität (Abb. 3). Auch die Variabili-tätskoeffizienten dieser zwei Parameter sind unter Verwendung der iSR reduziert, d. h. die Bewegung ist wiederholbarer, was sich vor allem bei der Spurbreite niederschlägt (Variabilitätskoeffizient Spurbreite: 11,2 % vs. 5,5 %; Beckenbewegung: 16,2 % vs. 15,3 %). Der horizontale Abstand des Körperschwerpunkts (KSP) zum Fußaufsatzpunkt in Bewegungsrichtung, ein Surrogatindikator für eine Körperrücklage zum Zeitpunkt des Fußaufsatzes, blieb von den unterschiedlichen experimentellen Bedingungen unbeeinflusst (27,2 cm ± 0,5 vs. 27,8 cm ± 1,7). Bei konstanter Ganggeschwindigkeit bedeutet dies, dass sich die dynamische Stabilität in Gangrichtung nicht beeinflusst zeigt (Abb. 4).
Fazit
Die Ergebnisse des weitaus harmonischeren Gangbilds mit einhergehend objektiv verbesserten Stabilitätsparametern zeigen das Potenzial der vorgestellten Kompressionstechnologie gepaart mit den „Muskelzügeln“ simulierenden Bandapplikationen. Offenbar bewirkt die Druckerhöhung sowie die passiven Dehnungs-Verkürzungs-Zyklen der Bandstrukturen des RehTape® Compression Wear und gegebenenfalls auch die Dehnungs-Verkürzungs-Zyklen der Textilstrukturen der Hose selbst, wie angezielt eine zumindest partielle Erhöhung der Beinsteifigkeit. Weitgehend statisch bzw. passiv werden so merklich fehlende Kraftpotenziale im Wesentlichen zum Tragen des Körpergewichts zu geringen Anteilen aber offenbar wirksam teilweise ausgeglichen. Die Bewegungskoordination und Bewegungsharmonie erscheint deutlich verbessert, vermutlich dadurch, dass durch die Gewebeunterstützung eine segmentale Führung ermöglicht wird und eventuell auftretende externe Störungen wie z. B. weniger genauer Fußaufsatz, Bodenunebenheiten etc. weniger auffällig ins Gewicht fallen. Die lässt vermuten, dass dies sowohl bei medizinischen Indikationen als auch im Breiten- und Leistungssport und insbesondere im Para-Sport ein unterstützender Ansatz zur Bewegungsoptimierung sein kann.
Autoren
ist Sportwissenschaftler und leitet am Institut für Biomechanik und Orthopädie der DSHS Köln die AG für Technologische und Klinische Biomechanik. Wesentlicher Fokus ist die Erforschung des Zusammenspiels von Bewegungsapparat und Technologie in Sport, Kliniken und am Arbeitsplatz.
promovierte jeweils in seinen Fachbereichen Humanmedizin und Sportwissenschaften nach dem Studium in Göttingen und Hamburg. Nach klinisch wissenschaftlichen Auslandsaufenthalten an der University of Pennsylvania und der University of Pittsburgh war er als leitender Oberarzt der Abteilung für Sportorthopädie der BG Unfallklinik Frankfurt am Main tätig, zudem Hochschuldozent in den Fachbereichen Humanmedizin und Sportwissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seit 2020 leitet er das SPORTHOLOGICUM Frankfurt, Zentrum für Sport- & Gelenkverletzungen. Mit dem klinisch wissenschaftlichen Schwerpunkt im Bereich von Bandverletzungen des Kniegelenks ist er Mitglied des Ligament-Komitees der Deutschen Kniegesellschaft (DKG) und der Gesellschaft für Arthroskopie und Gelenkchirurgie (AGA). Mitglied CEC (Clinical Excellence Circle). Außerdem ist Prof. Dr. Dr. Stein wiss. Beirat der sportärztezeitung.