Der Reitsport gehört klassischer Weise nicht zu den ersten Sportarten, die in der Sportmedizin viel thematisiert oder wissenschaftlich stark vertreten ist. Das liegt vermutlich primär schon daran, dass er als Sportart, verglichen mit Triathlon oder Fußball, oftmals nicht wirklich anerkannt wird: „Da macht doch das Pferd alles“, „der Reiter sitzt ja nur oben drauf“, „das ist nicht anstrengend“, sind alles Aussagen, die Reiter häufig zu hören bekommen. Dabei ist Reiten in vielerlei Hinsicht eine einzigartige Sportart.
- Der Sportpartner ist kein Mensch, es erfordert sowohl physische als auch mentale Fähigkeiten, mit dem Partner Pferd eine funktionierende Kommunikation aufzubauen.
- Genauso wie in den meisten anderen Sportarten, benötigt man zur Ausübung des Reitsports Fähigkeiten wie Kraft, Koordination, Balance und Ausdauer.
- Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Disziplinen innerhalb des Reitsports wie bspw. Dressur-, Spring-, Vielseitigkeits- und Westernreiten, die jeweils ihre eigenen spezifischen Anforderungen und Regeln haben.
- Er gehört mit zu den ältesten Sportarten, denn schon in der Antike wurde das Pferd in sportlichen Wettkämpfen eingesetzt.
- Er ist aus deutscher Sicht eine der erfolgreichsten Sportarten bei olympischen Spielen, bei denen nur im Reitsport keine Geschlechtertrennung in der Bewertung erfolgt.
- Reiten wird im Rahmen der Hippotherapie schwerpunktmäßig bei neurologisch und psychologischen Erkrankungen als anerkannte Therapiemethode erfolgreich eingesetzt.
Der Reitsport erfreut sich in Deutschland großer Begeisterung. Laut einer Studie des Marktforschungsunternehmens IPSOS aus dem Jahr 2019 gaben ca. 11,2 Mio. Befragte Interesse am Reitsport an. 2,3 Mio. bezeichneten sich als Reiter, wobei über 70 % davon weiblich sind. Im organisierten Sport rangiert der Reitsport beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) auf Platz 9 mit > 664.000 Mitgliedern in > 7.000 Reitvereinen. Die Deutsche Reiterliche Vereinigung, der nationale Dachverband des Pferdesports, ist die weltweit größte Pferdesport-Vereinigung. Auch aus wirtschaftlicher Sicht ist der Pferdesport beachtlich, so beläuft sich der Umsatz der deutschen Pferdewirtschaft auf ca. 6,7 Mrd € (Pferdehaltung, Einzelhandel, Dienstleistungen) [1]. Aus sportmedizinischer Sicht gibt es zwei relevante Aspekte im Bereich des Reitsports: Zum einen den sportmotorischen Anspruch und daraus resultierende Überlastungsbeschwerden und den traumatologischen Bereich.
Sporttraumatologische Aspekte
Sporttraumatologisch kämpft der Reitsport immer wieder mit dem Ruf als „eine der gefährlichsten Sportarten“. Dies muss differenziert betrachtet werden. Berücksichtigt man die Anzahl der Stunden, während denen die verschiedenen Sportarten ausgeübt werden, so finden sich z. B. im Fußball oder Handball höhere Verletzungsinzidenzraten als im Reitsport [2]. Statistisch gesehen verletzt sich ein Reiter einmal pro 1.000 Pferdesportstunden [3]. Nach Angaben der Gesellschaft für orthopädisch-traumatologische Sportmedizin (GOTS) e.V. gibt es jedes Jahr bei uns rund 40.000 Reitunfälle, die ärztlich behandelt werden müssen. Die Inzidenz von tödlichen Reitunfällen liegt bei 1 von 10.000 Reiter/Jahr, wobei hier die sogenannten Rotationsstürze, bei denen das Pferd mit stürzt und auf den Reiter fällt, einen häufiger Unfallmechanismus darstellt. Der Einzigartigkeitsaspekt der „Mensch-Pferd-Dyade“ spielt beim Verletzungsrisiko eine entscheidende Rolle. Ein Pferd kann eine Größe von bis zu zwei Meter erreichen, womit der Kopf des Reiters sich bis zu drei Meter über dem Erdboden befinden kann. Das Gewicht eines ausgewachsenen Pferdes kann je nach Rasse bis zu 1.000 kg betragen und es kann auf kurze Distanzen bis zu 70 km/h schnell werden. Es ist ein instinktgesteuertes Lebewesen mit ausgeprägten Fluchtverhalten, dem sich der Reiter nonverbal verständlich machen muss. Dies alles birgt ein gewisses Gefahrenpotenzial [4].
Die Dunkelziffer von Pferdesportunfällen ist allerdings sehr hoch, da nicht alle Unfälle registriert werden können, erst recht nicht, wenn keine Vorstellung in einem Krankenhaus erfolgt. Die FEI- die internationale Vereinigung des Reitsportes- hat bei Wettkämpfen inzwischen eine verpflichtende Meldung von Reitunfällen auf den internationalen Veranstaltungen eingeführt. Zahlen aus den Staaten beschreiben gemäß einer Erhebung des National Safety Council den Pferdesport in den USA mit knapp 49.000 Verletzungen im Jahre 2017 auf Rang 15 der gefährlichsten Sportarten [5]. Bei Kindern und Jugendlichen wir der Reitsport unter die ersten fünf der gefährlichsten Sportarten eingruppiert [6]. Differenziert werden müssen Verletzungen, die zum einen durch den Umgang mit dem Pferd und zum anderen durch einen Sturz vom Pferd verursacht werden. Auch die jeweilige Reitsportdisziplin spielt eine Rolle. Bezüglich der Verletzungsmuster gibt es eine gute Aufarbeitung von Patrick Dißmann, der jedoch auf die deutliche Inhomogenität der Studienlage hinweist (Abb. 1 + 2) [7].
Oftmals sind die Extremitäten von Verletzungen betroffen, die häufig befürchtete oder durch berühmte Unfälle wie der von Christopher Reese gern zitierten Wirbelsäulenverletzung mit Querschnittfolge ist somit gar nicht überpräsent. Die Inzidenz von Kopfverletzungen liegt zwischen 10 – 40 % aller Reitsportverletzungen und diese können nicht selten schwere Folgen haben. Daher ist das Tragen der Sicherheitsausrüstung wie eine guten Reitkappe als Unfallprävention unabdingbar. Rückenprotektoren und Airbagwesten sollen den Torso und seine Organe sowie bedingt auch die Wirbelsäule schützen. In unsere Sprechstunde für Pferdesportler am UKE Athleticum in Hamburg stellen sich immer wieder Reiter vor, die ihren Unfall bagatellisieren, dann doch länger Beschwerden haben und sich schließlich durch eine Röntgen- oder MRT Diagnostik doch eine Wirbelkörper- oder Beckenringfraktur herausstellt. Von daher muss man sich als behandelnder Arzt der kinematischen Energie eines Pferdes und die damit potenziell einhergehende Hochrasanz des Traumas bewusst sein.
Sportmotorische Aspekte
Viel häufiger als die Vorstellung wegen traumatische Folgebeschwerden suchen Reiter aufgrund von Überlastungs- und Performanceproblemen unsere Spezialsprechstunde auf. Dabei muss die Ursache nicht immer direkt im Reitsport selbst liegen, um aber zu verstehen, was beim Reiten zu Problemen führen kann, muss man verstehen, welchen sportmotorischen Anspruch Reiten erfordert. Reiten ist eine aerobe Ausdauersportart. Die große Herausforderung liegt in der Synchronisation zweier unterschiedlicher Bewegungsabläufe im dreidimensionalen Sinne. Wenn ein Pferd beispielsweise trabt, dann bewegt es sich nicht nur nach vorne, sondern auch nach oben und unten und auch gefühlt ein Stück nach rechts und links, was aus dem Bewegungsablauf der vier Pferdebeine im Zweitakt des Trabes resultiert. Der Reiter muss also die Fähigkeit besitzen, zum einen die Bewegung des Pferdes mit seinem Körper mitzugehen ohne selbst die Stabilität zu verlieren und trotzdem den Stoßimpact auf die Wirbelsäule kompensieren. Er darf dabei aber auch nicht das Pferd im Bewegungsablauf stören oder behindern. Des Weiteren muss er über seine Gewichts-, Schenkel und Zügelhilfen dem Pferd vermitteln, ob es schneller, langsamer, nach rechts, links, geradeaus, schräg gehen oder über einen Sprung springen soll. Je nach der Athletik und dem Ausbildungsgrad des Pferdes und des Reiters gibt es hier gravierende Unterschiede in der erforderlichen Interaktion zwischen beiden [8]. Reiten erfordert also hohe Ansprüche an die koordinative und kognitive Informationsverarbeitung und Bewegungsmotorik. Die erfolgreiche Ausführung koordinativer Fähigkeiten und Aufrechterhaltung der Bewegungssteuerung benötigt Kondition. Kondition ist bekanntlich die ideale, sprich -sportartspezifische- Abstimmung der fünf sportmotorischen Grundfähigkeiten [9].
Im Reitsport ist die Performance somit abhängig von:
- Koordination (Gleichgewicht, Reaktionsfähigkeit) (ca. 45 %)
- Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit (25 %)
- Beweglichkeit (30 %)
Koordination und Beweglichkeit
Eine interessante Studie aus Belgrad hat mittels Oberflächen EMG die Aktivität der Schlüsselmuskeln des Reiters von Anfängern mit der von professionellen Reitern in allen drei Gangarten Schritt, Trab und Galopp verglichen und dabei festgestellt, dass Profis einen höheren Gesamtmuskeltonus haben und ihre Kernmuskeln stärker nutzen als Reitanfänger. Darüber hinaus haben Anfänger nicht die Fähigkeit, Muskeln kontralateral und unabhängig voneinander mit unterschiedlichen Größen zu aktivieren, wodurch sie sich weniger an die Bewegungen des Pferdes anpassen können und sie haben eine verminderte Fähigkeit, ihre Beckenbewegung auf die des Pferdes ein- und auszurichten (Abb. 3 + 4) [10].
Die Autoren empfahlen ein zusätzliches Training des Reiters am Boden, mit dem Fokus auf Muskelaufbauübungen für den ganzen Körper unter besonderer Berücksichtigung der Kernstabilität in Kombination mit bilaterale Dissoziationsübungen der oberen und unteren Extremitäten sowie Beckenmobilisationsübungen. Denn neben der Koordination ist die Beweglichkeit vor allem des Beckens entscheiden, da das Becken als Schlüsselregion der Wahrnehmung und Impulsgebung beim Reiten gilt. Es stellt durch die Positionierung auf dem Pferderücken die ultimative Kontaktstelle des Reiters mit dem Pferd dar. Untersuchungen von Aegerter et al. zeigten jedoch, dass es wie so oft um die goldene Mitte und das richtige Maß geht: Eine Hypermobilität ist genauso ungünstig wie eine Hypomobilität [11].
Kraft
Kraft benötigt der Reiter zur Aufrechterhaltung des korrekten Sitzes und auch zur Hilfengebung, wobei gerade in der Dressurdisziplin ein weniger ein mehr ist und es sogar das Trainingsziel ist, das Pferd möglichst mit wenig Impulsen zur gewünschten Performance zu bringen. Viel Kraft bringt dem Reiter nichts, wenn er sie nicht koordiniert und gezielt einsetzen kann. Zu wenig Kraft führt neben schlechter Einwirkfähigkeit zu einem erhöhten Unfallrisiko. Der Kraftzuwachs durch den Reitsport ist gerade beim Freizeit- oder Amateurreiter begrenzt. Es gilt also, wie in vielen anderen Sportarten auch, ein zusätzliches Kraft- und Stabilisierungstraining zu absolvieren, was den Reitsport und seine jeweilige Disziplin ergänzt bzw. ausgleicht [13, 14]. Die Sprechstunde für Pferdesportler am Athleticum bietet hierfür gezielte „Athletisch im Sattel“-Kurse von Reitern für Reiter an, da sich Reiter unter ihres gleichen sehr gut motivieren lassen.
Ausdauer
Die Ausdauerfähigkeit ist von der Gangart, Disziplin und dem Leistungsniveau abhängig gefordert. Die VO2 max variiert beim Schrittreiten von 20 – 60 ml / kg / KG beim Galoppreiten im Springparcours, wobei in Belastungsspitzen mit aneroben Anteilen kein Laktatanstieg detektiert werden konnte, was auf eine Sympathikotonusreaktion in der Wettkampfsituation interpretiert wurde [12].
Fazit
Die unterschiedliche Anforderung an sportmotorische Fähigkeiten und der vor allem der hohe Anspruch an die intermuskuläre Koordination lässt vermuten, dass muskuläre Dysbalance schnell zu Beschwerden und Überlastungsbeschwerden beim Reiter führen. So stellen sich in der Sprechstunde für Pferdesportler viele Reiter mit Rücken- und Adduktorenbeschwerden oder Sitzperformanceproblemen vor, die häufig ihre Ursache in fehlender muskulärer Balance des Reiterkörpers haben. Nach einer Videoanalyse und ausgiebiger körperlichen Untersuchung erfolgt in unserem Reiterteam ein auf die vorliegenden Schwächen abgestimmte Physio- und Bewegungstherapie mit dem Ziel, ein Eigenübungsprogramm zu erlernen. Hohe Akzeptanz erfährt dabei die Tatsache, dass die Physio- und Athletiktrainer selbst im Reitsport aktiv sind. Das Verständnis für das Gefühl auf dem Pferd ist wichtig, abgesehen von der ganz eigenen Sprache und dem Wissen, dass das Pferd kein Tennisschläger, sondern ein lebender reagierender Teampartner ist. Wichtig ist auch die Sensibilisierung auf Reduktion der Unfallgefahr durch Tragen der gängigen Schutzausrüstung und Verbesserung der allgemeinen Fitness. Unter Beachtung all dieser Aspekte liegt das größte Glück der Erde eben doch auf dem Rücken der Pferde.
Literatur
[1] Zahlen, Daten, Fakten. Deutsche Reiterliche Vereinigung e.V. FN Aktuell, 4/2017
[2] Sammelstelle für die Statistik der Unfallversicherung UVG (SSUV); Sport Schweiz 2020; Schweizer Sportobservatorium • Indikatorensammlung • Oktober 2023
[3] Paix PR. Rider injury rates and emergency medical services at equestrian events. British Journal of Sports Medicine 33 (1999), pp. 44-48
[4] Fleischer LE, Faschingbauer M, Seide K, Kienast B. Verletzungsmuster bei Reitunfällen. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 67 (2016), pp. 270-275
[5] Mutore K, Lim J, Fofana D, Torres-Reveron A, Skubic JJ. Hearing hoofbeats? Think head and neck trauma: a 10-year NTDB analysis of equestrian-related trauma in the USA. Trauma Surg Acute Care Open. 2021 Sep 14;6(1)
[6] Holtschmit JH. Sportorthopädisch-traumatologische Aspekte des Pferdesports bei Kindern und Jugendlichen. Sports Orthopaedics and Traumatology.2020 Volume 36, Issue 4:342-346
[7] Dißmann PD. Verletzungsmuster im Pferdesport, Sports Orthopaedics and Traumatology, Volume 36, Issue 4,2020,Pages 335-341
[8[ Meyners E. Wie bewegt sich der Reiter. Bewegungsabläufe verstehen, Sitz und Hilfengebung verbessern. Kosmos Verlag
[9] Sevenich S., Fercher Ch. Leistungsdiagnostik im Reitsport – eine Bestimmung des Status quo. November 2020Sports Orthopaedics and Traumatology 36(4)
[10] Elmeua González M, Šarabon N. Muscle modes of the equestrian rider at walk, rising trot and canter. PLoS One. 2020 Aug 18;15(8)
[11] Aegerter, A.M., Latif, S.N., Weishaupt, M.A., Gubler, B.E., Rast, F.M., Klose, A., Pauli, C.A., Meichtry, A., & Bauer, C.M. (2020). An investigation into the association of the physical fitness of equestrians and their riding performance: a cross-sectional study. Comparative Exercise Physiology, 16(2), 137-145.
[12] Douglas JL, Price M , Peters DM. A systematic review of physical fitness, physiological demands and biomechanical performance in equestrian athletes. Comparative Exercise Physiology.2012 May: 8 (1)- Pages: 53 – 62
[13] Lee JT , Soboleswki EJ , Story CE, Shields EW. The feasibility of an 8-week, home-based isometric strength training program for improving dressage test performance in equestrian athletes. Comparative Exercise Physiology: 2015 Aug.11 (4)- Pages: 223 – 230
[14] Meyers MC. Effect of equitation training on health and physical fitness of college females. Eur J Appl Physiol. 2006 Sep;98(2):177-84
Autoren
ist Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie mit Zusatzbezeichnung Sportmedizin. Sie ist stellv. Leiterin am UKE Athleticum Hamburg. Außerdem ist Dr. Schmidt Verbandsärztin der Reit- & Fahrvereine Hamburg e.V. und bietet die bundesweit einzige Spezialsprechstunde für Pferdesportler an.