Unter Rehabilitation stellen sich die meisten Menschen den therapeutischen Aufenthalt in einer Klinik in schöner ländlicher Umgebung vor. Zum Beispiel nach Implantation einer Hüftprothese, um wieder besser gehen zu üben, zu kräftigen und die Schmerzen zu behandeln. Dies ist auch gut und richtig. Aber im Fachgebiet steckt noch viel mehr.
Der Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin ist einer der wenigen Generalisten in der modernen Medizin. Er wird in allen großen Fachbereichen ausgebildet: von Herz/Lunge über Neurologie bis Orthopädie. Das heißt, neben der Allgemeinmedizin ist die Rehabilitationsmedizin einer der wenigen Bereiche, bei der auch übergreifend analysiert und therapiert wird. Für eine gute Rehabilitation muss der Arzt nach einem Schlaganfall wissen, was dabei passiert ist, genauso wie er Herzinfarkt, Arthrose, Stoffwechselerkrankungen und anderes jeweils in den Grundzügen verstanden haben muss, um eine sinnvolle Nachbehandlung zu steuern. Die Primärdiagnostik verbleibt natürlich meist in den Spezialgebieten, aber gerade Zusammenhänge und Wechselwirkungen von Funktionsstörungen werden von Rehabilitationsmedizinern gut erkannt.
Physikalische Maßnahmen
Auch gehören die Kenntnisse von physikalischen Maßnahmen als Hauptbestandteil zum Fachgebiet und gerade dieser Bereich ist für Sportler ebenfalls sehr wichtig. Jeder kennt die Regenerationsmassage, aber nur wenige wissen z. B. um die heilsame Wirkung von CO2-Bädern zur Durchblutungsförderung. Viel altes Wissen, das in anderen Fachbereich wie der Orthopädie langsam unter modernen Techniken verschüttet wird, ist hier noch aktiv in den Köpfen und der Anwendung. Durch den Überdruss vieler Patienten gegenüber der Gerätemedizin, ist dieses Wissen aber umso wichtiger denn je. Eine Kernspintomografie macht mich nicht gesünder, eine gute Physiotherapie meist schon. Für Sportler ist die Abklärung mit Bildgebung oft sinnvoll, um die Belastbarkeit für Aufbautraining nach Verletzungen beurteilen zu können. Dabei darf es jedoch nicht nur um OP-Abklärungen gehen. Der klinische Befund muss im Zentrum bleiben und es dürfen nicht Bilder „behandelt“ werden.
Beispiel Muskelengpasssyndrome
Ein wichtiges Beispiel sind Muskelengpasssyndrome: oft werden Symptome nur nach Lokalbefunden am schmerzenden Ort beurteilt. Es unterbleibt häufig die Analyse möglicher Zusammenhänge. Wenn ein ambitionierter Rennradfahrer beispielweise beim Fahren taube Finger bekommt, wird meist ein Karpaltunnelsyndrom am Handgelenk verantwortlich gemacht. Teils ist dies auch durch die Knickung am Handgelenk funktionell erklärbar. In einer elektrophysiologischen Messung ist die Nervenleitgeschwindigkeit an der Hand gemessen oft herabgesetzt, dies scheint den Verdacht zu bestärken. Auch bei Schmerzen am Ellenbogen wird oft der klassische Tennis- oder Golferarm diagnostiziert und teilweise über Monate behandelt. Dabei sind von der Physiotherapie, über Stoßwelle bis hin zur Infiltration oder sogar Operation alle Mittel im Repertoire. Oft führt dies aber nicht zur gewünschten Linderung und damit zu weiteren Trainingspausen. Dann muss man sich als Behandler fragen, was alternative Ursache sein könnte. Falls an die Nervenbahnen gedacht wird, kommt schnell die Halswirbelsäule und ein möglicher Bandscheibenvorfall in die Diskussion und eine Kernspintomografie der HWS wird durchgeführt. Auch wenn sich hier Bandscheibenschäden zeigen, ist dies allerdings nur sehr selten für die Armsymptomatik verantwortlich. Des Rätsels Lösung ist meist viel einfacher als gedacht. Die Nerven, welche die HWS verlassen und den Plexus brachialis bilden, müssen zwischen zwei Skalenusmuskeln seitlich am Hals hindurch. Diese beiden Muskeln neigen zur Verkürzung und hohem Tonus, dadurch kommt es zu Kompression der Nerven mit entsprechender radikulärer Symptomatik. Diese geht von tauben Fingern, über Schmerzen der Hand oder Ellenbogen bis hin zu Beschwerden, die einem Impingementsyndrom der Schulter sehr ähneln. Eine differentialdiagnostische Untersuchung der Skaleni ist daher bei jedem dieser Beschwerdebilder unbedingt empfehlenswert und schnell ohne apparative Hilfe durch manuelle Drucktestung an den Skaleni dorsal des M. sternocleidomastoideus möglich. Auch spezielle Funktionstests sind dafür beschrieben. Als Studenten haben wir alle die verschiedenen Thoracic-outlet-Syndrome lernen müssen, von Halsrippe bis eben zur Muskelhypertrophie. Es lohnt sich, dieses Wissen heute mit den Beschwerden unserer Patienten abzugleichen. Das Pectoralis-minor-Syndrom ist aus meiner Sicht klinisch zwar seltener, aber ebenfalls mit ähnlichen Symptomen gezeichnet.
Es gibt jedoch nicht nur am Hals solche Muskelprobleme. Wenn ein Leichtathlet Schmerzen im Oberschenkel dorsal hat und sein Training zunehmend zur Qual wird, liegt eine Muskelverletzung wie eine Distorsion nahe. Überlastung ist meist Ursache, mangelndes Aufwärmen vor oder mangelnde Dehnung nach der Belastung. Aber auch hier gibt es funktionelle Differentialdiagnosen zu bedenken. Der Ischiasnerv zieht von ventral nach dorsal durch das Foramen ischiadicum majus. Durch dieses zieht auch der Musculus piriformis und teilt es. Leider kann der „birnenförmige“ Bauch des Muskels den Ischiadicus am unteren Rand des Foramens einklemmen. Bei Verkürzung durch viel Training, aber auch durch langes monotones Sitzen kann es hier zu einer Nervenkompression kommen. Auch sind anatomische Variationen beschrieben und teils im MRT auch zu sehen, bei denen sich die Nervenwurzeln noch nicht zum Ischiadicus vereinigt haben und teils unter und teils durch den Piriformis hindurch verlaufen. Da fällt es nicht schwer, eine Reizung der entsprechenden Nervenbahnen durch den Muskel nachzuvollziehen. Dies kann auch Symptome wie bei einem lumbalen Bandscheibenvorfall erzeugen, Wadenkrämpfe oder Schmerzen wie bei einer Achillodynie. Also Beschwerdebilder, wie sie bei Sportlern oft vorkommen und noch öfter diagnostiziert werden. Auch hier gilt es, differentialdiagnostisch bei Beschwerden der unteren Extremität an ein mögliches Muskelengpasssyndrom zu denken und dies rasch zu prüfen. Dazu in Seitenlage mit der betroffenen Seite nach oben das betroffene Bein anwinkeln und ablegen, während das untere Bein gestreckt bleibt. Dadurch erzielen wir eine Vorspannung auf den M. piriformis und können ihn als hyperton tasten oder schmerzhafte Triggerpunkte auslösen, falls er betroffen sein sollte. Auch bei dieser Untersuchung gilt: geht schnell und kostet nichts (siehe Abb. 1 + 2). Entsprechende Dehnungsübungen für den Piriformis sind fast immer als Therapie ausreichend, eine Infiltration in den Muskel nur in seltenen Ausnahmefällen nötig.
Moderne Anatomieatlanten haben diesen beiden Engpaßsyndromen sogar eigene Darstellungen gewidmet, um die Zusammenhänge besser zu veranschaulichen. Im MRT sind Verdickungen der genannten Muskeln teilweise zu sehen, teils auch Reizungen der jeweiligen Nervenstrukturen oder ein Denervierungsödem in den zu innervierenden Muskeln. Die Diagnose ist aber eine klinische und durch einfach Handgriffe durchführbar. Teils lässt sich an den Skaleni oder dem Piriformis sogar eine entsprechende Ausstrahlung in die Extremität durch Druck am Muskel provozieren.
Manuelle Therapie und physikalische Anwenungen
Auch wenn Sportler z.T. ungern dehnen, um keine Muskelspannung zu verlieren und Dehnung manchmal sogar als „uncool“ gilt, empfehlen wir gerade nach sportlicher Belastung unbedingt, die betroffenen Muskeln gezielt zu dehnen, um einem muskulären Hypertonus mit entsprechenden Nebenwirkungen entgegen zu wirken. Beispiele für Dehnungsübungen für HWS und Becken finden sie auf der Klinikhomepage der Rehabilitationsmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover unter https://www.mh-hannover.de/reha-selbstuebungsprogramme.html
Sowohl die tastende Muskelprüfung mit den Fingern an sich selbst, als auch die Therapie durch Dehnung können Betroffene selbst durchführen und testhalber nach dem Training oder zu Hause ausprobieren. Deutliche Spannung soll bei den Dehnungsübungen am Muskel auftreten, Schmerz sollte aber vermieden werden, da es sonst durch algophobe Abwehrspannung der Muskulatur wieder zu gegenläufigen Effekten kommt. Sollten Patienten nicht mit eigenen Maßnahmen ausreichende Verbesserung erzielen, ist Physiotherapie und dabei speziell die Manuelle Therapie ein sehr hilfreiches Mittel, um diese Probleme zu behandeln. Dabei werden Triggerpunktbehandlung, Dehnung, Querfriktion und anderen Techniken angewendet, um den pathologisch hohen Muskeltonus zu normalisieren. Auch physikalische Anwendungen wie Warmpackungen oder „heiße Rolle“ können dies unterstützen. Hier schließt sich der Kreis, da auch diese Therapiemaßnahmen Kernkompetenz der Rehabilitationsmedizin sind. Weil im Rahmen von Budgetierungen eine Verordnung von Physiotherapie, Wärmeanwendungen, Krankengymnastik am Gerät oder Bewegungsbad problematisch für viele ärztliche Kollegen ist, wird dieser einfache und effiziente Weg, die Beschwerden zu lindern, oft vom System behindert. Röntgen, Kernspintomografie und auch große Maßnahmen wie Operationen werden teilweise ohne nähere Prüfung gezahlt, einfache und bewährte Heilmittel wie Krankengymnastik werden aber kontrolliert und limitiert. Das ist nicht zum Wohle unserer Patienten.
Fazit
Zusammenfassend kann man über die Rehabilitationsmedizin sagen, dass sie ein guter Partner für die Betreuung der Patienten (inklusive Sportlern) ist und teils moderne, teils aber auch viele altbewährte Kenntnisse vereint, die für eine gute Diagnostik und Therapie sinnvoll sind. Abgrenzungen zwischen den Fachgebieten gibt es genug, Überschneidungen auch. Lassen sie uns gemeinsam das Beste zum Wohle unserer Patienten daraus machen und unsere Synergie nutzen.
Autoren
studierte an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) Medizin und ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie sowie Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin. Er ist Leiter der Physikalischen und Rehabilitativen Medizin in der Klinik für Rehabilitations und Sportmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Darüber hinaus ist Dr. Sturm Sprecher der Kommission Digitalisierung der Deutschen Gesellschaft für Physikalische und
Rehabilitative Medizin (DGPRM). Er ist Sportmediziner, Arzt für Manuelle Medizin und für spezielle Schmerztherapie.