Unser Gesundheitssystem steht aktuell bei einer enormen Dynamik vor großen Herausforderungen. Eine zentrale Reformbaustelle in der Gesundheitspolitik ist die Umsetzung der Krankenhausreform mit dem Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG), ergänzt durch ein Krankenhausreform-Anpassungsgesetz (KHAG).
Diese Reform stellt die bisherige Krankenhausplanung völlig auf den Kopf, da sich diese nicht mehr nach der ärztlichen Weiterbildungsordnung richtet, sondern nach einer Systematik von aktuell 61 Leistungsgruppen. Für unser Fach Orthopädie und Unfallchirurgie existieren Leistungsgruppen für Primär- und Revisionsendoprothetik im Bereich Knie- und Hüftgelenk sowie eine Leistungsgruppe Spezielle Traumatologie und eine Leistungsgruppe Wirbelsäuleneingriffe, die wir mit der Neurochirurgie teilen. Große Bereiche des Leistungsgeschehens aus unserem Fach wie Tumororthopädie, Kinder- und Jugendorthopädie und -traumatologie, gelenkerhaltende Chirurgie und Traumatologie außerhalb der Speziellen Traumatologie sowie die Sporttraumatologie finden sich zusammen mit Inhalten anderer Fächer völlig undifferenziert in dem großen Sammelbecken der Leistungsgruppe „Allgemeine Chirurgie“. Die nicht-operative Therapie fand keine wesentliche Berücksichtigung. Eine im Weißbuch konservative Orthopädie und Unfallchirurgie (2017) geäußerte Forderung zum gesicherten Zugang zu nicht-operativen Leistungen auch im stationären Bereich hat unverändert Bestand und muss besonders deutlich vorgetragen werden. In diesem Bereich wurde durch die Aktivitäten der Arbeitsgemeinschaft nicht operativer orthopädischer manualmedizinischer Akutkliniken (ANOA) viel geleistet und erreicht. Dies sollte nicht verloren gehen.
Stärkung universitärer Ausbildung der konservativen Orthopädie und Unfallchirurgie
Lehrstühle im Bereich Orthopädie und Unfallchirurgie müssen das gesamte Spektrum einschließlich der nicht-operativen Verfahren in Lehre und Wissenschaft abbilden und vertreten. Mit einer Spezialisierung der Lehrstühle wird man unserem Fach sicherlich nicht gerecht werden. Es bleibt zu befürchten, dass sich dieser Trend zur Spezialisierung auf universitärem Niveau mit den Leistungsgruppen fortsetzen und verstärken wird. Das Weißbuch forderte die Stärkung der universitären Abbildung der konservativen Orthopädie und Unfallchirurgie. Die Fachgesellschaft wird weiterhin größten Wert darauflegen, dass in der ärztlichen Weiterbildung nicht nur die Durchführung operativer Eingriffe erlernt wird. Ärzte müssen den gesamten Prozess von Diagnostik und Differentialtherapie erlernen und beherrschen, damit sie nicht nur Handwerker zur Reparatur von pathomorphologischen Defekten werden. Nicht-operative Behandlungsverfahren sind zwingend zu vermitteln. Dies kann in Kliniken, Praxen und Rehabilitationseinrichtungen geschehen. Wir haben hochwertige Leitlinien beispielsweise für Spezifische Kreuzschmerzen, Indikationsstellung für Endoprothetik Knie- und Hüftgelenk oder eine S3-Leitlinie Gonarthrose erarbeitet. Diese belegen den großen Stellenwert nicht-operativer Behandlung. Selbstverständlich sind, wie im Weißbuch gefordert, konservative Maßnahmen vor der Indikationsstellung für operative Eingriffe leitliniengerecht einzusetzen. Der enorm große nicht-operative Bereich in unserem Fach muss auch als eine Alternative begriffen werden, die es ermöglicht, die berufliche Tätigkeit an sich ändernde Umstände im privaten Bereich anzupassen.
Weiterbildung kostet Geld
Mit den Auswirkungen der Gesundheitsreform ist eine umfassende volle Weiterbildung an nur einem Standort in Zukunft nahezu nicht mehr möglich. Der Druck auf eine zunehmende ambulante Erbringung operativer Leistung steigt enorm. Bereits 2026 sollen über eine Million stationäre Fälle in Hybrid-DRGs überführt werden. Ohne strukturierte Verbünde für eine intersektorale Weiterbildung wird ein sinnvoller Ablauf einer Weiterbildung nicht mehr möglich sein. Diese Verbünde müssen so gestaltet werden, dass den Kolleginnen und Kollegen arbeitsrechtlich und finanziell keine Nachteile entstehen. Sonst besteht die große Gefahr, dass Alternativen in anderen Gebieten oder Fächern gesucht werden. Weiterbildung kostet Geld. Diese Kosten sind bislang nicht hinreichend abgebildet. Nicht nur Operationen dauern länger, sondern Prozesse beanspruchen mehr Zeit und es bedarf der Assistenz oder Kontrolle, wo bei Fachärzten nur eine Person notwendig ist. Notfallambulanzen werden aktuell mit Patienten überflutet. Unsere Fachgesellschaften fordern die vordringliche Umsetzung der Notfallreform. Wir sehen hier auch schnelles finanzielles Einsparpotenzial. Die Probleme werden sich nur sektorenübergreifend unter Einbeziehung der Kliniken und des ambulanten Bereiches lösen lassen. Patienten aus Orthopädie und Unfallchirurgie machen ca. 40 % bis 50 % des Patientenanfalls in Notfallambulanzen aus. Diese Patienten bedürfen in der Mehrheit keiner operativen Therapie. Um den Zustrom zu den Ambulanzen zu regulieren, bedarf es einer standardisierten Ersteinschätzung, die bereits präklinisch steuernd funktionieren muss.
Menschen sind Lauftiere und keine Faultiere
Bislang ist unser System viel zu sehr an der Behandlung von Erkrankungen und Verletzungen des Bewegungssystems orientiert. Entsprechend einer aktuellen Verlautbarung in den Medien sitzen Menschen in Deutschland inzwischen 10 Stunden pro Tag. Unser Fach ist von den Konsequenzen dieser „modernen“ Lebensweise in besonderer Weise durch die durch Inaktivität hervorgerufenen Erkrankungen betroffen. Menschen sind Lauftiere und keine Faultiere. Das Weißbuch forderte die Prävention als eine Kernaufgabe, die auch wissenschaftlich bearbeitet werden muss. Nur durch Prävention verhindern wir, dass das System kollabiert. Der demographische Wandel bedingt eine deutliche Zunahme der zu erwartenden Patienten und die Ärzte gehen in großen Wellen in den Ruhestand.
Das Weißbuch Konservative Orthopädie und Unfallchirurgie stellt 10 Kernforderungen zu Zugang, Qualität, Vernetzung, Weiterbildung, Forschung, Prävention und Kooperation auf. Diese sind vor den enormen, zu erwartenden Veränderungen in unserem Gesundheitssystem unverändert hoch aktuell.
Autoren
ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie und seit 1996 Chefarzt der Abteilung für Orthopädie und Unfallchirurgie an der Fachklinik Herzogenaurach. Er ist stellv. Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) und Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC).
(Stand 2025)