Rückenschmerz hat fast jeder in irgendeiner Form bereits irgendwann einmal gehabt, egal ob mit oder ohne Ausstrahlung in die Extremitäten. Gelegentlich gesellen sich Kribbeln bis hin zu Taubheiten oder sogar motorischen Schwächen hinzu. Oft reduziert sich die mögliche Gehstrecke immer mehr und bereits das Aufstehen wird regelrecht zur Qual. Selbst langes Sitzen oder Stehen werden zunehmend unangenehmer. Auffallend ist, dass immer jüngere Patienten mit diesen Beschwerden bei uns Ärzten vorstellig werden.
Das geniale System der menschlichen Wirbelsäule ist sehr anpassungsfähig und kann degenerative Veränderungen bis ins hohe Alter erstaunlich gut kompensieren. Deshalb kommen Rückenschmerzen zwar meist überraschend, folgen aber doch einer inneren Logik: Genetik, Traumata, Fehlstellungen, Schon- und / oder Fehlhaltungen, aber auch Stress (z. B. beruflich oder privat) oder bereits rezidivierende Schmerzsyndrome sind die intensivsten Trigger.
Schmerzmomente & Schmerzverarbeitung
Wir sammeln alle ein Leben lang Schmerzmomente, bis unser Körper diese nicht länger kompensieren kann. Es entsteht ein virtueller Pool mit Schmerz gefüllt über Wochen, Monate oder Jahre und irgendwann bringt dann ein kleiner Schmerz-Tropfen den Pool zum Überlaufen. Meistens durch eine banale Bewegung. Jetzt beginnt bereits die entscheidende Phase der Therapie. Man muss abschöpfen, den individuellen Schmerz-Pool leeren – und zwar nachhaltig! Intensive und regelmäßige Anwendungen, Eigenübungen, Injektionen und Interventionen schöpfen Schmerz ab und verhindern das erneute Überlaufen. Die Schmerzverarbeitung ist ein komplexer und subjektiver Prozess, wie die neuesten Erkenntnisse der Schmerzforschung belegen. Deshalb ist in manchen Fällen ein rein mechanischer Heilungsansatz nicht ausreichend. Es wird nämlich vergessen, dass bereits drei Monate Schmerzen zur Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses führen und dieses logischerweise nicht „wegoperiert“ werden kann. Gerade der Rückenschmerz (HWS / BWS / LWS) ist multifaktoriell. Ein multifaktoriell bedingtes Problem sollte deshalb auch ein multimodales Therapieprogramm zur Folge haben.
Multifaktorieller Rückenschmerz erfordert multimodales Therapieprogramm
Ein wesentliches Tool sind sanfte Therapieformen, wie Physiotherapie, Manual-Therapie, TCM, Medizinische Kräftigungstherapie (allerdings nicht im akuten Schmerz!), Einlagenversorgung aufgrund einer 4-dimensionalen Statik-Vermessung von C1 (dem ersten Wirbel der Halswirbelsäule) bis inklusive Fuß in Verbindung mit einer digitalen Ganganalyse. Schmerzen führen zu einer muskulären Verspannung. Die Muskulatur ist an der schmerzenden Stelle zu schwach und neigt dazu, einen zu hohen Tonus aufzubauen, um die Belastungen, die auf den Rücken einwirken, abzufangen. Denn die betroffenen Muskeln versuchen, die einseitige Belastung mit einem höheren Spannungsgrad auszugleichen. Nimmt jedoch die äußere Spannung zu, schaffen sie das irgendwann nicht mehr. Erschwerend kommt hinzu, dass es Muskelgruppen gibt, die dazu neigen, viel Spannung aufzubauen. Dazu zählen besonders Problemzonen wie Lenden- und Nackenmuskulatur. Da die natürliche Selbsthilfemaßnahme „Kompensation“ bei einem untrainierten Muskel leider nicht gelingen kann, baut sich immer mehr Spannung auf. Die Folge: Schmerzen, die zu weiteren Verspannungen führen.
Den Schmerz ernst nehmen
Leider wird dann zu oft Muskelkräftigung verschrieben, in diesem Stadium jedoch völlig kontraindiziert, da eine Kräftigung der (schmerz-) verspannten Rückenmuskulatur nicht sinnvoll ist und zu einer weiteren Tonuserhöhung führt. Ebenso verhält es sich mit Sportarten und Übungen, die in die Reklination führen (z. B. Überkopfsportarten, Brustschwimmen), aber auch intensives Radfahren (zusätzliche Kräftigung der bereits hypertonen Hüftbeuger). Diese Thesen werden durch nahezu alle Patienten im Schmerzstadium bestätigt. Verschiedene detonisierende Therapien in Kombination mit seriell durchgeführten Injektionen können deshalb als zielführend bezeichnet werden. Ein Beispiel aus der Praxis: Ein Triathlet konnte bereits seit zwei Jahren an keinem Wettbewerb mehr teilnehmen, da bei Belastung seine Lumbalgie schnell einen VAS von 7 – 8 erreichte. Unter zwei bis drei Injektionen mit Eigenblut (ACS) an die Facettengelenke tieflumbal, regelmäßigen, ausschließlich detonisierende physiotherapeutischen Anwendungen (3 x 6), zusätzlich zu gezeigten und selbstständig durchgeführten Übungen, betrug der VAS nach vier Monaten maximal noch 2 – 3. Im weiteren Verlauf wurde dann die Stabilisierung / Kräftigung der tieflumbalen Muskulatur unter Anleitung von Experten gesteigert. Das Ergebnis war, dass der Patient in den letzten drei Monaten erfolgreich zwei Triathlons durchführen konnte mit einem VAS in der Spitze von 1.
Unserer Erfahrung nach sollte deshalb zunächst mindestens ein bis zwei Mal wöchentlich ausschließlich detonisierende und mobilisierende Physiotherapie in Hands-on Technik durchgeführt werden. Auf Kraft- und Gerätetraining sollte im akuten Schmerz komplett verzichtet werden und nach konstanter deutlicher Beschwerdebesserung erfolgt dann eine erste Kräftigung / Stabilisierung mit Körpereigengewicht. Im weiteren Verlauf dann auch mit Gewichten, solange der Patient weiter schmerzfrei ist. Zudem halten wir unsere Patienten an, weitere zwei bis drei Mal wöchentlich vom Physiotherapeuten gezeigte detonisierende Übungen in Eigenregie durchzuführen – hilfreich ist hier ein kurzes Video der Therapeuten als Gedächtnisstütze. Ideal sind Übungen, die darauf abzielen, die Muskelspannung zu reduzieren und Muskelverspannungen und -verhärtungen zu lösen. Uns hilft dabei ein intensiver und engmaschiger Austausch mit dem behandelnden Physiotherapeuten. So gelingt es meist recht schnell nach einer konstanten Beschwerdereduktion, in einem zweiten Schritt eine Stabilisierung über Körpereigengewicht und später eine gezielte Kräftigung der Muskulatur anzugehen.
Deeskalation in vielen einzelnen Schritten
Ein aktueller Fall zeigt die Wirksamkeit der manuellen Therapie in Verbindung mit z. B. selektiven BV-gesteuerten Injektionen. Eine Patientin mit einem rechts mediolateralen Prolaps C6 /7 und einer initialen deutlichen dermatombezogenen Schwäche und Taubheit erhielt in vier Wochen neun Einheiten Physiotherapie / Manualtherapie, Akupunktur und sechs BV-gesteuerte Injektionen periradikulär C6 + C7 mit dem Ergebnis einer 90 %-igen Besserung aller drei Bereiche (Schmerz, Taubheit, Schwäche).
Autoren
ist Facharzt für Orthopädie mit Zusatzbezeichnungen Manualtherapie und Chirotherapie. Er ist Ärztlicher Leiter im Marianowicz Zentrum München Bogenhausen. Außerdem ist er Worldwide Instructor für Interventionelle Schmerztherapie und war Rennarzt (WM Rodeln, Bob und Skeleton) sowie Tennis-Turnierarzt (WTA).