Das Sehen ist zweifelsfrei das wichtigste Sinnesorgan für die Ausübung der meisten Sportarten. Je nach Sportart haben Athleten verschiedene Aufgaben zu bewältigen, bei denen sehr gute visuelle Fähigkeiten Vorteile bei der Sportausübung mit sich bringen [1, 2]. Beispielsweise bei der Orientierung und Wahrnehmung im Raum, dem Gleichgewicht, der Kontrolle der Eigenbewegung oder dem Beobachten und Abschätzen des gegnerischen Verhaltens ist die visuelle Wahrnehmung ausschlaggebend.
Dieser Artikel beschäftigt sich mit folgenden Fragestellungen: Was bedeutet eigentlich 100 % Sehschärfe? Wie sollten die sportartspezifischen Sehanforderungen gemessen und bei Defiziten korrigiert oder gar trainiert werden?
Standardmäßige Augenüberprüfungen ermitteln meist den Gesundheitszustand des Auges und die Messung der statischen Sehleistung (Visus) an Lesetafeln mit Normsehzeichen in 6 m Entfernung. Das Ergebnis wird fälschlicherweise in Prozentwerten (Visus 1,0 entspricht dabei 100 %) angegeben und suggeriert dem Sportler, eine 100 % und damit nicht verbesserbare Gesamtsehleistung zu haben. Dieses standardmäßige Vorgehen der reinen Visusbestimmung repräsentiert nur einen sehr kleinen Leistungsbereich des visuellen Systems, und zwar das sogenannte Auflösungsvermögen der Augen – konkret wie gut können kleine Sehzeichen unter Vollkontrast im zentralen Gesichtsfeld bei 6 m erkannt werden. Für die meisten Sportarten sind u. a. Farb- und Kontrastsehen, Tiefensehen sowie periphere Wahrnehmung von höherer Bedeutung für den sportlichen Erfolg [1, 3, 7]. Diese werden in Europa kaum bei Routinemessungen berücksichtigt. Hier setzt die Sportoptometrie an und ermittelt über spezielle Sehteste individuelle visuelle Leistungsprofile über alle relevanten Sehparameter, die für die jeweilige Sportart wichtig sind (siehe Abb. 1) [3, 6, 8].

Visuelle Leistungsdiagnostik
Oft ist es dem Sportler nicht bewusst, dass das Ergebnis z. B. des Führerscheinsehtests, nur einen sehr kleinen Teil des visuellen Systems prüft und 100 % Sehleistung in dem Zusammenhang nur wenig Aussagekraft hat. Ein optimal funktionierendes und korrigiertes visuelles System kann eine wesentliche Voraussetzung für sportlichen Erfolg sein. Auswertungen zur Sehleistung von Profisportler zeigen, dass je nach Sportart zwischen 10 – 40 % der Profisportler nicht optimal Sehen. Meist ohne dies selbst zu bemerken, da viele Sehverschlechterungen schleichend fortschreiten [4, 5]. Die visuelle Leistungsdiagnostik bei Athleten verfolgt das Ziel, den aktuellen visuellen Zustand des Sehsystems festzustellen und stellt somit immer die Basis für weitere Interventionen wie Korrektion und Sehtraining dar [6]. Der nächste Schritt bzw. die nächste Ebene nach der Vermessung von visuellen Defiziten ist die Auswahl und Testung von optischen Korrektionsmitteln. Je nach ermittelten Defiziten kann es sich um spezielle Brillen- oder Farbfiltergläser, Kontaktlinsen oder auch chirurgische Korrekturmaßnahmen handeln. Beispielsweise gibt es spezielle Kontaktlinsen, die beim Schlafen getragen werden und durch eine spezielle Geometrie die Fehlsichtigkeit über Nacht korrigieren (Orthokeratologie). Am Tag wird dann keine Sehhilfe benötigt, was z. B. bei Triathleten eine sehr gute Lösung darstellt, da weder eine optische Schwimmbrille oder spezielle Sportsonnenbrille benötigt wird [3, 5]. Die dritte und höchste Ebene ist im Pyramidenmodell (Abb. 3) mit dem Wort „Sehtraining“ umschrieben.

Unter diesem nicht definierten Begriff gibt es aktuell eine schier unüberschaubare Anzahl von unterschiedlichsten Methoden, Trainings und Hilfsmittel [6, 10, 11, 13, 14, 16, 17]. Generell kann postuliert werden, dass es durchaus Teilbereiche des visuellen Systems gibt, welche durch spezielle Trainings zu verbessern sind. Aufgrund der Vielschichtigkeit und Unterschiedlichkeit der sportartspezifischen visuellen Anforderungen gibt es allerdings nur wenige methodisch hochwertige Studien, die wissenschaftlich belastbare Ergebnisse nach speziellem Sehtraining zeigen [8 – 12]. Dabei handelt es sich meist um wissenschaftlich gesicherte Prüf- und Testverfahren, welche früher besonders in der angelsächsisch geprägten Optometrie zum Einsatz kamen [1] und heute in den Optometrie-Studiengängen der Hochschulen auch in Deutschland (Sportoptometrist FH) gelehrt werden [18].
Praxisbeispiele
Für Biathleten muss ein schneller Fokuswechsel von Nähe (Ringkorn an der Waffe beim Zielen) auf Ferne (50 m weit entfernte Zielscheiben) erfolgen ► das Auge muss exakt und schnell akkommodieren können. Hier helfen Akkommodationstrainings z. B. über sogenannte Flipper (Abb. 2)
- Wintersportler müssen im Schneeprofil generell feine Kontraste erkennen, wie z. B. Eisplatten, Rillen, Buckel, Wellen ► spezielle Filtergläser können das Kontrastsehen verbessern
- Für einen Torhüter ist es wichtig, Entfernungen und Ballflugkurven richtig einzuschätzen ► hier ist vor allem das Stereo bzw. Tiefensehen gefordert
- Bei fast allen Mannschaftssportarten wie Basketball, Fußball, Handball ist die periphere Wahrnehmung äußerst wichtig. Mitspieler und Gegenspieler im Raum und in ihrer Eigenbewegung zu erkennen ► periphere Wahrnehmung und Tiefensehen

Fazit
Der vorliegende Artikel hatte zum Ziel, das Thema Sehen im Sport nicht nur auf die Teilleistung Visus 1,0 zu beschränken, sondern zumindest einen groben Überblick über geeignete Verfahren der visuellen Leistungserhebung im Rahmen von optometrischen Sportsvision Screenings zu geben. Dabei ist die Sportoptometrie [18] ein spezialisiertes Teilgebiet der Sehwissenschaften, das sich auf die Vermessung und Optimierung der vielfältigen visuellen Fähigkeiten von Sportlern konzentriert. Die Sportoptometrie prüft und optimiert sportartspezifische Sehanforderungen mit geeigneten Korrektionsmitteln und kann Teilbereiche des visuellen Systems gerade bei jungen Sportlern durch spezielle Trainings verbessern. Generell ist es bei dem Thema gutes Sehen im Sport wichtig, wie im Pyramidenmodell (Abb. 3) gestuft vorzugehen und nicht direkt mit Sehtrainings zu beginnen, ohne die Basis (Vermessung und Korrektion) vorab sicherzustellen. In diesem Feld ergeben sich interessante und vielversprechende Ansätze und Synergien der Bereiche Sportmedizin, Sportwissenschaften, Physiotherapie und Neuroathletik – Sehen ist mehr als kleine Sehzeichen in 6 m gut lesen zu können!
Literatur
1 Schnell, D. (1999). Wie viel Auge braucht der Sport? Deutsches Ärzteblatt 96 (14), 49-52
2 Katlun T. (2024). Augenheilkunde, Sport und Bewegung. Klinische Monatsblätter der Augenheilkunde; 241, 1091–1105
3 Erickson, G. (2022). Sports Vision: Vision Care for the Enhancement of Sports Performance. 2nd Edition, Elsevier, ISBN: 978-0-323-75543-6
4 Jendrusch, G. (2009). Sportspiele und visuelle Leistungsfähigkeit – Bochumer Perspektiven. In: Sportspielforschung und -ausbildung in Bochum – Was war, was ist und was sein könnte (eds. Voigt, H.-F., Jendrusch, G.), Czwalina Verlag, Hamburg, S. 117–138.
5 Sage S. (2013). Vorbildliche Sehleistung – Augenscreening bei den Fußballern der U21 Nationalmannschaft: Focus 07/08, S. 42-45
6 Cordes, J. (2013). Zur Effektivitat von Sports Vision Training. Dissertationsschrift. Lehrstuhl fur Sportmedizin und Sporternahrung der Ruhr-Universitat Bochum/Hohe Medizinische Fakultat der Ruhr-UniversitatBochum, Bochum.
7 Jendrusch, G. (2019). Review: Visuelle Leistungsfähigkeit in den Rückschlagsportarten – Bedeutung, Diagnostik und Intervention. Sports Orthopaedics and Traumatology, 35, 1, 14–21.
8 Jendrusch, G., Cordes, J. (2016). Visuelles System und Training im Sport – Möglichkeiten und Grenzen. Zeitschrift fur praktische Augenheilkunde & Augenarztliche Fortbildung (ZPA), 37, 231–242.
9 Mewes, N., Kellmann, M., Ehrenstein, W.H., Jendrusch, G. (2008). Veränderung der dynamischen Sehleistung bei körperlicher und psychischer Beanspruchung. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin Jahrgang 59 (6), 141-144
10 Tidow, G. (1996). Zur Optimierung des Bewegungssehens im Sport. In Bartmus, U., Heck, H., Mester, J., Schumann, H., Tidow, G. (Hrsg.). Aspekte der Sinnes- und Neurophysiologie im Sport: in memoriam Horst de Marées. Verlag Sport und Buch Strauss, Köln 241-286
11 Hulsdunker, T., Rentz, C., Ruhnow, D., Kasbauer, H., Struder, H. K., Mierau, A. (2018). The effect of 4-week stroboscopic training on visual function and sport-specific visuomotor performance in top-level badminton players. Int. J. Sports Physiol. Perform. 14, 343–350.
12 Munzert, J., Hossner, E. J. (2008). Lehren und Lernen sportmotorischer Fertigkeiten. In: Anwendungen der Sportpsychologie (Enzyklopädie der Psychologie, Sportpsychologie Bd. 2). (eds. Beckmann, J., Kellmann, M.), Hogrefe, Göttingen, pp. 177–255.
13 Elliott, D., Bennett, S. J. (2021). Intermittent Vision and Goal-Directed Movement: A Review. J. Mot. Behav., 53, 523–543.
14 Du Toit, P.J., Kruger, P.E., Mohamed, A.F., Kleynhans, M., Jay-Du Preez, T., Govender, C., Mercier, J. (2011). The effect of sports vision exercises on the visual skills of university students. African journal for physical, health education, recreation & dance 09, 429-440
15 Ehrenstein, W.H., Jendrusch, G. (2008). Dynamisches Sehen im Sport. Deutsche Optiker Zeitung (DOZ) Optometrie 5, 10-13
16 Götz F., Schapschröer M., Böckmann S., Janssen R., Sickenberger W., Bund A. (2012): Verändert körperliche Belastung die Sehleistung? Leistungssport 3, 45-49
17 Schapschröer M., Holzhei C., Bund A., Sickenberger W. (2011) : Trainierbarkeit der visuellen Wahrnehmung im Sport, Deutsche Optikerzeitung (DOZ) Optometrie 01, 92-96
18 Sonneberg F. (2019): Zertifikatskurs Sportoptometrie – ein Gefühl für Sport bekommen, Focus 01/19 Schwerpunkt Sportoptik, 26-29
Autoren
, MSC OPTOM. (USA), DIPL. ING. AO, ist Professor für Physiologische Optik und Optometrie an der Ernst Abbe Hochschule Jena. Dort leitet er den Studiengang Optometrie & Vision Science sowie das Forschungsinstitut JenVis Research. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der Optometrie, der optischen Versorgung von Fehlsichtigkeiten sowie der Erforschung des Trockenen Auges. Ferner ist er Spezialist für gutes Sehen im Profisport, Gründer der Initiative Vision@Sports und versorgt u.a. Athleten diverser Nationalmannschaften sowie Bundesligamannschaften.
ist Absolvent der Ernst- AbbeHochschule Jena. Seit 2005 ist er beim Forschungsinstitut JENVIS Research tätig, wo er für die Laborleitung, Projektentwicklung und Koordination verantwortlich ist. Er erlangte den Doktorgrad in Biophysik 2022. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen optische Messtechnik, Kontaktlinsen, Intraokularlinsen und Sportoptometrie, ferner ist er Lehrbeauftragter der Ernst Abbe Hochschule Jena.