Trainingsassoziierte Muskelkrämpfe (Exercise-Associated Muscle Cramps, EAMCs) gehören zu den häufigeren klinischen Symptomen im Sport. Miller et al. haben in ihrer Übersichtsarbeit den Wandel im Verständnis der Pathophysiologie dargestellt und evidenzbasierte Handlungsempfehlungen zur Therapie und Prävention formuliert.
Methodik
In der vorliegenden Übersichtsarbeit wurden PubMed, Cochrane, CINAHL, SPORTDiscus und PEDro auf in englischer Sprache zwischen 1990 und 2020 veröffentlichte Artikel zur Pathophysiologie, Therapie und Prävention von EAMCs computergestützt durchsucht. Daraus wurden 16 Empfehlungen zur Therapie und Prävention abgeleitet und mit der sogenannten „Strength of Recommendation Taxonomy Grading Scale“ bewertet.
Ergebnisse
Pathophysiologie
Über 60 Jahre lang galten durch Schwitzen verursachte Flüssigkeits- und Elektrolytverluste, anstrengende Arbeit von Personen, die nicht an Hitze gewöhnt seien und die hohen Temperaturen selbst als auslösende Faktoren für die Entstehung der EAMCs. Diese zum Teil widersprüchliche Theorie sei Anfang des 21. Jahrhunderts von der Theorie der veränderten neuromuskulären Kontrolle verdrängt worden, laut der vor allem die muskuläre Ermüdung und andere Risikofaktoren zu einem Ungleichgewicht zwischen exzitatorischen und inhibitorischen Reizen am Alpha-Motoneuron im Zielmuskel selbst und damit zum klinischen Bild des Krampfs führen. Dabei seien vor allem die mehrere Gelenke überspannenden Muskeln der unteren Extremität, die häufig in bereits verkürzter Stellung kontrahieren müssen, zum Ende eines Wettkampfs betroffen. Aufbauend auf dieser Theorie hat die Arbeitsgruppe um Miller und Schwellnus 2020 ein Modell vorgeschlagen, in dem das Zusammenwirken verschiedener Faktoren zu einer Kettenreaktion führt und bei Überschreiten einer Schwelle die veränderte neuromuskuläre Kontrolle verursacht.
Diagnostik und Therapie
Zur Diagnosesicherung der akut bei oder nach sportlicher Belastung auftretenden EAMCs ist eine sorgfältige klinische Untersuchung und Anamnese ausreichend. Der betroffene Muskel zeigt sich häufig sicht- und tastbar knotig oder strangartig verhärtet, wobei über den Muskel wandernde Faszikulationen möglich sind. Die klinischen Schweregrade reichen vom krampfanfälligen Zustand über gutartige mild bis moderate Krämpfe bis hin zu schweren Muskelkrämpfen als Zeichen einer systemischen Ursache, die notfallmäßig ärztlich abgeklärt werden sollten.
Bei fehlenden Hinweisen auf eine ernstzunehmende Erkrankung oder die Symptomatik auslösende Medikamenteneinnahme kann auch von nicht-ärztlichem Personal oder der betroffenen Person selbst mit der Akuttherapie begonnen werden, bei der sanftes statisches Dehnen als schnellste, sicherste und effektivste Behandlungsmethode gilt. Weiterhin soll die betroffene Person in einer für sie komfortablen Position gelagert werden, unterstützend können schmerzlindernde Verfahren wie Kryotherapie, Massage oder Elektro-Stimulationen angewendet werden. Während dieser bis zu einer Stunde dauernden Behandlungszeit können die möglichen extrinsischen und intrinsischen Risikofaktoren durch gezielte Fragen evaluiert werden. Eine begleitende, üblicherweise orale Flüssigkeitszufuhr mit Mineralwasser oder auch speziellen Kohlenhydrat-Elektrolyt-Getränken ist sinnvoll, wobei Letztere im Vergleich zum Blutplasma häufig hypoton sind und daher das Risiko einer lebensbedrohlichen Hyponatriämie durch eine zu große Plasmaverdünnung bei exzessiver Zufuhr beachtet werden soll. Ein intravenöser Flüssigkeitsersatz soll lediglich in Situationen unter Zeitdruck (< 15 min) oder unter Umständen, die keine orale Zufuhr ermöglichen (z. B. zu große Schmerzen, wiederholtes Erbrechen), durchgeführt werden. Einen vielversprechenden Ansatz bieten essigsäurehaltige Flüssigkeiten oder sogenannte TRP (Transient receptor potential) -Agonisten, die jedoch nur bei fehlenden Nahrungsmittelunverträglichkeiten/Allergien und tolerierter Flüssigkeitszufuhr in Mengen kleiner als 100 ml eingenommen werden sollen. Bezüglich des in der Praxis manchmal beobachteten Verzehrs von Bananen existiere keine Evidenz, wohingegen chininhaltige Produkte nicht empfohlen werden.
Diagnostik und Therapie chronischer oder wiederkehrender EAMCs/Prävention
Bei wiederkehrenden bzw. chronischen EAMCs stehe die Anamnese zum Ausschluss etwaiger Risikofaktoren und deren gezielte Therapie im Vordergrund, bevor allgemeine Präventionsmaßnahmen ergriffen werden sollten. Bezüglich des weit verbreiteten Gebrauchs von Kohlenhydrat-Elektrolyt-Getränken fehle es an Evidenz, die prophylaktische intravenöse Flüssigkeitszufuhr sei nicht zu empfehlen. Bei Verdacht auf eine Störung des Flüssigkeitshaushalts sollte eine Schweißtestung durchgeführt werden. Im Gegensatz zu prophylaktischem Dehnen scheine ein gut dosiertes neuromuskuläres Training ein möglicher Präventionsansatz zu sein, wenn neuromuskuläre Ermüdung als Risikofaktor identifiziert worden sei. Generell sollen die Trainingsbedingungen den entsprechenden Wettkampfbedingungen angepasst werden.
Schlussfolgerungen
Zusammenfassend zeigt sich, dass sich das Verständnis der Pathophysiologie der EAMC in den letzten Jahren gewandelt hat und eine sehr gute Evidenz hinsichtlich der Akuttherapie existiert. Bei der Implementierung von Präventionsmaßnahmen wird ein an die individuell vorhandenen Risikofaktoren angepasstes Vorgehen empfohlen, da es an Evidenz für generelle Empfehlungen mangelt.
Autoren
ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie mit den Zusatzbezeichnungen Sportmedizin und Manuelle Medizin. Er leitet als Oberarzt die Sportorthopädie der Sport- und Rehabilitationsmedizin des Universitätsklinikums Ulm mit dem Schwerpunkt der Betreuung von Mannschaftssportarten (u.a. TVB 1898 Stuttgart). Darüber hinaus ist Dr. Henze stellvertretender Vorsitzender der Handballärzte Deutschland und seit 2022 wiss. Beirat der sportärztezeitung.