In der Psychomotorik geht es um die Auswirkungen von Bewegung auf die Entwicklung des Menschen. Neben dem Geistigen und Sozialen ist Bewegung unerlässlich für eine umfassende humane Bildung. Bildung ist nicht nur Wissenserwerb, sondern betrifft den ganzen Menschen, sein Denken, Fühlen und Handeln, sein Empfinden und Wahrnehmen, wobei Bewegung eine wichtige Rolle spielt. Bewegung ist ein Grundbedürfnis und dient zur Förderung der gesamten Persönlichkeitsentwicklung des Menschen.
Freude an Bewegung
Die unbändige Freude an Bewegung könnte man als muskuläre Freude oder stille Musik des Körpers bezeichnen. Menschen können in einer Aktivität aufgehen. Das selbstvergessene Tun – das Erlebnis – ist das Ziel, z. B. beim Arbeiten, Laufen, Wandern, Spielen, usw. Der Autor Mihály Csíkszentmihályi (1990) spricht von „autotelischer Tätigkeit“ bzw. vom „Flow-Erlebnis“ [1].
Freude an Bewegung zählt zu den wichtigsten intrinsischen Motiven. Die intrinsische Motivation beschreibt den Willen, etwas aus dem Inneren heraus und aus eigener Entscheidung gerne zu tun, weil es Freude bereitet und sinnvoll erscheint. Intrinsisch bedeutet selbstbestimmt und äußert sich in eigenverantwortlicher, schöpferischer Gestaltung. Maria Montessori nennt es die Polarisation der Aufmerksamkeit: „Und jedes Mal, wenn eine solche ‚Polarisation der Aufmerksamkeit‘ stattfand, fing das Kind an, sich vollständig zu verändern, ruhiger, man könnte fast sagen, intelligenter und mitteilsamer zu werden.“ [2].
Bewegung und Lernen
Im Rahmen der psychomotorischen Lehr- und Lernmethode [3] steht Bewegung und damit Selbstbestimmtheit (intrinsische Motivation) im Mittelpunkt. Kinder können ihren Bewegungsdrang ausleben und konstruktiv zu ihrer Entwicklungsförderung nutzen. Bewegung macht Kindern Spaß und bewirkt, dass sie mit großer Begeisterung an eine Sache herangehen. Begeisterung bedeutet, dass Kinder intrinsisch motiviert sind. Darüber hinaus unterstützt Bewegung die Sauerstoffaufnahme des Gehirns. Man kann sich besser konzentrieren. Bewegung stört die Konzentration nicht, sondern ermöglicht sie geradezu. Bewegung und Lernen gehen Hand in Hand. Um sich z. B. unter Geschwindigkeit oder Schwerkraft etwas vorstellen zu können, hilft es, diese über freudvolle Bewegungserfahrungen erlebt zu haben. Im Deutsch- und Mathematikunterricht lassen sich Wörter und Zahlen, aber auch komplexe Inhalte, in ein Bewegungsspiel einbinden. Auf diese Art verstehen Kinder eher, worum es geht. Sie üben lieber und der Stoff bleibt auch leichter und länger in ihrem Gedächtnis. Um Kindern beispielsweise einen Buchstaben zu vermitteln, stellen sie sich in Form dieses Buchstabens auf oder sie gehen die Form in der Klasse ab. Dabei geht es darum, die Form anhand der Bewegung mit dem ganzen Körper und mehreren Sinnen kennen zu lernen und zu verinnerlichen. Erst wenn es in den Sinnen ist, ist es im Verstand. Über die Sinne werden Erfahrungen zu Erkenntnissen. Man spricht von ganzheitlichem oder effizientem Lernen. Im Rahmen des Forschungsprojekts „Psychomotorik in der Schule“ [4] wurde überprüft, welche Effekte die psychomotorische Lehr- und Lernmethode auf schulische Kompetenzen hat. In der Volksschule wiesen die Schüler deutliche Verbesserungen in den Bereichen Integration, Klassenklima, Selbstkonzept und Gefühl des Angenommenseins auf. In Bezug auf diese Aspekte ist die psychomotorische Lehr- und Lernmethode wirksamer als herkömmliche Unterrichtsmethoden.
Räumlich visuelle Funktionen
Bei der Entwicklung der räumlich-visuellen Funktionen ergab sich in der Volksschule ebenfalls ein Vorteil der psychomotorischen Lehr- und Lernmethode gegenüber herkömmlichen Unterrichtsmethoden. Die rote Linie zeigt die Versuchsgruppe und die blaue die Kontrollgruppe (Abb. 1).
Selbstwertgefühl
In der Neuen Mittelschule ergab sich beim Selbstwertgefühl, dass die psychomotorische Lehr- und Lernmethode einen signifikant größeren Anteil an Schülern mit reliablen Verbesserungen nach sich zog (Abb. 2).
Insgesamt wurden in der Studie die positiven Auswirkungen von Bewegung auf die körperliche und geistige Entwicklung von Schülern festgestellt.
Bewegung und Identität
Menschliches Verhalten erklärt sich im Wesentlichen als im Bemühen um Identitätsbestätigung bzw. soziale Anerkennung. Soziale Anerkennung ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Wie die Entdeckung des Hospitalismus von René Spitz (1965) gezeigt hat, kommt es zu schweren physischen und psychischen Störungen, wenn Kinder keine soziale Anerkennung (Identitätsbestätigung) erhalten [5]. Identität ist das, was der Mensch für sich selbst ist, bzw. die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ [6]. Durch Bewegung entstehen eindeutige Identitäten. Der einzelne weiß, was er kann und was nicht, ob die Bewegungen zu ihm passen oder nicht, wie er wirkt, wenn er eine bestimmte Bewegung ausführt, ob sein Bewegungsverhalten akzeptiert wird oder nicht. Bewegung ermöglicht den Aufbau und die Bestätigung von Identitäten und somit die ersehnte soziale Integration, das heißt Anerkennung von Handlungen, die für die bestehende Kultur von Bedeutung sind. Durch Bewegung können Fähigkeiten eingesetzt und Eigenschaften zur Schau gestellt werden, die in der sozialen Umwelt geschätzt werden, wie Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit, Koordination, Wissen, Intelligenz, Mut, Toleranz und Selbstbeherrschung. Bewegung ist bedeutungsvoll und kann Anerkennungsbedürfnisse erfüllen. Das Ausleben des Bewegungsdrangs ermöglicht Identitätsbestätigung.
Fazit
Ein Hauptproblem unserer Gesellschaft besteht darin, dass wir uns zu wenig bewegen und die Wirkungen von Bewegung zu wenig bewusst sind. Psychomotorik ist eine Antwort der Wissenschaft auf diese Situation. Durch Bewegung werden die Gefühle Selbstbestimmtheit und soziale Anerkennung ausgelöst und effizientes Lernen ermöglicht. Was in Bewegung oder verbunden mit einer Bewegung gelernt wird, bleibt leichter und länger im Gedächtnis. Kinder sind konzentrierter und aktiver bei der Sache. Psychische und motorische Prozesse bilden eine funktionelle Einheit. Wichtig sind gute soziale Beziehungen und emotionale Sicherheit, die im Rahmen der psychomotorischen Lehr- und Lernmethode angestrebt werden. Indem Körper und Geist aktiviert werden, hat bewegtes Lernen einen hohen Bildungs- und Gesundheitswert.
Literatur
[1] Csikszentmihalyi, M. 1990. Flow: The Psychology of Optimal Experience. New York.
[2] Montessori, M. 1926. Montessori-Erziehung für Schulkinder. I: Betätigungsdrang und Erziehung. Stuttgart.
[3] Weiß, O. 2022. „Effizientes Lernen: Psychomotorische Lehr- und Lernmethode“ in der Zeitschrift motorik 1/2022.
[4] Weiß, O. et al. 2020. Psychomotorische Lehr- und Lernmethode: Eine Feldstudie in der Primar- und Sekundarstufe. In: Motorik. Zeitschrift für Psychomotorik in Entwicklung, Bildung und Gesundheit, 43. Jahrgang, Nr. 1, S. 16-25.
[5] Spitz, R. 1965. The First Year of Life. A psychoanalytic study of normal and deviant development of object relations. New York.
[6] Weiß, O. & Norden, G. 2021. Introduction to the Sociology of Sport. Leiden/Boston.
Autoren
ist Universitätsprofessor und Leiter des Universitätslehrgangs Psychomotorik am Institut für Sportwissenschaft der Universität Wien. In seinen Forschungen beschäftigt er sich mit Sport in Zusammenhang mit Identität, Gesellschaft, Gesundheit, Wirtschaft und (Massen-)Kommunikation sowie mit psychomotorischen Lehr- und Lernmethoden. 2017 wurde er zum Honorary Member der European Association for Sociology of Sport ernannt.