Jeder vierte (1) Mensch in Deutschland ist stark übergewichtig – Tendenz steigend. Grund ist vor allem ein ungesunder Lebensstil, allem voran eine ungesunde Ernährung. Um diesem Trend entgegenzuwirken, bedarf es unter anderem kompetenter Ärzt:innen, aber: was lernt man überhaupt über Ernährung im Medizinstudium?
Fallvorstellung
Schon während Herr Müller heute morgen das Sprechzimmer betritt, fällt mir auf, wie er sogar noch in den letzten zwei Wochen zugenommen hat. Trotz Impfung und Kontaktbeschränkungen hatte der 45-jährige sich mit Sars-CoV-2 infiziert und kommt heute zur erneuten Testung. Ein Blick in die Akte verrät mir, wie sein Gewicht in den letzten Monaten stetig gestiegen ist, vor allem seit der Umstellung der Arbeit ins Home-Office. Sein Nüchternblutglukose-Wert liegt mit 117 mg/dl im prä-diabetischen Bereich. Mittlerweile beträgt sein BMI 28,7. Herr Müller würde gerne abnehmen, weiß aber nicht genau, wie. Als Student im Blockpraktikum in einer hausärztlichen Praxis bin ich mir unsicher, wie ich jetzt reagieren soll. Ich entscheide mich dafür, ihn zunächst nach seiner Ernährungsweise zu befragen und seine Antwort zu dokumentieren. Herr Müller antwortet, er ernähre sich „normal”.
Status quo – Reformbedarf
Mein letztes Semester im klinischen Abschnitt des Studiums hat mit dem Blockpraktikum Allgemeinmedizin begonnen. In den nächsten Wochen folgen Blockpraktika in anderen Fachbereichen bevor ich mich mit den Repetitoriums-Vorlesungen und einem Lernplan auf das 2. Staatsexamen vorbereiten werde. Während Herr Müller vor mir sitzt, sehe ich mich nicht in der Lage, eine tiefergehende Ernährungsanamnese durchzuführen, geschweige denn ihn hinsichtlich seiner Ernährungsweise adäquat zu beraten. Meine letzte (und soweit ich mich erinnern kann, auch einzige) Veranstaltung zu diesem wichtigen Thema fand im dritten Semester statt und ist schon dreieinhalb Jahre her. Währenddessen tauchte das Thema Ernährung zwar immer wieder kurz im Curriculum auf, allerdings weder in praktischen Unterrichtseinheiten noch als eigenständiger Bestandteil einer schriftlichen oder mündlich-praktischen Prüfungsleistung, wie zum Beispiel einer OSCE (objective structural clinical examination). “Was nicht geprüft wird, lerne ich auch nicht.” So lautet jedenfalls das Credo einiger meiner Kommiliton:innen. Dies ist gerade beim Thema Ernährung besonders bedauerlich, sind doch die Ursachen der großen Volkskrankheiten, wie Diabetes und Bluthochdruck, klar auf eine ungesunde Ernährungsweise zurückzuführen. Wie Herr Müller wies laut dem RKI in Deutschland im Jahr 2010 bereits jeder fünfte (2) zwischen 18 und 79 Jahren einen Prä-Diabetes auf. Es ist davon auszugehen, dass sich bei 70 % (3) der Menschen mit Prädiabetes im weiteren Verlauf ein Diabetes manifestiert. Schon 2019 litten mit 9,5 Millionen Menschen 15.3 % (4) der deutschen Bevölkerung zwischen 20 und 79 Jahren an Diabetes. Nach Einschätzung von Expert:innen ist bis zum Jahr 2040 mit einer weiteren Zunahme auf insgesamt 12 Millionen (5) Patient:innen zu rechnen.
Die Therapie des Diabetes umfasst mehrere Säulen. Während meines Studiums habe ich vor allem die pharmakologische Therapiemethoden kennengelernt. Insgesamt weiß ich zwar, dass eine Umstellung der Ernährung und des Lebensstils der Progredienz der Erkrankung entgegenwirkt, ja diese sogar aufhalten kann, jedoch kann ich diese nicht im Einzelnen konkret beschreiben.
Dies gilt ebenfalls für viele anderen Erkrankungen: welche Ernährungsweise ist gesundheitsförderlich für Menschen mit Bluthochdruck? Welche für Patient:innen mit Rheuma? Eine gesunde Ernährung ist wichtig für die Prävention zahlreicher Erkrankungen, aber was bedeutet eigentlich “gesunde Ernährung” und wie sieht diese konkret aus? Was ist eigentlich “planetare Gesundheit”? Welche Aufgaben können und sollen von Pfleger:innen, welche von Diätassistent:innen, von Ökotropholog:innen oder von Ernährungswissenschaftler:innen übernommen werden? Und schließlich: wie motiviere ich Menschen, ihre Ernährung und ihren Lebensstil umzustellen? Wie gehe ich mit Menschen um, die auf gewisse Nahrungsmittel oder Gewohnheiten nicht verzichten können oder wollen?
Vorschlag
Erst vor wenigen Monaten (6) wurde die Version 2.0 des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkataloges Medizin (NKLM) veröffentlicht. Dieser soll die Grundlage für die Lernziele bilden, die mit Inkrafttreten der neuen Ärztlichen Approbationsordnung (ÄApprO) ab 2025 verpflichtend im Curriculum verankert werden und im weiteren Verlauf stetig angepasst werden sollen. Hierbei sind zwar positive (7,8) Entwicklungen hinsichtlich einer Vertiefung des Themas Ernährung zu beobachten, allerdings sind diese noch weiter ausbaufähig und müssen in Zukunft stetig evidenzbasiert angepasst werden: Nach dem neuen NKLM sollten Absolvent:innen “pathophysiologische Mechanismen bezüglich Ernährung erkennen, benennen sowie hieraus Ansätze für Diagnostik und kausale Therapien ableiten und umsetzen können”. Wie genau dies erreicht und umgesetzt werden soll, ist noch nicht ersichtlich. Gleiches gilt auch für den Gegenstandskatalog (GK) des Instituts für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP), der festlegt, welche Inhalte in den Staatsexamina abgefragt werden. Die ab dem kommenden Staatsexamen im Frühjahr 2022 gültige Version des IMPP-GK2 (9) geht dabei zwar in die richtige Richtung, es mangelt aber beispielsweise noch an Lernzielen für erkrankungsspezifische Ernährungsweisen. Ebenfalls bleibt noch abzuwarten, wie detailliert ernährungsmedizinische Fragen Einzug in schriftliche, sowie mündlich-praktische Prüfungen finden werden. Gerade mit konkretem Übungs- und Prüfungssituationen können Medizinstudierende optimal für den ärztlichen Alltag vorbereitet werden. Insgesamt kann nur mit einer inhaltlichen Kongruenz (10) von NKLM und GK in Zukunft sichergestellt werden, dass auch genau die Inhalte gelehrt werden, die auch Bestandteil der Prüfungsleistungen sind.
Ausblick
Mit Hinblick auf die sich verändernde Altersstruktur und der Zunahme der nicht-übertragbaren Erkrankungen (Englisch: Non-Communicable Diseases, NCD), wie Diabetes, Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen, kann davon ausgegangen werden, dass in den kommenden Jahren unser Gesundheitssystem auf die Probe gestellt werden wird. Immer weniger Mitarbeiter:innen im Gesundheitssystem müssen eine immer größer werdenden Anzahl von Patient:innen versorgen. Gerade hier könnte und sollte sich die Prävention als hilfreicher Lösungsansatz etablieren. Mit einer Stärkung der Ernährungsbildung im Medizinstudium könnten Ärzt:innen selbstbewusster und evidenzbasierter ernährungsbezogene Empfehlungen abgeben, was der Entstehung und Progredienz (11) von NCDs entgegenwirkt. Langfristig könnte damit die gesellschaftliche Krankheitslast gemindert und das Gesundheitssystem entlastet werden.
Fazit
Zusammenfassend kann einer zukünftigen Zunahme der NCDs nur mit einer Umstellung von Ernährung und Lebensstil gegengesteuert werden, um die Krankheitslast zu reduzieren und das Gesundheitssystem zu entlasten. Dafür muss dringend eine Stärkung der Ernährungsbildung im Medizinstudium etabliert werden, damit zukünftige Ärzt:innen besser in ernährungsmedizinischen Themen ausgebildet werden. In den aktuellen Versionen des NKLM und GK sind Trends in diese Richtung erkennbar, allerdings sollten diese vertiefter und konkreter überarbeitet werden.
Mehr Infos zur Bundesvertretung der Medizinstudierende Deutschland e.V. (bvmd)
Literatur
1. Prävalenz – Adipositas Gesellschaft [Internet]. [zitiert 14. November 2021]. Verfügbar unter: https://adipositas-gesellschaft.de/ueber-adipositas/praevalenz/
2. Robert-Koch-Institut. Diabetes in Deutschland – Erwachsene: Prädiabetes [Internet]. 2021 [zitiert 14. November 2021]. Verfügbar unter: https://diabsurv.rki.de/Webs/Diabsurv/DE/diabetes-in-deutschland/1-03_Praediabetes.html
3. Tabák AG, Herder C, Rathmann W, Brunner EJ, Kivimäki M. Prediabetes: a high-risk state for diabetes development. The Lancet. Juni 2012;379(9833):2279–90.
4. International Diabetes Federation. IDF Diabetes Atlas: Ninth Edition. 2019; Verfügbar unter: https://diabetesatlas.org/idfawp/resource-files/2019/07/IDF_diabetes_atlas_ninth_edition_en.pdf
5. Diabetes in Zahlen [Internet]. diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe. 2010 [zitiert 14. November 2021]. Verfügbar unter: https://www.diabetesde.org/ueber_diabetes/was_ist_diabetes_/diabetes_in_zahlen
6. Deutsches Ärzteblatt. Neue Version des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs… [Internet]. 2021 [zitiert 14. November 2021]. Verfügbar unter: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/123426/Neue-Version-des-Nationalen-Kompetenzbasierten-Lernzielkatalogs-Medizin-veroeffentlicht
7. LOOOP NKLM-Ansicht, Version 2.0 [Internet]. [zitiert 14. November 2021]. Verfügbar unter: https://nklm.de/zend/objective/view/id/100966/lve/966
8. Bundesvertretung der Medizinstudierenden Deutschland e.V. (bvmd). Positionspapier Ernährung und Gesundheit [Internet]. 2021. Verfügbar unter: https://www.bvmd.de/fileadmin/user_upload/2021_06_Positionspapier_Ern%C3%A4hrung_und_Gesundheit.pdf
9. Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen (impp). Gegenstandskataloge [Internet]. [zitiert 14. November 2021]. Verfügbar unter: https://www.impp.de/pruefungen/allgemein/gegenstandskataloge.html
10. Richter-Kuhlmann E. Medizinstudium: Kongruenz von Lehre und Prüfungen. Dtsch Arztebl. 2019;116(46):A-2127 / B-1742 / C-1702.11. Filippou CD, Tsioufis CP, Thomopoulos CG, Mihas CC, Dimitriadis KS, Sotiropoulou LI, u. a. Dietary Approaches to Stop Hypertension (DASH) Diet and Blood Pressure Reduction in Adults with and without Hypertension: A Systematic Review and Meta-Analysis of Randomized Controlled Trials. Adv Nutr. 1. September 2020;11(5):1150–60.
Autoren
ist Medizinstudent an der Charité und derzeit im Praktischen Jahr. Ko-Autor des Positionspapiers "Ernährung und Gesundheit” der Bundesvertretung der Medizinstudierende Deutschland e.V. (bvmd). Engagement in der AG Public Health der bvmd und Gründer der AG Wissenshunger am Standort Berlin.
ist Medizinstudentin im 9. Semester an der Ruhr-Universität Bochum und ebenfalls Ko-Autorin des Positionspapiers "Ernährung und Gesundheit" der Bundesvertretung der Medizinstudierende Deutschland e.V. (bvmd). Engagement in der AG Public Health der bvmd (u.a. Aufklärung Organspende) und bvmd-Trainerin.