Rückenschmerzen sind extrem häufig und sie sind ein Volksleiden. Das ist nicht nur Ärzten bekannt. Es gibt kaum ein Beschwerdebild, „das in Bezug auf Prävalenz- und Inzidenzraten sowie in Bezug auf die entstehenden Kosten derart hohe Raten aufweist wie muskuloskelettale Beschwerden und insbesondere Rückenschmerzen“ [1]. 80-90 % der Rückenschmerzen gelten jedoch als nicht-spezifisch, was bedeutet, dass in diesen Fällen kein pathologischer Befund als eindeutig und kausal für die Schmerzen identifiziert werden kann.
Auch wenn man bei vielen Patienten funktionelle oder sichtbare morphologische Veränderungen findet, können diese die Schmerzen der Patienten jedoch nicht vollständig erklären, sodass man von psychologischen Verstärkungsprozessen ausgehen muss [1]. In meiner Tätigkeit als Reha-Psychologin erlebe ich im Gespräch mit Patienten sehr häufig die vorherrschenden psychischen Belastungen als den zentralen Faktor im individuellen Schmerzgeschehen. Diese Beobachtung teilen meine ärztlichen und physiotherapeutischen Kollegen und berichten regelmäßig von Patienten, die seit vielen Jahren unter Rückenschmerzen leiden und bei denen sich zwischenzeitlich Gefühle von Hilf- und Hoffnungslosigkeit manifestiert haben. Unzählbare Arztbesuche oder gar operative Eingriffe konnten die lang ersehnte Schmerzfreiheit nicht herbeiführen. Im Gegenteil, so berichten sie, der Schmerz habe sich über die Jahre nicht nur intensiviert, sondern ausgebreitet.
Schmerzverstärkung durch Stress
Unsere Reha-Patienten kommen häufig aus einem Alltag voller Stress und Belastungen, verknüpft mit diversen privaten oder beruflichen Problemlagen. Für viele Patienten ist eine ambulante Rehamaßnahme mit der Hoffnung verknüpft, den Wiedereinstieg in den Alltag wieder schmerzfrei bestreiten zu können. Einen wichtigen Beitrag für eine langfristige erfolgreiche multimodale Schmerzbewältigungsstrategie im Alltag bilden dabei die in unserer Einrichtung stattfindenden Schmerz-Seminare, im Rahmen derer für viele Patienten ein ganz neues Bild von Schmerz entsteht. Hier wird das Bewusstsein geschaffen, dass es neben medizinisch-körperlichen Schmerzbewältigungsstrategien (wie bspw. Medikamenteneinnahme, vermehrte Bewegung und intelligenter Muskulaturaufbau), auch auf Maßnahmen auf psychologischer Ebene wie Stressbewältigung, Konfliktklärungen oder Problemlösungen ankommt, die nur gemeinsam zu einer nachhaltigen Schmerzreduktion bzw. -freiheit führen werden.
Es gibt unterschiedliche Erklärungsansätze dafür, warum Stress Schmerzen verstärkt. Hasenbring et al. (2017) [2] halten eine erhöhte Schmerzsensitivität über Veränderungen der hormonellen Stress-
reagibilität für wahrscheinlich [3]. Ebenso vermag erhöhte Stressbelastung über physiologische Mechanismen die muskuläre Spannung und damit die Schmerzwahrnehmung erhöhen. Darüber hinaus werden die Möglichkeiten zur Schmerzbewältigung über massive Stressbelastung stark eingeschränkt, was wiederum zur Schmerzverstärkung führen kann [2]. Warum insbesondere Rückenschmerzpatienten unter dem schmerzverstärkenden Effekt durch Stress leiden, erklären Pfingsten & Hildebrandt [1] über die unter Stress stark angespannte Rücken- und Nackenmuskulatur: Der Ausgangsort der Muskelspindeln ist das Gamma-System, welches supraspinaler Kontrolle unterliegt. In der Nackenmuskulatur und im Rückenstrecker sind besonders viele Muskelspindeln enthalten, sodass psychische Spannungen folglich zu Schulter-, Nacken-, Kopf- und Rückenschmerzen führen. Wichtig dabei ist: eine schmerzverstärkende Wirkung bezieht sich vor allem auf länger anhaltenden Stress. Unter akutem Stress lässt sich ein gegenteiliges Phänomen beobachten. Der kurzfristig schmermildernde Effekt mag damit zusammenhängen, dass Ablenkung bei Schmerz dessen Wahrnehmung und Erleben minimiert [4]. Es ist jedoch unbestritten, dass chronisches Stresserleben Schmerz verstärkt [5].
Chronifizierung häufig durch psychosoziale Faktoren
Problematisch ist, wenn von ärztlicher als auch von patientenbezogener Seite psychosoziale Risikofaktoren, wie z. B. eine erhöhte Stressbelastung oder eine psychosoziale Problemlage die für die Entwicklung des chronischen Schmerzsyndroms entscheidend sind, nicht beachtet werden [6]. Dabei zeigt meine Erfahrung in der Praxis, dass viele chronische Schmerzpatienten gerade aufgrund psychosozialer Faktoren chronifizieren. Es sind individuelle Belastungen wie andauernder Stress, Konflikte oder andere psychosoziale Problemlagen, die den Schmerz über den körperlichen Heilungsprozess hinaus aufrechterhalten. Stressoren im Alltag, insbesondere länger anhaltende private oder berufliche Belastungen, gehören zu den relevanten Risikofaktoren für eine Chronifizierung. Flor (2017) [5] erklärt dies mit zentralen Sensibilisierungsprozesse, die verstärkt bei Patienten zu beobachten sind, die unter Stressbelastung stehen, zu negativer Emotionalität neigen und ungünstige schmerzbezogene Kognitionen haben.
Weniger Schmerz durch Stressbewältigung
Es ist selbsterklärend: wenn Stress Schmerzen verstärkt, dann trägt Stressbewältigung zur Schmerzreduktion bei. Was Stressbewältigung bedeutet, ist für jeden Einzelnen eine ganz individuelle Angelegenheit, denn zwangsläufig hat jeder Mensch sein Leben mit seinen persönlichen Herausforderungen und Problemen. Im Patientenkontakt treffe ich häufig auf sehr komplexe Problemlagen: Gestresste Manager, die aufgrund von Überstunden und Arbeitslast kaum Zeit für sich selbst, für soziale Kontakte, für Sport und Ausgleich haben. Alleinerziehende Mütter, die sich nebst finanzieller Sorgen mit diversen familiären Problemen herumschlagen. Vereinsamte Rentner, bei denen sich das Leben nur noch im Arzt- und Apothekenbesuche dreht. Depressive chronische Schmerzpatienten, die aufgrund Ihrer emotionalen Instabilität, eine entsprechende Ressourcenaktivierung vernachlässigen. Stressbelastung erfordert von uns allen eine individuelle Anpassungsleistung. In meiner Beratung verwende ich das Konzept von Kaluza (2011) [7], der drei Hauptwege der Stressbewältigung unterscheidet. Der erste Weg, das instrumentelle Stressmanagement hat das Ziel, Stressoren auszuschalten, zu reduzieren oder zu vermeiden. Mentales Stressmanagement als zweiter Weg beinhaltet die Veränderung stressverschärfender persönlicher Motive, Einstellungen und Denkmuster. Der dritte Weg besteht im regenerativen Stressmanagement, welches sich auf die Regulierung und Kontrolle der physiologischen und psychischen Stressreaktion im bezieht
Für „meinen“ beispielhaften schmerzgeplagten Manager bedeutet dies in der konkreten Umsetzung, dass er Zeitmanagementtechniken anwendet und lernt, Aufgaben zu delegieren (instrumentelle Bewältigung), dass er seinen stressverschärfenden Perfektionismus kritisch reflektiert und stattdessen einem selbstfürsorglichen inneren Dialog Raum gibt (mentale Bewältigung) und dass er seine Überstunden reduziert und einer regelmäßigen sportlichen Betätigung und Entspannung am Feierabend mehr Raum gibt. Unterstützung bei der Erarbeitung und Umsetzung solcher stress- und damit gleichzeitig schmerzmildernder Maßnahmen können Psychologen, Therapeuten und Coaches bieten. Ebenso helfen psychoedukative Programme wie Stressbewältigungskurse, Menschen dazu zu befähigen, Stress als die möglichen Triggerfaktor zu identifizieren und Strategien zu erarbeiten, um vorhandenen Stress im Alltag zu reduzieren. Sowohl das Erlernen von Stressbewältigungsstrategien als auch die Veränderung stressverstärkender Gedankenmuster können zur Minimierung der Stressbelastung im Alltag beitragen und damit schmerzmildernd wirken.
Die Coronakrise als „multidimensionaler Stressor“
Die Coronakrise hat in diesem und im letzten Jahr bestehende Problemlagen zum Teil deutlich verschärft. Die Pandemie kann dabei als „multidimensionaler Stressor“ und als eine Herausforderung für die psychische Gesundheit vieler Menschen gesehen werden [8]. Brakemeier et al. (2020) [8] stellen heraus, dass die Pandemie zum einen mit ihrer unvorhersehbaren Dauer, Ängste und Unsicherheiten auslösen kann. Andererseits wirke sich die Coronakrise individuell auf verschiedene Lebensbereiche eines jeden Einzelnen aus, die als psychisch belastend erlebt werden und mit Gefühlen der Hilflosigkeit einhergehen können (z. B. familiäre Konflikte, finanzielle Sorgen, Arbeitslosigkeit). Darüber bringen die verordneten Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens Einschränkungen mit sich, die den Zugang zu Schutzfaktoren (z. B. Freizeitaktivitäten, Vereinsleben, Sport) als auch zu Hilfesystemen (z. B. Einschränkungen beim Aufnahmemanagement in Kliniken und in der Therapieorganisation von Praxen) erschweren. Damit sei eine Ressourcenstärkung beim psychisch belasteten Patienten verhindert. Da eine zunehmende Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit erwartet wird [9], bleibt abzuwarten ob der „multidimensionaler Stressor“ Coronakrise auch eine Zunahme muskuloskelettaler Beschwerden nach sich ziehen wird.
Literatur
[1] Pfingsten M, Hildebrandt J (2017) Rückenschmerzen. In: Kröner-Herwig B, Frettlöh J, Klinger R, Nilges P, Hrsg. Schmerzpsychotherapie: Grundlagen, Diagnostik, Krankheitsbilder, Behandlung. 8. Auflage. Berlin: Springer, 531 – 553.
[2] Hasenbring M, Korb J, Pfingsten M (2017) Psychologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention. In: Kröner-Herwig B, Frettlöh J, Klinger R, Nilges P, Hrsg. Schmerzpsychotherapie: Grundlagen, Diagnostik, Krankheitsbilder, Behandlung. 8. Auflage. Berlin: Springer, 115 – 129.
[3] Sudhaus S, Held S, Schoofs D, Bültmann J, Dück I, Wolf OT, Hasenbring M (2015) Associations between fear-aviodance and endurance responses to pain and salivary cortisol in the context of experimental pain. Psychoneuroendocrinology. 52: 195 – 199.
[4] Reichart R, Vogel I, Weiss T, Henning S, Walter J, Kalff R (2012) Short psychological intervention as a perioperative pain reduction treatment in spinal neurosurgery. J Neurol Surg A Cent Eur Neurosurg. 73: 387 – 396.
[5] Flor H (2017) Neurobiologische und psychologische Faktoren der Chronifizierung und Plastizität. In: Kröner-Herwig B, Frettlöh J, Klinger R, Nilges P,Hrsg. Schmerzpsychotherapie: Grundlagen, Diagnostik, Krankheitsbilder, Behandlung. 8. Auflage. Berlin: Springer, 87 – 101.
[6] Fritsch-Kümpel, M (2019). Stressverarbeitung bei Patienten mit chronischem Schmerz oder chronischem Juckreiz im Vergleich [Disseration]. Universitätsmedizin Mainz.
[7] Kaluza G (2011) Stressbewältigung. 2. Auflage. Berlin Heidelberg: Springer
[8] Brakemeier et al. (2020). Die COVID-19-Pandemie als Herausforderung für die psychische Gesundheit. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie. https://doi.org10.1026/1616-3443/a000574
[9] Gloster, A.T. et al. (2020). Impact of COVID-19 pandemic on mental health: An international. PLOS ONE. study https://doi.org/10.1371/journal.pone.0244809
Autoren
promovierte an der Universität Mainz im Fachbereich Medizin im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsprojekt zum Thema Stressverarbeitung bei orthopädisch und dermatologisch chronisch Erkrankten. Als Diplom-Psychologin ist sie seit über 10 Jahren im Ambulanten Rehazentrum Mainz-Mombach und darüber hinaus als freie Business-Coach und Trainerin für Gesundheitsförderung und Kompetenzentwicklung tätig (www.dr-fritsch-kuempel.de).