Die Behandlung von Triggerpunkten (oder etwas allgemeiner: des myofaszialen Schmerzsyndroms) ist aus der modernen Sportmedizin nicht mehr wegzudenken. Eine Suche bei Google ergab für die Stichworte „Triggerpunkte Sportmedizin“ mehr als 27.000 Ergebnisse und für die Stichworte „myofaszial Sportmedizin“ über 9000 Ergebnisse (Stand 31.12.15). Da sollte es doch eigentlich nicht schwerfallen, die wesentlichen Erkenntnisse zur Ätiologie (den auslösenden Ursachen), Pathophysiologie (den Veränderungen im Gewebe), Diagnostik und Therapie von Triggerpunkten bzw. zum myofaszialen Schmerzsyndrom (im folgenden TrP/MFS abgekürzt) schnell zusammen zu haben. Tatsächlich sieht die Realität aber völlig anders aus.
Beginnen wir unsere Recherche in einem Medium, das heutzutage von sehr vielen Menschen (d.h. Patientinnen und Patienten) zuerst als Lexikon bzw. Lexikonersatz herangezogen wird: Wikipedia. Interessanterweise gibt es auf der deutschsprachigen Seite von Wikipedia keinen Eintrag zu „Triggerpunkten“, wohl aber zu „Triggerpunkttherapie“. Wie weiter unten ausgeführt wird, könnte dieser Umstand die gegenwärtige Situation nicht besser widerspiegeln: Wir behandeln zwar etwas, wissen aber nicht genau, was das tatsächlich ist.
Viel ist bei Wikipedia auch nicht zu erfahren. Triggerpunkte „sind lokal begrenzte Muskelverhärtungen in der Skelettmuskulatur, die lokal druckempfindlich sind und von denen übertragene Schmerzen ausgehen können“. Dies ist nicht nur wenig, sondern schlicht zu wenig. Es gibt eine viel bessere Definition aus einer kürzlich publizierten Arbeit von Quintner et al. (2015), auf die wir weiter unten noch detailliert zu sprechen kommen: „The theory of MPS comprised two essential components: the TrP, a localized area of tenderness or hyperirritability deep within voluntary muscle; and a predictable discrete zone of deep aching pain, which could be located in the immediate region of or remote from the TrP, and which was worsened by palpation of the TrP.“
Anatomischer Zusammenhang
Wichtig erscheint hier die Formulierung „predictable discrete zone of deep aching pain“. Mit anderen Worten, die übertragenen Schmerzen treten nicht einfach irgendwo auf, sondern in einer voraussagbaren und damit reproduzierbaren Körperregion, und sie können durch Druck auf den zugehörigen Triggerpunkt gesteigert werden. Dies bedeutet jedoch, dass es irgendeine Form von anatomischem Zusammenhang zwischen dem Triggerpunkt selbst und der Zone des übertragenen Schmerzes geben muss.
Dabei muss keineswegs ein direkter anatomischer Zusammenhang bestehen, zum Beispiel ein Nerv, der einen Muskel durchquert und durch Kontraktion des Muskels in Mitleidenschaft gezogen wird (was tatsächlich für die allermeisten Triggerpunkte auch nicht bekannt ist). Vielmehr könnte der übertragene Schmerz einem ähnlichen Konzept wie dem der Head’schen Zonen folgen, die ja zum Beispiel für den Herzinfarkt (Schmerzen an der Innenseite des linken Arms) gut bekannt sind. Allerdings basiert das Konzept der Head’schen Zonen auf Querverbindungen zwischen dem somatischen und dem vegetativen Nervensystem, was für den übertragenen Schmerz bei TrP/MFS nicht zutrifft (hier liegen sowohl die Triggerpunkte als auch die Regionen des übertragenen Schmerzes im Bereich des somatischen Nervensystems).
Bevor wir uns im Detail mit dem Phänomen TrP/MFS gerade in der modernen Sportmedizin beschäftigen, werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf die Häufigkeit dieser Problematik. Bei Wikipedia heißt es: „Rund 80 bis 90 Prozent der Schmerzsyndrome sollen auf derartige Muskulaturverhärtungen zurückzuführen sein.“ Wikipedia gibt keine Quelle für diese Zahlen an. Sie passen allerdings gut zu seriösen Zahlen von Murray et al. (2013), die im Journal of the American Medical Association (JAMA) ein sogenanntes Disability-Adjusted Life-Year (DALY) Ranking, also eine Art negative „Hitparade“, der Top-30-Erkrankungen und Verletzungen in den USA zusammengestellt haben.
Das DALY Ranking
Für das Jahr 2010 sah das DALY Ranking für die USA auf den ersten 12 Plätzen wie folgt aus: 1: Ischämische Herzerkrankungen;
2: Chronisch obstrukive Lungenerkrankungen; 3: Lendenwirbelschmerzen; 4: Lungenkrebs; 5: Depressionen; 6: Andere Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates; 7: Schlaganfall; 8: Diabetes; 9: Verkehrsunfälle; 10: Drogenmissbrauch; 11: Nackenschmerzen; 12: Alzheimer-Erkrankung. Da sowohl bei Tendinopathien als auch bei Lendenwirbelschmerzen und Nackenschmerzen Triggerpunkte eine wesentliche Rolle spielen sollen (Google-Suche am 31.12.2015 nach „Rückenschmerzen Triggerpunkte“: knapp 18.000 Ergebnisse), kann man davon ausgehen, dass es TrP/MFS im DALY Ranking für die USA in die Top 10 schaffen würden – vorausgesetzt, es gäbe umfangreiches Wissen zu Ätiologie und Pathogenese von TrP/MFS. Genau dies ist aber nicht der Fall. Vielmehr würde nach streng wissenschaftlichen Kriterien das gegenwärtige Urteil über die Ätiologie und Pathogenese von TrP/MFS sehr kurz ausfallen: Beides ist letztlich unbekannt!
In diesem Zusammenhang sei auf die bereits oben erwähnte Arbeit von Quintner et al. verwiesen, die alle gelesen haben sollten, die irgendetwas mit TrP/MFS zu tun haben (frei verfügbar unter www.painaustralia.org.au/images/pain_australia/Rheumatology-2014-Quintner-rheumatology_keu471.pdf). Quintner et al. kommen zu einem vernichtenden Ergebnis: „We find that both [d.h., TrP und MFS] are inventions that have no scientific basis, whether from experimental approaches that interrogate the suspect tissue or empirical approaches that assess the outcome of treatments predicated on presumed pathology. Therefore, the theory of MPS [myofascial pain syndome, also MFS] caused by TrPs has been refuted.“ Natürlich ist dies eine sehr provokativ formulierte Einschätzung, und die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten.
Schon kurze Zeit später publizierten Dommerholt und Gerwin (2015) einen detaillierten Kommentar zu der Arbeit von Quintner et al., in der sie zu einem nicht minder vernichtenden Urteil kamen: „The current paper demonstrates that the Quintner et al. paper is a biased review of the literature replete with unsupported opinions and accusations. In summary, Quintner et al. have not presented any convincing evidence to believe that the Integrated TrP Hypothesis should be laid to rest.“ Auch diesen Kommentar von Dommerholt und Gerwin sollten alle gelesen haben, die sich mit TrP/MFS beschäftigen (frei verfügbar unter www.bodyworkmovementtherapies.com/article/S1360-8592%2815%2900046-7/pdf).
Streit in der Literatur
Bei diesem heftigen Streit in der wissenschaftlichen Literatur geht es um genau das, was eingangs bereits ausgeführt wurde: Wir behandeln TrP/MFS, wissen aber nicht genau, was TrP/MFS tatsächlich sind. Es ist bis heute nicht gelungen, die Ätiologie und Pathogenese von TrP/MFS mit bildgebenden Verfahren, biochemischen Analysen, Biopsien oder Post-mortem-Untersuchungen aufzuklären (Details finden sich bei Quintner et al. und Dommerholt und Gerwin). Dies gilt auch für die neuerdings stark propagierte Ultraschall-Elastografie (siehe z.B. Turo et al., 2015). Grob gesagt wird bei diesem Verfahren ein Gewebe (inneres Organ, Muskel) in unterschiedlichen Spannungs- oder Dehnungszuständen geschallt und Veränderungen im Vergleich zu anderem Gewebe (z.B. der gesunden Gegenseite) oder im Vergleich vor und nach einer Behandlung analysiert.
Es ist völlig richtig, dass man mit Ultraschall-Elastografie veränderte Muskelspannung nach einer Behandlung nachweisen kann – aber dies besagt eben nicht, dass dieses Verfahren zum bildgebenden Nachweis von TrP/MFS geeignet ist. Insgesamt gibt es bis heute keine Biomarker für TrP/MFS, d.h. messbare Parameter biologischer Prozesse, die prognostische oder diagnostische Aussagekraft für das Vorliegen oder Nicht-Vorhandensein von TrP/MFS haben.
Tiermodelle funktionieren nicht
Darüber hinaus gibt es kein einziges auch nur halbwegs brauchbares Tiermodell zu TrP/MFS, was in dreifacher Hinsicht zum Nachdenken anregen sollte: (i) Das Fehlen geeigneter Tiermodelle ist einer der Hauptgründe dafür, dass sich die Grundlagenforschung so wenig mit TrP/MFS beschäftigt – viel zu wenig, wenn man die oben genannten Zahlen von Murray et al. zum DALY Ranking bedenkt. (ii) Ein vollständiges Tiermodell zu TrP/MFS kann und wird es aber niemals geben, denn das Phänomen von übertragenen Schmerzen, die durch Druck auf den zugehörigen Triggerpunkt gesteigert werden, kann im Tiermodell nicht nachgestellt werden. (iii) Aller Wahrscheinlichkeit nach entwickeln Tiere keine TrP/MFS, da sie nicht im Büro sitzen, aber auch keinen Sport treiben.
Der letzte Aspekt mag ungewöhnlich erscheinen, ist aber von ganz entscheidender Bedeutung für die Auseinandersetzung mit TrP/MFS in der modernen Sportmedizin. Konkret wird hier die Frage nach der „physiologischen“ Verwendung des Stütz- und Bewegungsapparates beim Menschen angesprochen, d.h. der Primärprävention von TrP/MFS. Die populärwissenschaftliche Literatur ist in dieser Hinsicht voll von Ratschlägen (die Beschreibung „gute Ratschläge“ wird hier bewusst vermieden), die aber allesamt einen ganz wichtigen Aspekt vergessen: Aller Wahrscheinlichkeit nach macht die in der Evolution einzigartige kognitive Entwicklung des Menschen eine „physiologische“ Verwendung seines Stütz- und Bewegungsapparates gar nicht mehr möglich.
„Abreagieren“ ist unnatürlich
Um nur ein Beispiel zu geben: Das „Abreagieren“ zum Beispiel bei einer intensiven Partie Squash (mit all ihren möglichen negativen sportmedizinischen Konsequenzen) nach stundenlangen zermürbenden Verhandlungen im Büro wird von vielen Menschen als wohltuend empfunden, ist aber in der Natur auch nur annähernd ohne Beispiel. Von daher greift die Idee, sich in der Grundlagenforschung wegen des Fehlens von Tiermodellen nicht oder nur kaum mit TrP/MFS zu beschäftigen, viel zu kurz.
Was wir tatsächlich dringend brauchen, ist ein neuer, ganzheitlich-wissenschaftlicher Ansatz zur Beschäftigung mit dem Phänomen TrP/MFS, der weit über das hinausgeht, was Quintner et al. an Evidenz herangezogen haben, um das Konzept TrP/MFS in ihren Augen zu widerlegen – der allerdings auch weit über das hinausgehen muss, was Dommerholt und Gerwin in ihrer Reaktion auf Quintner et al. zusammengetragen haben, um das Konzept TrP/MFS zu verteidigen. Wie ein solcher neuer, ganzheitlich-wissenschaftlicher Ansatz aussehen könnte, wird an anderer Stelle diskutiert werden. Es sei hier jedoch auf die Erfolgsgeschichten der Psychoneuroendokrinologie (derzeit über 4000 Einträge in „PubMed“) sowie der Psychoneuroimmunologie (derzeit über 2000 Einträge in „PubMed“) verwiesen, die auf ähnlichen neuen, ganzheitlich-wissenschaftlichen Ansätzen basieren.
Zwei wichtige Fragen
Zusammenfassend ergeben sich aus dem oben beschriebenen Streit zwischen Quintner et al. und Dommerholt und Gerwin zum jetzigen Zeitpunkt insbesondere die beiden folgenden Fragen:
• Wie kann man Kriterien für valide und reproduzierbare Diagnostik von TrP/MFS erstellen, wenn man eigentlich gar nicht weiß, was da genau diagnostiziert werden soll?
Quintner et al. zitieren in diesem Zusammenhang eine Arbeit von Tough et al. (2007), nach denen in der Literatur mindestens 19 verschiedene Kriterien zur Diagnose von TrP/MFS beschrieben wurden. Darüber hinaus verweisen sie auf eine Reihe von Studien, in denen verschiedene Untersucher bei denselben Patienten zu unterschiedlichen Diagnosen kamen. Insgesamt muss die Schlussfolgerung von Quintner et al. – „physical examination cannot be relied upon to diagnose a condition that is supposed to be defined by that physical examination. That is, the pathognomonic criterion for making the diagnosis of MPS is unreliable“ – sehr ernst genommen werden. Sie darf aber nicht zum Verwerfen des Konzepts TrP/MFS führen, sondern sollte als Herausforderung für den oben beschriebenen neuen, ganzheitlich-wissenschaftlichen Ansatz zur Beschäftigung mit dem Phänomen TrP/MFS verstanden werden. Alle, die heute TrP/MFS diagnostizieren und behandeln, sollten sich der Kritik von Quintner et al. bewusst sein, denn früher oder später wird diese Kritik bei den Patientinnen und Patienten ankommen und dann evtl. eine Rechtfertigungsdebatte auslösen, die in den USA evtl. schon begonnen hat und die heftige Gegenreaktion von Dommerholt und Gerwin erklären könnte (bei der übrigens auch handfeste kommerzielle Gründe eine Rolle gespielt haben können; siehe das Statement of Interests bei Dommerholt und Gerwin).
• Nach welchen Kriterien werden gerade in der modernen Sportmedizin Therapieoptionen für TrP/MFS bewertet und ausgewählt, wenn man eigentlich gar nicht weiß, was da genau behandelt wird?
Diese Frage ist fast noch kritischer als die Frage nach der reproduzierbaren Diagnostik von TrP/MFS. Man sollte sich hüten, die Diskussion an dieser Stelle mit dem Verweis auf „Wer heilt, hat Recht!“ abzubrechen. Fragt man nämlich zurück, „Wie wird denn Heilung in diesem Fall definiert?“ und bekommt dann „mittels Schmerzfreiheit“ als Antwort zurück, liegt man gerade in der Sportmedizin komplett falsch. Kreutz (2015) hat dies kürzlich in einer hervorragenden Arbeit auf den Punkt gebracht: „Die Behandlung von Triggerpunkten mit dem alleinigen Ziel der Schmerzfreiheit ist insbesondere im Spitzensport unzureichend. Schmerz stellt weder ein Frühwarnsystem noch einen suffizienten Verlaufsparameter auf dem Weg zur Systemnormalisierung dar. Auch latente (im Alltag nicht spürbare) mTP [myofasziale Triggerpunkte] stören die für die sportliche Leistungsfähigkeit wesentlichen Parameter wie Propriozeption und Muskelaktivitätsmuster. Zudem führen sie zur Muskelschwäche ohne Atrophie nicht nur des betroffenen Muskels, sondern ganzer funktioneller Ketten.“ (frei verfügbar unter www.medicalsportsnetwork.com/medical/2564,475818/Dr.-Andreas-Kreutz/Myofasziale-Triggerpunkte.html).
Fazit
Kurz gesagt: Wir brauchen eine neue, intensive Auseinandersetzung mit dem Phänomen TrP/MFS in der modernen Sportmedizin, einschließlich einem neuen, ganzheitlich-wissenschaftlichen Ansatz, vergleichbar zum Beispiel mit dem der Psychoneuroendokrinologie. Schon heute stehen verschiedene Therapieverfahren zur Verfügung, um in dem von Kreutz formulierten Konzept gemeinsam zur Anwendung zu kommen. Diese werden in der nächsten Ausgabe der sportärztezeitung vorgestellt und kritisch gegeneinander abgewogen.
Bis heute ist es nicht gelungen, die Ätiologie und Pathogenese von Triggerpunkten bzw. dem myofaszialen Schmerzsyndrom aufzuklären. Weder bildgebende Verfahren, noch biochemische Analysen, Biopsien oder Post-mortem-Untersuchungen konnten dazu beitragen. Darum brauchen wir dringend einen neuen, ganzheitlich-wissenschaftlichen Ansatz zur Beschäftigung mit dem Phänomen.
Autoren
ist Inhaber des Lehrstuhls II der Anatomischen Anstalt der Ludwig-Maximilians Universität München und wissenschaftlicher Beirat der sportärztezeitung.