Ausgehend von der zunehmend anerkannten Feststellung, dass Störungen von Haltung und Bewegung die Ursachen von Beschwerden, Verletzungen und Schmerzen sind, unter denen Millionen von Menschen in allen Lebensbereichen leiden und ihre Teilnahme an den Aktivitäten des Lebens und im Beruf einschränken, haben sich Wissenschaftler und praktisch tätige Ärzte in den letzten Jahren dieser Problematik gewidmet und Erkenntnisse und Erfahrungen zusammengetragen und unter dem Begriff „Funktionsmedizin“ in einem Buch zusammengefasst [1].
Funktionsmedizin orientiert sich am Kontinuum von Gesundheit (Funktion) über verschiedene Stufen von Beschwerden und Einschränkungen (Funktionsstörungen) bis hin zu Krankheitsbildern (Funktionskrankheiten), wie sie auch in der internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO definiert werden. Die praktische Zielstellung und der gesundheitspolitische Nutzen einer Funktionsmedizin liegt in der Erhaltung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit unter Berücksichtigung unterschiedlicher Alters- und Leistungsstufen. Die Analyse und systemische Betrachtung der einzelnen Organfunktionen zur Energiegewinnung und des Informationsaustausches bei der Absicherung der vielfältigen Bewegungsanforderungen schafft eine Grundlage für die Prävention der genannten Problemkreise, wobei im Freizeitbereich die Prophylaxe von Verletzungen durchaus einen zentralen Platz einnimmt [2].
Wir sind der Auffassung, dass auf der Basis eines betont funktionellen Herangehens
- Präventionsmaßnahmen gezielter entwickelt werden und frühzeitiger eingesetzt werden können,
- zielführendere und standardisiert messbare Parameter zur Diagnose der Funktionsstörungen bereitgestellt werden und,
- um eine hohe Güte der diagnostisch-therapeutischen Leistungen der Therapeuten und detaillierter Kenntnisse bei den Sporttreibenden und ihren Betreuern zu erreichen, ist eine wissenschaftliche Aufklärung und Schulung von Therapeuten und Sporttreibenden im Sinne einer „Motor Function Neuroscience Education“ zu entwickeln.
Die folgenden von einer Arbeitsgruppe Funktionsmedizin aufgestellten Thesen bilden für die Formulierung der einzelnen Ziele und detaillierten Aufgaben die Richtschnur [3]:
Mechanismen von Funktionsstörungen
- Das Bewegungssystem als funktionelles System dient primär der Befriedigung körperlicher und sozialer Bedürfnisse des Menschen, z. B. Nahrungsaufnahme, Fortpflanzung, Arbeit, Kommunikation (hedonisches System).
- Die Interaktion mit anderen Funktionssystemen der Energiebereitstellung (Verdauungssystem, Herz-Kreislaufsystem) und des Hormon- und Immunsystems ist die Grundvoraussetzung für eine gute Funktion des Bewegungssystems.
- Das Zentralnervensystem (ZNS) ist die übergeordnete Regulationsinstanz und selbst hierarchisch aufgebaut.
- Funktionsstörungen sind als Abweichung des physiologischen Soll- vom Ist-Zustand (messbare Größen) oder als verstellter Sollwert definiert.
- Die muskuläre und arthromuskuläre Balance als Grundlage für den alltäglichen Gebrauch und damit Umsetzung der Teil-Funktionen im Zusammenwirken unterliegt einem multi-
faktoriellen Bedingungsgefüge und Kontextfaktoren. - Einzelne Funktionen sind miteinander verbunden. Sie ergänzen, kompensieren und beeinflussen sich gegenseitig in einem funktionellen System, welches selbstorganisierend ökonomisierend ist.
- Wenn eine partielle Funktion im Zusammenwirken mit den anderen Funktionen bei der gemeinsamen Absicherung einer Leistung instabil wird, benötigen die anderen Funktionen eine funktionelle Reagibilität, um zu kompensieren / anpassen zu können. Ist dies nicht mehr möglich, wird es zu einer Ursache für die Wahrnehmung von Schmerz.
- Bewegungsmangel führt durch fehlende Reize zu einer Verminderung der Reagibilität als Maladaptation. Daraus entwickeln sich eine Reihe von Folgeprozessen, die u. a. mit den nun nicht mehr vom Muskel bei Aktivität freigesetzten Botenstoffen – Myokine zusammenhängen (IL-6, u. a.)
- Ursachen von Funktionsstörungen jeweils unter Beachtung von Alter, Geschlecht und individueller Konstitution (z. B. Spezialisierung) sind: Bewegungsmangel, Fehl- und Überlastungen, Ermüdung (zentral und / oder peripher), Widerspruch zwischen Belastung und Belastbarkeit, ungenügende konditionelle und koordinative Fähigkeiten
- Die Überforderung der Kompensationsfähigkeit führt zur symptomatischen Funktionsstörung. Einzelne Funktionsstörungen können plötzlich entstehen, wenn Beanspruchungsschwellen überschritten werden – Kipppunkte, Reversibilität ist möglich.
- Funktionsstörungen bilden sich als pathogenetische Muster mit funktionellen Abweichungen und subjektiven Wahrnehmungen ab; sie führen zu weiterer vermehrter Belastung / Fehlbelastung von Strukturen / Geweben und formieren die Zustände, welche mit erhöhter Verletzungshäufigkeit einhergehen.
Für die geforderte Motor Function Neuroscience Education liegt eine hohe Evidenz der erklärenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zum funktionellen System der menschlichen Bewegungskontrolle sowie der klinischen Erkenntnisse aus Rehabilitation, Manueller Medizin und Sportmedizin vor [1, 3].
Sportmedizinische Praxis
Ein besonders herausragendes Beispiel für die Bewegungskontrolle ist der M. popliteus im Bereich des Kniegelenks.
Er hat für die Sensoren des Kniegelenkes die wichtige Funktion für die Kapselspannung, die Translokationsbewegung und damit für die Sicherung der Gelenkfunktion, vor allem bei exzentrischen Belastungsformen. Damit erfüllt er eine Verletzungspräventionsfunktion, obwohl er hinsichtlich der Extension und Flexion keine wesentlichen Kraftvektoren entfaltet [4 – 6]. Obwohl M. popliteus in der Beugerloge des Unterschenkels liegt (Abb. 1) , entfaltet er nur eine geringe Beugewirkung ab einer Beugung des Kniegelenkes über 90°. Dabei zieht er schützend das Hinterhorn des lateralen Meniskus nach posterior und caudal. Seine wichtigste Funktion ist jedoch die Innenrotation der Tibia mit Aufhebung der Schlussrotation des Kniegelenkes [6]. Mit diesen Funktionen der Kapselstraffung, der Gelenkkörperzentrierung und der Aufhebung der Schlussrotation hat er wesentliche verletzungspräventive Eigenschaften.
Kommt es zu Verletzungen des Kreuzbandes (LCA-Ruptur), finden wir im MRT oft auch Läsionen des M. popliteus, welche jedoch häufig weder bei der Bildauswertung noch beim klinischen Befund Beachtung findet (Abb. 2 a – c). Dabei spielt er in der Rehabilitation dieser Verletzung eine entscheidende Rolle, um Re-Rupturen zu vermeiden. Nur durch eine Kokontraktion des M. popliteus kann somit die optimale Gelenkpartnerstellung justiert werden und dies bei jeder Gelenkstellung und jeder Belastung. Seine Kokontraktion ist nur aktiv untersuchbar, alle passiven Untersuchungen der Gelenke geben nur Auskunft zu Bändern, Kapseln, Menisci, einschließlich der Faszien [4].
Literatur
- Beyer L, Liefring V., Niemier K. und Seidel E. (2023) Funktionsmedizin – Funktion, Störung, Krankheit. Kiener Verlag
- Beyer L et al. (2015) Präventive manualmedizinische Untersuchung bei Läufern. Manuelle Medizin 2015 DOI 10.1007/s00337-015-1236-3
- Beyer L. Niemier K. (2018) Funktionsstörungen am Bewegungssystem. Manuelle Medizin 2018 · 56:293–299; https://doi.org/10.1007/s00337-018-0437-y
- Seidel E. J. (2023) Ko-Kontraktionen – Unverstandene Muskelinteraktionen in Praxis und Sport Sportärztezeitung 4/2023; S. 60 – 63 ISSN 2365-875467
- Tittel, K.; u. M. Seidel, E.J. (2016)Beschreibende und Funktionelle Anatomie
Auflage, Kiener-Verlag, 2016; 528 Seiten; ISBN 978-3-943324-72-3 - Tittel K. (2015) Muscle Slings in Sport – Analysing Movements in Various Disciplines Kiener Verlag München, 1st edition 2015, ISBN 978-3-943324-41
Funktion – Störung –Krankheit
Funktionsmedizin des Bewegungssystems
» Lothar Beyer, Volker Liefring, Kay Niemier, Egbert Seidel / ISBN: 9783948442248
Autoren
ist Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin und Sportmedizin mit Zusatzbezeichnungen Chirotherapie/Manuelle Medizin, Spezielle Schmerztherapie u.w. Er war von 1990 – 2022 Chefarzt des Zentrums für Physikalische und Rehabilitative Medizin am Klinikum Weimar und von 2012 – 2022 Leiter des lizensierten sportmedizinischen Untersuchungszentrums des DOSB am Klinikum Weimar. Außerdem ist er Herausgeber einiger Standardwerke der Funktions- und Sportmedizin.
ist Facharzt für Physiologie mit Lehrauftrag an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena. Er ist Herausgeber der Zeitschrift Manuelle Medizin.