Berlin 27.09.2019: In der Nachspielzeit, unmittelbar vor dem Schlusspfiff, prallten Kapitän Makoto Hasebe und Torhüter Kevin Trapp im eigenen Strafraum unglücklich zusammen. Hasebe blieb danach kurzzeitig bewusstlos am Boden liegen.
„Das am wenigsten registrierte, zu selten diagnostizierte und am meisten unterschätzte Schädelhirntrauma ist bei weitem die Gehirnerschütterung“
(Brain Trauma Foundation, www.braintrauma.org).
In Deutschland wurden in der Saison 2015/2016 knapp 130 Schädelhirnverletzungen bei Schwerpunktsportarten wie Basketball, Eishockey, Fußball und Handball diagnostiziert und gemeldet. Die Prävalenz lag sportartübergreifend bei 3,6 %, die kumulative Saisoninzidenz bei 0,04 Schädelhirnverletzungen je eingesetztem Sportler. Der höchste Anteil an Schädelhirnverletzungen findet sich im Eishockey. Im Fußball wurden 0,6 Verletzungen im Bereich des Kopfes pro 1000 Stunden registriert. Probleme ergeben sich insbesondere am Spielfeldrand, wenn in wenigen Minuten die Entscheidung über eine weitere Teilnahme des Fußballers am Spiel entschieden werden soll. Hinzu kommt, dass zahlreiche Sportler selbst nach einer diagnostizierten leichten Schädelhirnverletzung direkt wieder auf das Spielfeld oder viel zu früh in den Wettkampfbetrieb zurückkehren [1]. Offensichtliche Symptome wie Bewusstlosigkeit oder Erbrechen waren selten zu beobachten. Trotzdem kann es bereits bei leichteren Kollisionen, insbesondere solchen mit rotatorischer Komponente des Kopfes zu diffusen axonalen Verletzungen des Gehirns kommen. Beim Kopfanprall-trauma können bis zu 40 G auf das Gehirn einwirken. Neben einem möglichen Ödem sind hier auch kognitive und motorische bis hin zu neuroendokrine Defizite möglich, die erst im Verlauf reversibel sind. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass eine Schädelhirnverletzung das allgemeine Risiko für weitere Verletzungen an anderen Körperregionen bis zu 50 % erhöhen kann, wie eine Studie unter männlichen Profifußballern ergab [2]. Weitere Folgen können Fehleinschätzungen von Spielsituationen und damit verbundene spielentscheidende Momente sein wie bspw. nach einem Kopftrauma an Loris Karius durch Sergio Ramos im Champions League Finale von FC Liverpool gegen Real Madrid im Mai 2018.
In jüngster Vergangenheit hat das Interesse an der Thematik Schädelhirntrauma im professionellen Sport stark zugenommen. Dies zeigen auch die Handlungsempfehlungen Schädelhirnverletzung der DGUV und die vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft im Oktober 2016 veröffentlichte Expertise „Schädelhirnverletzungen im deutschen Spitzensport“. Das Schädelhirntrauma bezeichnet jegliche Verletzung des Schädels, die mit einer Schädigung des Gehirns einhergeht. Durch die primäre Schädigung wird eine Reihe von extra- und intrakraniellen Prozessen angestoßen, die zu Veränderungen auf zellulärer, biochemischer und molekularer Ebene (sogenannte sekundäre Schädigung) führen und zu einer weiteren Ausbreitung des Zellschadens beitragen können. Die Häufigkeit von sekundären Schäden nach einem Schädelhirntrauma wird in Autopsie-Studien mit 70 bis 90 % angegeben. Die Prozesse der sekundären Schädigung entwickeln sich über mehrere Stunden bis Tage und können Wochen andauern. Nach einem leichten Schädelhirntrauma entwickeln ca. 20 – 80 % der Patienten ein sogenanntes akutes posttraumatisches Syndrom. Am häufigsten ist der posttraumatische Kopfschmerz mit 22 %. In ca. 10 – 15 % der Fälle geht das akut in ein persistierendes chronisches posttraumatisches Syndrom über, welches unter anderem gekennzeichnet ist durch länger als 3 – 6 Monate persistierende zervikozephale Schmerzen und/oder „neurasthenisch depressive Beschwerden“. Dies kann auch nach zu frühem Wiedereinstieg ins Mannschaftstraining nach SHT auftreten. Den behandelnden Ärzten kommt daher eine besondere Rolle zu, da die genaue Aufklärung über mögliche Komplikationen und eine regelmäßige neurologische Verlaufskontrolle das Risiko reduzieren, ein chronisches posttraumatisches Syndrom zu entwickeln.
Medizinische Herausforderung
Schädelhirnverletzungen stellen in mehrfacher Hinsicht Sportvereine und die betreuenden Mediziner vor eine große medizinische Herausforderung. Einerseits gestaltet sich die Diagnostik leichter Schädelhirnverletzungen am Spielfeldrand als sehr schwierig. Andererseits wird in den Neurowissenschaften sehr intensiv darüber diskutiert, dass wiederholte Schädelhirnverletzungen die Wahrscheinlichkeit eines chronisch degenerativen Prozesses im Gehirn deutlich erhöht. Dieses Krankheitsbild manifestiert sich meist erst Jahre später in der Sportlerkarriere oder nach Karriereende. In den letzten Jahren finden sich immer wieder Hinweise auf Langzeitfolgen nach leichtem Schädelhirntrauma inklusive Gehirnerschütterungen beim Sport, die auch als chronische traumatische Enzephalopathie (CTE) bezeichnet werden. Die Entdeckung dieses jungen Krankheitsbildes hat vor allem in den angloamerikanischen Ländern zu einem medialen Aufsehen und einer völlig veränderten Wahrnehmung zuvor verharmloster Kopfverletzungen geführt. Per Definition ist die CTE eine progressive neurodegenerative Erkrankung, die nach mehrfachen leichten Schädelhirntraumata, Gehirnerschütterungen und subklinischen Hirntraumata auftreten kann. Hinsichtlich der klinischen Zeichen finden sich Verhaltensmerkmale/psychiatrische Merkmale bis hin zur Suizidalität, kognitive Veränderungen bis hin zu Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, Sprachstörungen und motorische Funktionseinschränkungen, wie Dysarthrie und Gangstörung sowie ein Tremor. Des Weiteren existieren Hinweise darauf, dass auch das Schädelhirntrauma ein Risikofaktor für die Entstehung einer Alzheimer-Demenz sein könnte. In der Gesamtbetrachtung besteht der Verdacht, dass repetitive Gehirnverletzungen neurodegenerative Folgen nach sich ziehen können [3]. Systematische Analysen vor allem Longitudinalstudien, die epidemiologische Aussagen zulassen, sind jedoch noch nicht verfügbar.
Trotz der insgesamt positiv zu bewertenden Entwicklung ist die Diagnostik, die Behandlung und die Rehabilitation und die Fallsteuerung beim Schädelhirntrauma aufgrund der Komplexität und zum Teil der Bagatellisierung weiterhin eine große Herausforderung. Beispielsweise zeigt sich bei Auswertung der Ausfallzeiten der wenigen der VBG gemeldeten Schädelhirntrauma, dass viele Sportler bereits weitaus früher als erst nach frühestens sechs Tagen, wie per internationalem Konsens empfohlen, ins Training wiedereinsteigen [1]. Um beim Eintritt eines Schädelhirntraumas einen Vergleichsmaßstab zur Verfügung zu haben, wird sowohl von der VBG als auch von der Deutschen Fußballliga seit 2019 die Durchführung eines neurologischen und neuropsychologischen Basistestes vor der Saison empfohlen. Die erhobenen Werte sollen als Referenz dienen und können bei einem akuten Schädelhirntrauma und einer erneuten Messung genutzt werden, um wichtige Hinweise für die Weiterbehandlung oder möglicherweise Chronifizierung zu liefern, Störungen im kognitiven Leistungsbild aufzudecken und einen für den jeweiligen Sportler abgestimmten Plan für einen Return-to-Competition (RTC) zu entwickeln. Nach SHT umfasst die Behandlung vor allem erst einmal Ruhe nach dem Motto „rest as needed and as tolerated“, im Späteren bei Symptomfreiheit nach ca. 5 – 6 Tagen Aufnahme des regulären Trainings- bzw. Spielbetriebes. Erst danach sollte eine Rückkehr zum Spielbetrieb bzw. Wettkampfbetrieb erwogen werden. Die Behandlungsstrategie folgt üblicherweise 6 Rehabilitationsstufen von 1 (keine Aktivität) bis 2 (leichte aerobe Übungen), 3 (sportartspezifische Übung), 4 (Training ohne Körperkontakt), 5 (Training mit Körperkontakt) nach ärztlicher Freigabe sowie 6 (Rückkehr zum Spiel nach ärztlicher Freigabe).
Lösungsvorschlag
Die Autoren haben vor der Saison 2019 gemeinsam ein Assessment entwickelt und implementiert, welches sowohl den Faktor Zeit als auch die Dimensionen Objektivität, Reliabilität und Validität berücksichtigt. Diese Basistestung umfasst eine Trauma-, insbesondere Kopftrauma-spezifische Anamneseerhebung, einen neurologischen Status mit besonderem Fokus auf die Systeme Hirnnerven, Gleichgewicht und Koordination sowie eine neuropsychologische Testung zur Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprüfung, im konkreten Fall das Frankfurter Aufmerksamkeits-Inventar FAIR 2. Der neuropsychologische Test ist ein Paper-Pencil-Verfahren zur Aufmerksamkeits- und Konzentrationsdiagnostik in den Dimensionen Leistung, Qualität und Kontinuität, die Bearbeitungszeit beträgt ca. sechs Minuten. Der FAIR kann sowohl als Einzel- als auch als Gruppentest durchgeführt werden. Es bestehen vielfältige und gut publizierte Einsatzmöglichkeiten zur Erfassung interindividueller Unterschiede in Aufmerksamkeitsleistung und Konzentrationsfähigkeit für den Altersbereich 9 bis 72 Jahre in allen psychologischen Praxisfeldern sowie auch in der Sportpsychologie. Vorteile des Tests sind die hervorragende Reliabilität und Validität, die Gruppentauglichkeit, die Einfachheit und die Geeignetheit zur Verlaufskontrolle. Im Unterschied zu anderen ähnlichen Tests weist der FAIR 2 eine erhöhte Testfairness sowie auch Unverfälschbarkeit auf. Ein weiterer Vorteil ist das als Test-Item leicht fassbare visuelle Zeichen konstruiert wurden, die sich aus Kreisen und Quadraten zusammensetzen und damit kultur- und sprachunabhängig sind [4]. Nach Ansicht der Autoren waren folgende Postulate in der Entscheidung für diesen Test bedeutsam: zeitliche Limitierung, Reize leicht erfassbar und geläufig, Reize enthalten zwei Dimensionen, Reizverteilung nach wahrscheinlichkeitstheoretischen Überlegungen, simultane Betrachtung der Reizdimensionen, Protokollierung des Arbeitsverhaltens, feste Reihenfolge wird eingehalten und kontrolliert, nur durch Konzentration erreichte Leistungen werden bewertet, Erfassung von Qualitäts-, Quantitäts- und Gesamtkonzentrationswert.
Testaufbau: Der Nutzen des beschriebenen Gesamtassessments ergibt sich aus nachfolgenden Überlegungen: einerseits Prävention mit Bewusstseinsbildung bei Sportlern, Trainern, Therapeuten, gegebenenfalls Identifikation einer Vorbelastung, Erfassung kognitiver Parameter in der Leistungsdiagnostik, durch individuelle Vergleichswerte können nach einem Trauma Einschränkungen besser eingeschätzt werden, die Versorgung nach einem Schädelhirntrauma kann erleichtert bzw. die weitere Behandlung individuell gestaltet werden, die Vergleichswerte liefern wichtige Entscheidungsparameter, ob der Sportler wieder in Training oder Wettkampf einsatzfähig ist. Zudem ist die Durchführung wenig zeitintensiv (maximal 30 min pro Spieler). Was kann passieren, wenn keine zeit- und fachgerechte Versorgung stattfindet: kurzfristig können spielentscheidende Fehler entstehen durch kognitive Einschränkungen, eine erhöhte allgemeine Verletzungswahrscheinlichkeit, 4- bis 6-fache Erhöhung des Risikos für weitere Kopfverletzungen, kognitive körperliche und psychische Beschwerden länger als nötig, das Risiko für ein „Second Impact Syndrom“ steigt: „It´s better to miss one game than the whole season!“
Fazit
(Schädel-)Hirnverletzungen, insbesondere nach leichten Traumen, z. B. im Rahmen repetitiver Kopfballbelastung, sind noch immer eine im Profifußball unterschätzte Problematik, insbesondere da Spätschäden wie neurodegenerative und neuropsychiatrische Erkrankungen auch nach Karriereende möglich sind. Prävention, Diagnostik, Verlaufsdokumentation und eine spezifische individualisierte Therapie und Rehabilitation sollten einen hohen Stellenwert einnehmen, sowie einer interdisziplinären multimodalen und standardisierten Strategie folgen. Die Vereine sollten dahingehend ihre Fürsorgepflicht gegenüber den meist sehr jungen Spielern wahrnehmen. Die regelhafte Einbindung eines neurologischen und neuropsychologischen Sachverstandes ist dringend zu empfehlen, dabei sind spezialisierte „Concussion Center“ zu bevorzugen.
Literatur
[1] VBG, V. S. (2016). Analyse des Unfallgeschehens in den zwei höchsten Ligen der Männer: Basketball. Eishockey, Fußball & Handball.
[2] Nordström, A., Nordström, P., & Ekstrand, J. (2014). Sports-related concussion increases the risk of subsequent injury by about 50% in elite male football players. Br J Sports Med, 48(19), 1447-1450.
[3] Gänsslen, A., Krutsch, W., Schmehl, I., Rickels, E. (2016). Chronisch traumatische Enzephalopathie: Wie Sportverletzungen das Gehirn schädigen können. Dtsch Arztebl, 113(37): [13]
[4] Moosbrugger, H., & Reiß, S. (2004). Das Frankfurter Aufmerksamkeits-Inventar (FAIR). Diagnostik von Konzentration und Aufmerksamkeit, Tests und Trends, 3, 103-118.
Einwurf der Redaktion: Laut schottischen Forschern der Universität Glasgow und der Hampden Sports Clinic, welche insgesamt 7676 ehemalige schottische Fußballprofis (1900 – 1976) mit 23028 Nichtsportlern verglichen, sterben Exprofis dreieinhalbmal häufiger an den Folgen neurodegenerativer Erkrankungen. Bei Alzheimer als zumindest mitverantwortliche Todesursache ist das Risiko sogar um das Fünffache erhöht. (Quelle: http://www.thefa.com/news/2019/oct/21/field-research-study-findings-211019)
Autoren
ist Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin und seit 2018 Mannschaftsarzt von RB Leipzig. Zuvor war er als Gründungsmitglied des Athleticums am Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf seit 2012 für die medizinische Betreuung des HSV, zunächst für das komplette NLZ, von 2014 – 2017 auch stellvertretend für die Bundesligamannschaft zuständig. Spezialgebiete: konservative Orthopädie, alternative Heilmethoden, Mikronährstofftherapie. Außerdem ist er wiss. Beirat der sportärztezeitung.
ist Direktor der Kliniken für Neurologie, Stroke Unit und Frührehabilitation am BG Klinikum Bergmannstrost in Halle/S. Er ist Facharzt für Neurologie, Pharmakologie und Toxikologie u.a. mit den Spezialgebieten Neurotraumatologie und Neurotoxikologie. Außerdem ist er seit 2018 als Beratungsarzt der VBG tätig. Darüber hinaus ist der aktive Judoka (1. Dan) seit 2012 Mannschaftsarzt des Judoclubs Leipzig (1. Bundesliga).