Neurozentrisches Training ist ein hirnbasierter Ansatz zur Leistungsoptimierung und Schmerzlinderung/ -prävention. Wie Bewegung entsteht auch Schmerz im Gehirn. Daher ist es unerlässlich das Gehirn in moderne Präventions- und Rehabilitationsprotokolle miteinzubeziehen. Dabei beinhaltet das Training maßgeblich Bewegungen. Bewegungen, durch die gezielt einzelne Hirnareale aufgebaut und gestärkt werden.
Welche Hirnareale aufgebaut und gestärkt werden sollten ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. In dem Training bedienen wir uns leichter Bewegungstests um genau das herauszufinden. Unter anderem nutzen wir den Ansatz aktuell in unserer App „heyvie“ zur Anwendung bei Migräne. Menschen, die unter Migräne leiden, haben bestimmte Muster im Gehirn, die sich in ihren alltäglichen Bewegungen reflektieren. So ist der Nacken zum Beispiel oft fest und das Gleichgewichtssystem kann nicht akkurat arbeiten. Häufig wird eine Überempfindlichkeit der Augen angegeben. Augen, Gleichgewichtssystem und Nackenmuskulatur arbeiten stark zusammen. Kein Muskel im Körper kann sich so präzise bewegen wie unsere Augen. Die Verknüpfung von Nervenzelle zu Muskelfaser – auch motorische Einheit genannt – macht das mehr als deutlich. In unserer unteren Extremität können bis zu 1.000 Muskelfasern in Verbindung mit einem Motoneuron eine muskuläre Einheit bilden. In unserer äußeren Augenmuskulatur ist der Quotient bei 5:1. Das heißt, unsere Augen haben – allein von der Anatomie her – die Fähigkeit sich unglaublich genau zu bewegen. Ist unser Nacken jedoch instabil und unser Gleichgewichtssystem nicht akkurat, können unsere Augen nicht ihre vollen Fähigkeiten entfalten. Sie müssen sozusagen auf einem wackeligen Fundament äußerst präzise Bewegungen ausführen. Die Folge: Visuelle Reize sind überfordernd. Hier kommt neurozentrisches Training ins Spiel. Durch gezielte Reizsetzung und strukturelles Aufarbeiten von zentralen Strukturen werden Systeme rund um Nacken, Augen und Gleichgewicht stabilisiert. Visuelle Reize sind nicht mehr in dem Maße überfordernd und Attacken können so reduziert werden – in Frequenz als auch in Intensität.
Doch wie funktioniert das genau?
Grob kann man sagen, dass Bewegung auf drei Säulen aufbaut. Zum einen die Arbeit, die unsere Augen und damit das visuelle System leisten, dann Propriozeption, also die Fähigkeit die Lage unseres Körpers im Raum zu kennen und schließlich Gleichgewicht – die Kenntnis über die Orientierung in Bezug zur Schwerkraft und die Ansteuerung von Muskulatur, die uns die Aufrichtung gegen eben diese erlaubt. An einer Bewegungsentstehung sind diese drei Systeme maßgeblich beteiligt. Wollen wir mit unserer Hand nach der Tasse Kaffee greifen, muss der Bewegungsplan, den unser Gehirn erstellt hat, ausgeführt werden. Dazu müssen wir wissen wo sich unsere Hand im Raum befindet, das propriozeptive System wird also beansprucht. Wir müssen den Abstand zwischen Hand und der Tasse Kaffee einschätzen können, damit unsere Greifbewegung präzise ist und wir uns nicht den Kaffee über unseren Schreibtisch kippen, weil wir denken, sie würde weiter wegstehen. Das visuelle System leistet die Einschätzung der Distanz über Tiefenwahrnehmung. Gleichzeitig muss unsere Wirbelsäule stabilisiert werden. Durch die Bewegung unserer Hand ändert sich unser Körperschwerpunkt. Die Wirbelsäule muss reflexiv angesteuert werden, um die Bewegung der Hand auszugleichen. Gerade kleine Bewegungen am Äußeren des Körpers haben durch den großen Hebel starke Auswirkungen auf die Körpermitte.
Alles in allem müssen also verschiedene Systeme in unserem Körper zusammenarbeiten um eine präzise Bewegung zu ermöglichen. Was passiert demnach, wenn Informationen aus den jeweiligen Systemen fehlen und wie kann man diese Systeme systematisch aufbauen? Ein Beispiel: Uns fehlt Information an unserem rechten Handgelenk. Durch eine ältere Verletzung bedingt haben wir eine Narbe und das Gefühl über der Narbe ist herabgesetzt. Die Konsequenz: Unser Gehirn weiß nicht mehr zu 100% wo sich unser Handgelenk im Raum befindet. Statt also, während wir nach unserer Tasse Kaffee greifen, das Handgelenk abzukippen, bewegen wir womöglich den ganzen Arm aus Ellenbogen- und Schultergelenk. So vermeiden wir die Abkippbewegung des Handgelenks unbewusst. Warum vermeiden wir Bewegungen über Körpergebieten wo unser Gefühl, wie im Beispiel oben durch Narben, herabgesetzt ist? Die Aufgabe unseres Gehirns ist Sicherheit. Sicherheit für den Organismus und damit einhergehend das Sicherstellen des eigenen Überlebens. Das steht an erster Stelle. Alles, was irgendwie dazu führt unsere Sicherheit und unsere physische Unversehrtheit zu beeinträchtigen, bedeutet im ersten Schritt Gefahr und wird, falls möglich, vermieden. Fehlen uns nun Informationen über unser Handgelenk kann unser Gehirn nicht vorhersagen was passiert, wenn wir es bewegen. Es weiß schlichtweg nicht ob die Bewegung sicher ist. Nach dem Motto „better safe than sorry“ gleicht unser Gehirn die Bewegung nun so an, dass wir das Handgelenk nicht bewegen müssen. So bleibt im ersten Schritt unsere körperliche Unversehrtheit bestehen und wir müssen uns nicht mit Situationen beschäftigen, die wir nicht vorhersagen können. Für unser Gehirn bedeutet das Sicherheit.
Wieso Ausweichbewegungen bestmöglich vermieden werden sollen, ist eine andere gute Frage. Rein energetisch betrachtet ist es ein viel höherer Aufwand den ganzen Arm zu bewegen anstatt das kleine Handgelenk abzukippen. Es verbraucht schlichtweg mehr Energie, mehr ATP im Muskel, mehr Glucose aus dem Blut. Greife ich einmal am Tag nach meiner Tasse Kaffee, ist das natürlich nicht schlimm. Aber es bleibt nicht bei der einen Bewegung für die kompensiert werden muss. Wir führen am Tag unzählige Bewegungen aus, bei denen, nach dem Beispiel oben, unser Handgelenk lieber bewegt werden würde statt den ganzen Arm durch den Raum zu bewegen. Wir verschwenden unnötigerweise Unmengen an Energie. Darüber hinaus bleibt es nicht bei dem Handgelenk. Wir haben über unser Leben hinweg viele Verletzungen akkumuliert. Die einen haben wir gut aufgearbeitet, andere weniger gut. Wir haben nicht nur ein System für das wir kompensieren müssen sondern mehrere. Zwar arbeiten diese Systeme redundant und können Teile der Arbeit des anderen übernehmen, dennoch ist diese Kompensation ab einem gewissen Punkt ausgereizt. Die Folgen: Schmerzen, Unbeweglichkeit oder auch Krankheiten wie beispielsweise Migräne.
Wie arbeiten wir die Systeme strukturell auf?
Wie oben erwähnt arbeiten wir uns entlang der Propriozeption, des visuellen Systems und des Gleichgewichtsorgans. Bei Menschen, die unter Migräne leiden, fangen wir oft an der Propriozeption und Oberflächensensibilität des Nackens an. Sind wir nicht in der Lage unseren Nacken bewusst adäquat zu spüren und zu bewegen, ist die reflexive Kontrolle, auf die wir nun einmal angewiesen sind, beeinträchtigt. Wir bringen unseren Kundinnen und Kunden also bei ihre Nackenmuskulatur präzise anzusteuern. Eine Art Bewusstseinstraining dafür, wo sich die einzelnen Muskeln befinden, wie sie zusammenarbeiten sollten und welche Bewegungen der Nacken überhaupt machen kann. Das Ziel von dem Ganzen: Das Wiedererlernen von Bewegungen, die eventuell nicht mehr ausgeführt wurden, weil das Gehirn aus Sicherheitsgründen diese Bewegungen blockiert hat. Ähnlich dem abgekippten Handgelenk sehen wir bei Migräniker:Innen oft eine fehlende Kontrolle in der Nackenmuskulatur.
Was bedeutet in dem Kontext nun neurozentrisches Training?
Propriozeption ist im Endeffekt eine Fähigkeit. Die Fähigkeit Informationen aus der Körperperipherie aufzunehmen, zu verarbeiten um dann zu wissen wo sich die einzelnen Gliedmaßen im Raum befinden. Zwar ist die Fähigkeit der Informationsaufnahme im ersten Schritt keine Fähigkeit des zentralen Nervensystems oder gar des Gehirns, jedoch muss unser Gehirn zwangsläufig diese Informationen interpretieren um daraus einen Sinn zu erstellen. Die Muskelspannungen von 30 Muskeln alleine als Informationen sind wenig wertvoll. Erst durch die Verarbeitung der Informationen bekommen wir ein Bild für unseren Körper im Raum. Genau dafür ist unser Nervensystem verantwortlich. Neurozentrisches Training schaut sich also von der Informationsaufnahme, -verarbeitung bis zur Bewegungsentstehung und -ausführung alle Schritte an und überprüft wo genau kompensiert wird. Das lösen dieser Kompensationsmechanismen birgt großes Potential, gleichermaßen für Bewegungs- und Schmerzproblematiken.
Einen Vortrag zu Neurozentriertes Training bei Migräne wird Hady Daboul am 18.09.2022 auf dem NEURO INNOVATION DAY 2022 in Frankfurt halten.
Der 1. NEURO INNOVATION DAY bedeutet einen Tag voller abwechslungsreicher Praxisworkshops und Vorträge sowie guter Gespräche zwischen Teilnehmern, Referenten und den Veranstaltern. Der NEURO INNOVATION DAY 2022 zeigt dir die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten neurozentrierter Übungen – über den Leistungssport hinaus. Er greift das Thema sportart- und therapieübergreifend auf, wird dich motivieren und dir Tests und Übungen zur direkten Einbindung in dein persönliches Setting zeigen.
Für diese besondere Neuroathletik Ausbildung konnte das ARTZT Institut zusammen mit der Deutschen Akademie für Neuro-Performance viele erfahrene Referenten gewinnen, die sich seit Jahren aktiv mit dem Thema neurozentiertes Training beschäftigen. Darüber hinaus freuen wir uns, diesen Tag beim Landesssportbund Hessen, einem Treffpunkt des Sports, durchführen zu können.
Weitere Infos sowie Anmeldemöglichkeiten dazu finden Sie HIER
Mehr Infos zur heyvie App, dem neurozentrischen Pocket Coach für weniger Migräne, Rückenschmerzen & Stress finden Sie HIER
Autoren
ist Arzt, Neurowissenschaftler und spezialisiert auf neurozentrisches Training (zertifiziert). Von März 2015 - April 2021 war er Coach in neurozentriertem Training, von September 2019 - März 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter mit akademischem Abschluss am IfADo - Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund. Seit April 2021 ist er Chief Scientific Officer & Founder heyvie.