Als „Schwimmer-Schulter“ werden rezidivierende Beschwerden bezeichnet, die in den Schulter- oder Gleno-humeral-Gelenken aktiver Kraulschwimmer auftreten. Diese Schmerzen werden auch in Englischer Sprache als „subacromial impingement-syndrom“ bezeichnet und sie gehen mit einer Schwächung der Muskeln und mit einer Minderung der Bewegungsweite einher.
Wer im Training täglich 2.000 bis 3.000 Meter mit der Schwimmart Kraulschwimmen absolviert, muss dabei rund 1.500-mal die rechte und ebenso oft die linke Hand zyklisch über und unter Wasser bewegen. Bei zehn Trainingseinheiten pro Woche kommt es zu 15.000 Rotationen im Schultergelenk, das sind im Trainingsjahr 675.000-mal wiederholte Zyklen. Ziel ist es, Mängel der Bewegungsausführung unter Berücksichtigung neuer Kenntnisse biomechanischer Schwimmsportforschung im Sinne der Prophylaxe zu verhindern.
Ursachen und prophylaktische Maßnahmen
Als Ursache werden Irritationen und Entzündungs-Prozesse im Bereich des Lig. coraco-acromiale angesehen. Dieses Band kommt bei ausgeprägten Vorhebungen (oder Elevationen) des Armes (Abb. 1 und 3) in gefährliche Nähe oder in unmittelbaren Kontakt mit dem Tuberculum maius des Humerus (Abb. 1). In der sportmedizinischen Literatur [1] werden traditionell auch Ungleichgewichte in der Muskulatur und Abnutzung der Sehne des M. supraspinatus als ursächlich angesehen. Verstärktes Krafttraining an Land, gekoppelt mit Fehlstellungen des Humeruskopfes in der Pfanne soll zu ungünstigen Verschiebungen der Kraftvektoren führen. Der sportmedizinische Rat lautet, zumeist eine Minderung der muskulären Dysbalance anzustreben und Fehlbelastungen der Schulter zu vermeiden, durch ein Training der antagonistischen, dorsalen Muskeln der Rotatoren-Manschette im Rahmen des Krafttrainings. In Abb. 1 wird der Teil im traditionellen Bewegungsablauf gezeigt, welcher aufgrund funktional morphologischer Überlegungen (ohne apparative Befunde) anscheinend die schmerzhafte Schwimmer-Schulter hervorruft und somit als Pathomechanik bezeichnet wird. Die gängige Lehr-Version, die weniger präzise allgemein vom Armzug spricht, wenn die Bewegung der oberen Extremität im Focus steht, lautet: „Die Hand weit vor dem Kopf eintauchen – Daumen zuerst, Handfläche nach außen – mit der Handfläche Wasser fassen – die nachfolgende S-förmige Bahn der Hand mit schaufelförmiger Handhaltung einleiten.“ Dieser Teil soll schnell-kräftig ausgeführt werden, damit durch Hand und Unterarm der auf Wasserwider-stand basierende Vortrieb erzeugt wird. Zudem verlangt diese traditionelle Lehrmeinung ein (durchaus zwanghaftes) Beibehalten der zur Wasseroberfläche parallelen Schulterhaltung, also kein Rollen um die Körperlängsachse, nur seitliches Drehen des Gesichtes zur Einatmung. Gerade diese so plausibel erscheinende Kopfdrehung wirkt sich über die Verspannungen der Hals-Schulter-Muskulatur möglicherweise auf den Gelenkspalt im Schultergelenk aus. Er scheint schmaler zu werden und bei innen-rotiertem Humerus kann das Tuberculum maius des Humerus das Lig. coraco-acromiale berühren und reizen. Asymmetrisches Körperrollen bei Atmung stets auf der gleichen Seite dürfte den Stress auf die Befestigung des Biceps am Vorderrand des Labrum glenoidale erhöhen. Messungen oder Bilder, welche die schädigende Situation im Schultergelenk, also Berührung des Humeruskopfes und Band in der Bewegungskonstellation belegen, stehen noch aus (Überprüfungen an Land sind nicht aussagekräftig, da der Auftriebseffekt fehlt).
Neuere Erkenntnisse zur Biomechanik des Schwimmens, wie sie in den Proceedings der Kongress-Serie „Biomechanic and Medicine in Swimming“ (IAT Leipzig) zu studieren sind, zeigen, wie die Schulter durch Änderung eines Bewegungsteils schmerzfrei bleibt und zusätzlich eine Schuberhöhung erreicht wird. Nachdem es Matsuuchi et al. (2009) [2] gelungen ist, die lokale Strömung des Wassers an der Hand sichtbar zu machen und zu messen, konnten die Autoren zeigen, dass die weit verbreitete Meinung, der Vortrieb bei eigen-erzeugter Fortbewegung wäre eine Reaktion auf ein „sich vom Wasser abdrücken“ nicht zutrifft. Hingegen gilt und galt für die von Mensch und Tier zyklisch verdrängte Wassermassen der Impulserhaltungssatz. Biomechanisch versierte Schwimmexperten lenken die Aufmerksamkeit auf das Eintauchen der nach vorne geführten Hand und ihren Einfluss auf die Strömungsformung, bei der verdrängte Wassermassen in Rotation gesetzt werden sollen [3]. Diese Zeitspanne zu Beginn des Armzyklus wird beim Erwerb einer Schwimmart tatsächlich wenig besprochen. Hervorgehoben werden sollte, dass die Hand nicht sofort nach außen oder abwärts bewegt werden soll, sondern weiter parallel zur Wasseroberfläche vorwärts geschoben werden soll. Diese Befunde haben zu einem Paradigmenwechsel bezüglich der Schuberzeugung geführt [4]. Die rotierenden Wassermassen, die mit dem englischen Wort „Vortex“ benannt werden, bieten keine stehenden Wirbel-Gebilde zum Abdrücken. Stattdessen erfahren lokale Wassermassen durch die zyklische Hand-Wasser-Interaktion ohne Unterlass eine inkonstante Impulsänderung (actio), ohne dafür die Begriffshülse „positiver Widerstand“ zu verwenden. Gemäß der Impulserhaltung wird simultan im Sinne von actio-rectio der Körper ungleichförmig beschleunigt. Um vortex-induzierte Fortbewegung im Zyklus zu erzeugen, ist von Beginn an eine geringfügige Spreizung der Finger hilfreich [5]. Durch diese Variante des Eintauchens wird lokal die Rotation von Wassermassen eingeleitet und später im Zyklus führt die Strömungsformung (keine Erzeugung stehender Wirbel) zu einer höheren Vortriebs- (oder Schub-) Wirkung [2].
Wie in Abb. 2 dargestellt, ist die tatsächliche 3D- Raumbahn der Hand eine Zykloide. Dabei wird die Geschwindigkeit von Wassermassen geändert und in Reaktion bewegen wir uns gegenüber der Hand vorwärts, allein durch Impulserhalt. Die Hand ändert ihre Position stetig, ohne wirklich mit gleich hohem Tempo rückwärts bewegt zu werden, noch wird sie stets senkrecht zur Bewegungsrichtigung gehalten. Weiterhin ist zu erkennen, dass die Hände mit den Fingerspitzen führend agieren. Ein wirklich feinfühliger Schwimmer, der vieles wahrnimmt (aber vielleicht nicht in Worten beschreiben kann) wird spüren, was um seine Hand herum abläuft: Beim Eintauchen teilt die Hand das eben noch ruhende Wasser. Nun beginnen die Wasser “partikel“ zu strömen, zunächst mal zurückstauend, mal überholend davonschiessend wie in einen Vogelschwarm, um sich dann in Rotationen (eben die viel besprochenen Vortices) zu ordnen, bis sie später im Nachlauf still verstrudeln, ohne jeweils ihren Ort wesentlich gewechselt zu haben.
Aktionsskizze des vortex-generierenden Eintauchens unter Berücksichtigung der neuen Erkenntnisse
Die Hand mit den Fingerspitzen zuerst eintauchen. Mit leicht gespreizten Fingern unter der Wasseroberfläche bis zum Ende der Elevation vorwärts bewegen. Den Blick gegen den Beckenboden richten. Zur Seite der Aktions-Hand hin rollen. Die weit vorgestreckte Hand nach und nach immer mehr in Supinationsstellung bringen, um die zykloidenförmige 3D-Raumbahn einzuleiten.
Hierbei wird das Rollen um die Körperlängsachse betont. Diese Rollbewegung sollte zeitweise durch Regeln strickt unterdrückt werden, entgegen der kaum vermeidbaren Tendenz, die Aktionsseite tiefer eintauchen zu lassen als die Gegenseite, zu der hin der Kopf zum Atmen gedreht werden muss
und auf welcher der Arm über Wasser nach vorn geführt wird. Bei der Roll-Bewegung um die Längsachse des Schwimmers bis zu 90, was das Vorschwingen der Gegenhand unterstützt, kann die Kopfhaltung („Augen nach vorn!“) ohne Probleme beibehalten werden.
Das beschriebene Aktionsmuster für eine vortex-generierende Formung der lokalen Strömung – ohne Reizung der Schulterstrukturen – verlangt geringere Drehbewegung um die Längsachse des Humerus, bringt also das Tuberculum maius nicht in die gefährliche Nähe des Lig. coraco-acromiale. Damit mindert es die Gefahr eines Impingment-Syndroms. Besonders attraktiv an dem für die vortex-generierende Strömungsformung richtige Aktionsmuster ist, dass es nicht nur die Impingment-Risiken mindert, sondern auch zu höheren Schubwerten führt. Das eigen-erzeugte Fortbewegen im Wasser erfordert ein komplexes Zusammenspiel von Muskeln und Gelenken und Anpassung der neuromuskulären Kontrolle an Bedingungen „scheinbarer“ Schwerelosigkeit. An der Elevation der oberen Extremität sind Bewegungen im „scapulo-thorakalen Gelenk“ als auch im „Glenoid-Gelenk“ ausgiebig beteiligt. In Abb. 3 ist die notwendige Scapula-Bewegung skizziert, die harmonisch mit den sich periodisch wiederholenden Aktionen gekoppelt ist (neuromuskuläre Kontrolle der Rotatorenmanschette sollte immer in Verbindung mit der Scapula-Rotation diskutiert werden, was in der Ätiologie des Impingment-Syndroms bei Schwimmern wenig Beachtung fand).
Es verbreitet sich die Überzeugung, die beste Prävention sei mit der „richtigen“ Aktion der Hände, speziell beim Eintauchen, zu erreichen. Biomechanische Beobachtungen und Messungen bei Elite-Schwimmern [6] zeigen, dass diese kaum den verfügbaren Schulterbewegungsbereich überschreiten, eingeschränkte Beweglichkeit oder Schulterlaxheit kaum vorhanden sind – und natürlich würden sie mit solchen Einschränkungen auch nicht mithalten können. Schwimmer mit Schulterbeschwerden, die weiterhin Training im Wasser – natürlich in merklich geringerem Umfang – beibehalten wollten, konnte durch die die neue Variante der Handaktion vielfach entscheidend geholfen werden, zumal wenn sie für Erläuterungen und Ausprobieren offener waren. Eine spezielle Untersuchung dazu steht noch aus. Erfreulicherweise berichteten sie alsbald von zunehmender Beschwerde-Freiheit und gleichzeitig wirkungsvolleren Aktionen, also besseren Zeiten. Ein höheres Tempo, allein durch Änderungen der Aktion ist im Schwimmen auch über die Verbesserung der Wasserbewegungs-Wahrnehmung zu erklären. Ihre hohe Bedeutung ist bekannt. Die Ausdauer ist eine nützlich Voraussetzung, aber wie im triathletischen Wettkampf immer wieder zu beobachten, nicht hinreichend für schnelles Schwimmen. Nicht umsonst sagt der Schwimmer dem Triathleten „das Gespür für Wasserbewegungen macht’s“ und meint dabei die Integration von Biomechanik und sensorischer Biologie.
Fazit
Nach allem stellt sich die Frage, warum die Schwimmer-Schulter nach wie vor zu den häufigen Krankheitsbildern gehört. Aus biomechanischer Sicht ist ein regelrechter „culture change“ nötig. Wie auch die Debatte um den Einfluss wissenschaftlicher Befunde auf den Pandemieverlauf zeigt, ist das Argument „es vermindert (oder verhindert) körperliches Leiden“ nicht sehr wirksam, um eine Verhaltensänderung herbei zu führen. Es stellt also keinen sehr wirksamen Hebel dar. Im Sport wird eine Änderung der Einstellung wohl nur durch eine massenhafte Verbesserung der Zeiten in Wettkämpfen zu erreichen sein – so wie z. B. bei der Undulationsvariante des Brustschwimmens nach 1978 (Wechsel von hohem Aufrichten und tiefen Abtauchen pro Zyklus). Erschwerend kommt hinzu, dass ein Verständnis über die hohe Wirksamkeit der im Wasser erzeugten Wirbel (Vortices) nur wenig verbreitet ist. Es geht nicht darum, die eingetauchte Hand sofort mit hoher Anspannung der Hauptantriebsmuskeln relativ zum Wasser bewegen zu wollen, sondern sich so viel Zeit zu nehmen, damit die Hand-Wasser-Interaktion eine Strömung gestalten kann, die im weiteren Zyklus mit gleichem Energieaufwand eine merklich höhere Forttriebsleistung ermöglicht. Jede Einstellungsveränderung braucht viele erste Schritte auf allen Ebenen, mit denen Schwimmer kooperieren, damit es im Sinne einer Prophylaxe gelingt, die zyklische Bewegungsausführung an die Komplexität dreidimensionaler Strömungen anzupassen, damit gar nicht erst schmerzhafte, krankheitsähnliche Zustände auftreten.
Literatur
[1] Bieder, A., Ungerechts, B.E., 1994. Shoulder antagonist strength ratios in age group swimmers. In: J. Troup (ed.) VII International Symposium on Biomechanics and Medicine in Swimming, U.S. Swimming Inc., Colorado Springs, CO, S. 73.
[2] Matsuuchi K., Miwa T., Nomura T., Sakakibara J., Shintani H., Ungerechts B.E. (2009). Unsteady flow field around a human hand and propulsive force in swimming. Journal of Biomechanics Vol. 42, Issue 1: 42 – 47.
[3] Becker, T, Havriluk, R. (2014) Freestyle arm entry effects on shoulder stress, force generation, and arm synchronisation. In: B Mason (Ed.) BMS2014—Proceedings, Australian Institute of Sport, Canberra: 89 – 94
[4] Ungerechts, B. (2007) Warum schwimmen Haie und Delfine so schnell? medicalsportsnetwork (MSN) 4:50 – 53.
[5] Löhr, R., Ungerechts, B., 1976. Experimentelle Bestimmung der optimalen Fingerstellung beim Kraulschwimmen. In: Leistungssport 4, 312 – 315
[6] Persyn, U., Colman, V., Ungerechts, B.E., 2000. Diagnosis and advice in the undulating strokes requires information on global body flexibility and upper limb strength. In: R. Sanders, Y. Hong (eds.) Applications of Biomechanical Study in Swimming. The Chinese University Press, Hong Kong, 88 – 95
Weiterführeden Literatur
Ungerechts, B.E. & Grüne, A. C. (2021) Schwimmen. In: A. Güllich, M. Krüger (Hrsg.) Grundlagen von Sport und Sportwissenschaft – Handbuch Sport und Sportwissenschaft -, Springer Spektrum,
Die Autoren danken ausdrücklich Frau Michaela von Aichberger für die Erstellung der aussagekräftigen Abb. 1 bis 3
Autoren
ist promovierter Biologe und forschender Biomechaniker (Experte für die Mensch Wasser-Interaktion) an der Universität Bielefeld. Jahrzehnte unterrichtete er als Dozent für das Sportschwimmen an der Trainerakademie Köln des DOSB. Es ist Mitglied der Steering Group „Biomechanics and Medicine in Swimming“ und in Vorbereitung auf das nächste Symposium 18.–21. Juli 2022 in Leipzig.