Trotz Aufklärungsprogrammen, Arbeitsschutz und zahlreicher Präventionsmaßnahmen wurde in den letzten 20 Jahren, laut Gesundheitsreport der Krankenversicherung DAK-Gesundheit 2018, kein signifikanter Erfolg bei der Vermeidung von Rückenbeschwerden erzielt. Das Gegenteil ist der Fall.
Die stationären Behandlungen aufgrund von Rückenschmerzen haben seit 2007 um 80 % zugenommen. Etwa ein Viertel aller Arbeits-unfähigkeitstage ist auf der AU Bescheinigung mit einer ICD Diagnosen aus dem Bereich der Rückenschmerzen begründet. Unter akuten Beschwerden leidet statistisch jeder vierte Deutsche und jeder siebte leidet unter chronischen Beschwerden, also mindestens drei Monate. Regional sind vor allem die Halswirbelsäule (HWS) und die Lendenwirbelsäule (LWS) betroffen. Diese vorliegenden statistischen Angaben sind sehr umfassend. Es heißt so schön, Wissen sei Macht. Das gilt aber meiner Ansicht nach nur bedingt – erst angewandtes Wissen und die Bereitschaft, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, führt zu Veränderungen.
Gründe und Risikofaktoren
Die Gründe für die epidemieartigen Beschwer-den des Rückens sind ausreichend bekannt. Im Vordergrund stehen eine vorwiegend sitzende Tätigkeit und die damit verbundene einseitige Körperhaltung, die die meisten Menschen einen großen Teil des Tages einnehmen. Stress ist ein weiterer Risikofaktor und Auslöser für Rückenschmerzen. Bei identischer körperlicher Belastungen kann die subjektive Beanspruchung stark variieren. Bei Stress verhält es sich ähnlich. Die Wahrnehmung und Bewertung des Stresses durch den Betroffenen und seine Resilienz entscheiden über die Wirkung von Stress auf den Rücken. Weniger häufig erwähnt werden Ursachen im Bereich der inneren Organe, vor allem des Darms. So wie Beschwerden des Herzens bekanntermaßen in den Oberbauch und den linken Arm ausstrahlen können, so können Beschwerden des Dünn- und des Dickdarms zu Beschwerden der Brust- und Lendenwirbelsäule führen. Die Priorisierung der Abklärung erfolgt in der Regel in Abhängigkeit von der Facharztausbildung und der Erfahrung des behandelnden Arztes. Der niedergelassene Arzt hat in der Regel gerade bei Kassenpatienten allerdings weder die Zeit, noch das Budget, Rückenschmerzen standard-mäßig ursächlich abzuklären und zu behandeln. Ist strukturell die Ursache nicht zu bestimmen, greift die Behelfsdiagnose „unspezifischer Rückenschmerz“. Wird jedoch eine gute Diagnostik durchgeführt und eine Therapieempfehlungen ausgesprochen, so muss sich der Patient daran auch maßgeblich beteiligen. Das bedeutet in den meisten Fällen ein verändertes Bewegungsverhalten. Er muss Zeit und zum Teil auch Geld in sich investieren, in sein „höchstes Gut“ – seine Gesundheit.
Bewegung als Therapie und diagnostisches Tool
Rückenschmerzen werden wie oben schon erwähnt in spezifisch und unspe-zifisch differenziert. Hinter unspezifischen Rückenschmerzen stecken sehr häufig funktionelle Defizite, die durch Bewegungsmangel verursacht werden. Um sie kausal durch funktionelle Übungen behandeln zu können, muss man sie entsprechend erkennen. Bewegung ist nicht nur eine Therapie, Bewegung kann auch effektiv als diagnostisches Tool eingesetzt werden. Dazu existieren verschiedene Untersuchungsverfahren, z. B. ein SFMA, das Selective Functional Movement Assessment. Entwickelt wurde es ebenso wie der bekanntere Functional Move-ment Screen (FMS) von Functional Movement Systems aus den USA. Bei einem schmerzfreien Sportler wird der FMS durchgeführt, bei Schmerzen in der Bewegung ein SFMA. Gemeinsam mit weiteren Untersuchungsmethoden bieten sie dem Therapeuten die Möglich-keit, die funktionellen Aspekte von unspezifischen Beschwerdebildern des Bewegungsapparates zu erfassen und mit gezielten Übungen zu behandeln.
Algorithmus Return to Sport
Rückenbeschwerden betreffen auch den Freizeit- und Leistungssportler. Die besondere Herausforderung besteht darin, dass der Anspruch des Sportlers an seinen Rücken bei weitem höher ist, als der des Nichtsportlers. Schmerzfreiheit alleine ist keine Garantie für eine ausreichende Funktion. Unsere Therapie als Arzt oder Physiotherapeut endet aber häufig genau an dieser Stelle. Um diese Lücke zu schließen, habe ich in den letzten Jahren einen Algorithmus für den Bereich Wiedereinstiegs in den Sport – Return to Sport – erstellt. Dieser testet die wesentlichen funktionellen Fähig-keiten eines Sportlers nach einer Verletzung und unterstützt Trainer und Therapeut bei der Frage, ob ein „Return to Sport“ möglich ist. Ich differenziere zwischen den Bereichen obere Extremität, untere Extremität und Wirbelsäule, wobei ein zu Beginn erfolgender Basis Screen für alle Regionen gleich ist. Überprüft werden Mobilität, Stabilität und die neuromuskuläre Ansteuerungsfähigkeit des Sportlers. Neben grundlegenden Bewegungsmustern wird auch die Kraftausdauer im Seitenvergleich getestet.
Zwei Kriterien sind bei der Beurteilung der Funktionalität entscheidend – Funktion und Schmerz. Die beiden entscheidenden Fragen die bei der Ausführung jeder Übung gestellt werden müssen lauten daher:
- Funktioniert die Übung – also erfüllt der Sportler die Leistungskriterien?
- Verursacht die Ausführung der Übung Schmerzen?
Wird die erste Frage bejaht und die zweite Frage verneint, folgt daraus, dass keine wesentlichen Defizite oder Kompensationen vorliegen. Liegen funktionelle Defizite oder Asymmetrien vor, so können diese gezielt mit geeigneten Übungen adressiert werden. Der wesentliche Vorteil dieser Vorgehensweise liegt darin, dass Übungen ähnlich gezielt eingesetzt werden können, wie Medikamente verordnet werden. Wenn Bewegung eines der effektivsten „Medikamente“ ist, sollten wir es auch ebenso sorgfältig einsetzen. Die Aufteilung des Algorithmus in verschiedene Level vereinfacht die Durchführung. Zu Beginn wird vorwiegend die Bewegungsqualität überprüft und im zweiten Schritt die Belastbarkeit getestet werden. Der Wiedereinstieg in den Sport kann so Schritt für Schritt erfolgen. Bei jedem Level ist das Ziel der Untersuchung festzustellen, was der Sportler schon wieder machen kann und nicht ihm aufzuzeigen was er alles nicht kann. Die Durchführung kann ein geschulter Trainer, ein Therapeut oder der Arzt selber übernehmen. Ein kompletter Durchlauf des Return to Sport Algorithmus dauert etwa eine halbe Stunde – solange dauert auch ein gründliches MRT eines Wirbelsäulenabschnittes. Die detaillierte Beschreibung des Ablaufs und der verschiedenen Übungen werden vollständig in meinem Buch (Return-to-Sport: Funktionelles Training nach Sportverletzungen, Dr. Markus Klingenberg 2018, Pflaum-Verlag, siehe dazu auch Buchtipp auf S. 104 dieser Ausgabe) beschrieben. Zusätzlich wird ab diesem Jahr auch ein zweitägiger Kurs angeboten werden, der die praktische Umsetzung trainiert.
Return to Sport – Wirbelsäule
Basis Screen (Abb. 2)
- Aufrechte Körperhaltung
- Einbeinstand
- Functional Movement Screen
- Screen der Atmung
Level 1 (Abb. 3)
- Rollmuster (Rücken- in Bauchlage und umgekehrt)
- Mobilität der Halswirbelsäule
- Multisegmentale Flexion und Rotation der Wirbelsäule
Level 2 (Abb1 / 4)
- Beckenlift
- Frontstütz
- Seitstütz
- 4-Füßlerstand
- Handwechsel im Rumpfstütz
- Beinwechsel im Beckenlift
- Tragen
Typische Defizite bei Patienten und Sportlern mit Beschwerden im Bereich der LWS betreffen die Hüfte und die BWS. Funktionelle Beschwerden können ihre Ursache lokal am Ort der Beschwerden haben, sie können aber auch auf überregionalen Defiziten beruhen. Das Wissen um die Bedeutung interregionaler Abhängigkeiten ist entscheidend für viele funktionelle Beschwerden.
Fallbeispiel Tennisspieler mit Beschwerden der LWS
Männlicher Tennisspieler, Mitte 50, keine besonderen Vorerkrankungen, beruflich sitzende Tätigkeit. Die Vor-stellung erfolgt mit Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule ohne radikuläre Symptomatik. Diese treten nach dem Tennisspielen auf, zum Teil auch bei längerer Belastung. Ein Trauma ist nicht erinnerlich. Tennis spielt der Patient durchschnittlich zweimal pro Woche. Zusätzlich geht er einmal die Woche ins Fitness Studio und trainiert dort in einem Kraftzirkel alle
großen Muskelpartien.
Was beinhaltet eine klassische orthopädische Vorgehensweise?
Eine körperliche Untersuchung, bei der im Stand und im Liegen die Körperhaltung, Form der Wirbelsäule, deren orientierende Funktion, die Beckenstellung, die Beinlänge, verschiedene Nervendehnungszeichen, Kraft, Sensibilität, periphere Reflexe und Durchblutung überprüft werden. Ergänzend erfolgt bei Auffälligkeiten eine segmentale manualmedizinsiche Untersuchung, eine Bildgebung mit einem Röntgenbild und bei Privatpatienten unter Umständen eine MRT-Untersuchung. Ist eine medizinische Trainingstherapie angeschlossen, erfolgt vielleicht sogar eine gerätegestützte Kraftmessung im Sitzen an einem MED-X Gerät oder einem vergleichbaren Produkt.
Was kommt vermutlich dabei heraus?
Altersentsprechend werden die Röntgen / MRT-Untersuchungen einen altersentsprechenden Verschleiß belegen, vielleicht eine Reizung der Facettengelenke und kleinere Vorwölbungen der Bandscheiben. Die körperliche Untersuchung zeigt eine funktionelle kyphotische Fehlhaltung aufgrund der sitzenden Tätigkeit, eine eingeschränkte Mobilität beider Hüftgelenke in Innenrotation und gegebenenfalls in der aktiven Streckung bei verkürzten Hüftbeugern. Ebenso verkürzt erscheint die gesamte Beinrückseite bei reduziertem Finger-Bodenabstand.
Wie sieht die Standardtherapie aus?
Akut ein nicht-steroidales entzündungshemmendes Medikament, versicherungs- / budgetabhängig Krankengymnastik (10 x KG) und im Fall einer Beinlängendifferenz eine Einlage. Vielleicht erfolgt auch eine lokale Infiltration oder es wird ein Muskelrelaxanz verordnet.
Wo liegt das Problem?
Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden sich die Beschwerden des Patienten unter dieser Therapie verbessern und er wird wieder Tennis spielen können. Es besteht allerdings ein relativ hohes Risiko für ein erneutes Auftreten der beschriebenen LWS Beschwerden. Während die Wirbelsäule umfangreich untersucht wurde, wurden gleichzeitig andere nicht schmerzhafte Regionen ausgespart. In Verbindung mit dem sportartspezifischen Anforderungsprofil beim Tennis spielen bei diesem Patienten weitere Regionen eine wichtige Rolle, z. B. die Schulterbeweglichkeit. Um beim Aufschlag oder beim Schmetterball den Ball optimal über dem Kopf treffen zu können, benötigen wir eine gute Beweglichkeit der Schulter, der Brustwirbelsäule und der Hüfte in Extension. Gerade diese drei Regionen sind vor allem bei regelmäßiger sitzender Tätigkeit häufig in Extension eingeschränkt. Eine typische Kompensationsbewegung erfolgt in Form einer Hyperextension und Rotation der Lendenwirbelsäule. Diese kann, um bei unserem Fallbeispiel zu bleiben, eine Reizung der Facettengelenke zur Folge haben.
Fazit
Der Return to Sport Algorithmus bietet dem Therapeuten die Möglichkeit, in kurzer Zeit die interregionalen Zusammenhänge untersucht zu haben und gleichzeitig einen therapeutischen Ansatzpunkt zu entwickeln – ein Navigationssystem bei Beschwerden des Bewegungsapparates.
Autoren
ist Orthopäde und Sportmediziner. Er ist Partner einer interdisziplinären Gemeinschaftspraxis in Bonn und operativ als Belegarzt an der Beta Klinik Bonn tätig. Als kooperierender Arzt des Olympiastützpunktes Rheinland versorgt er Hobby- und Profisportler verschiedener Disziplinen. Seit 20 Jahren betreut Dr. Klingenberg Privatpersonen und Firmen als Personal Trainer. Regelmäßig bildet Dr. Klingenberg Trainer, Therapeuten und Ärzte sportmedizinisch weiter. Er ist Autor des Buchs “Return to Sport” und leitet die gleichnamige Ausbildung für das ARTZT Institut. Dieser Kurs ist seit April 2021 auch online verfügbar: https://www.artzt.eu/fortbildungen/weitere-fortbildungen/