Mit ca. 80.000 Fällen/Jahr gehört die Verletzung/Ruptur des vorderen Kreuzbandes zu den häufigsten Sportverletzungen in Deutschland. Die nichtendende Aufmerksamkeit nationaler und internationaler Medien im Zusammenhang mit entsprechenden Verletzungen bei Sportstars aus dem Bereich Fußball, Handball, Skisport, etc. führt letztlich auch zu einer verstärkten Wahrnehmung dieses Themenkomplexes im Breitensport.
Im Vorfeld der olympischen Spiele in Südkorea erlangte die aktuelle Verletzung des deutschen Medaillenhoffnungsträgers Felix Neureuther öffentliche Wahrnehmung, insbesondere da der Athlet vorübergehend kommunizierte, gegebenenfalls trotz frischer VKB-Verletzung an den Spielen teilzunehmen. Im Folgenden wird diese Verletzung hinsichtlich OP-Notwendigkeit, Transplantatwahl, Begleitverletzungen, „Return-to-Sports“ und Verletzungsprävention unter Berücksichtigung aktueller Entwicklungen diskutiert, wobei in der Kürze natürlich nicht alle relevanten Aspekte dieses intensiv beforschten Themas angesprochen werden können.
OP-Indikation
In einer 2010 veröffentlichten Studie von Frobell et al. [1] zeigten sich nach zwei Jahren keine signifikanten Unterschiede zwischen operativ und konservativ behandelten Patienten im sogenannten KOOS Score, allerdings wiesen die nicht operierten Patienten vermehrt Meniskusschäden und schlechtere Aktivitätsscores auf. Vor dem Hintergrund, dass nur etwa 70 % der betroffenen Patienten, unabhängig ob operativ oder konservativ versorgt, das ursprüngliche Sportniveau erreichen [2], entsteht zunehmend der Bedarf einer sehr differenzierten Analyse. Die Operationsnotwendigkeit richtet sich nach Instabilitätssymptomatik, Begleitverletzungen und Aktivitätsniveau. Besonders der sportlich orientierte Patient (sogenannte „high-risk-pivoting“-Sportarten) profitiert von einer operativen Versorgung zur Stabilisierung und Vermeidung progredienter degenerativer Schäden [3]. Bei relevanten Begleitverletzungen (Mehr-Ligament-Verletzungen, Meniskusschäden mit Nahtversorgung, frischen chondralen Läsionen, etc.) ist eine Rekonstruktion der zentralen stabilisierenden Struktur in der Regel unumgänglich.
Ein primär konservatives Vorgehen erscheint gegebenenfalls bei isolierten Rupturen oder Teilrupturen und geringerem Aktivitätsniveau gerechtfertigt, wobei hier heute eine Reihe validierter sogenannter „Hop-“ und „side-to-side-Tests“ (zunehmend instrumentell- bzw. video-unterstützt) zur funktionell/muskulären Analyse zum Einsatz kommen. Als besondere OP-Indikation gelten VKB-Verletzungen im Kindes- und Jugendalter mit notwendiger frühzeitiger Rekonstruktion unter Verwendung geeigneter Techniken (Sehnentransplantate mit gelenkferner Fixation), um nachgewiesene schwerwiegende degenerative Folgeschäden zu minimieren.
Operatives Vorgehen, Transplantatwahl, Begleitverletzungen
Der Operationszeitpunkt nach Verletzung wird weiterhin kontrovers diskutiert, wobei insbesondere für das Entstehen einer sogenannten Arthrofibrose nach zeitnaher operativer Versorgung keine Evidenz besteht [4]. Im klinischen Alltag hat sich jedoch zumindest bei isolierten Verletzungen und nicht professionellem Sportniveau ein Abwarten bis zur relativen Reizfreiheit etabliert. Kombinierte Verletzungen (z. B. nahtwürdige Meniskusläsionen) erfordern gegebenenfalls ein schnelles einzeitiges Vorgehen, mehrfache Operationen sind in einem spezialisierten Umfeld heute nur in Ausnahmesituationen gerechtfertigt. Im Gegensatz zu früheren, eher „isometrischen“ Rekonstruktionen, steht heute die sogenannte „anatomische“ Rekonstruktion des VKB im Vordergrund. Die in diesem Zusammenhang entwickelte Doppelbündeltechnik mit Hamstringsehnen zur Rekonstruktion der posterolateralen und anteromedialen VKB-Fasern hat bei erhöhtem operativen Aufwand bisher noch keine signifikanten klinischen Verbesserungen gegenüber anatomischen Einzelbündelrekonstruktionen gezeigt [5]. Nichtsdestotrotz wird die Doppelbündelversorgung in Zentren bei bestimmten Situationen regelmäßig durchgeführt (z. B. hohe Anforderungen an Rotationsstabilität, anatomisch ausgedehnte Insertionszonen femoral und tibial). Die intensivere Betrachtung der individuellen anatomischen und verletzungsbedingten Situationen hat aktuell zu einer Renaissance der Reparatur anstelle der kompletten Rekonstruktion geführt. Die operativen Maßnahmen reichen hier von isolierten Bündelrekonstruktionen über Stumpfaugmentationen mit Fremd- oder Eigenmaterial bis hin zu aufwendigen Refixationsnähten gegebenenfalls kombiniert mit elastischen Fixationssystemen. Diese neueren oder „wiederbelebten“ Techniken versprechen einen zumindest teilweisen Erhalt nachgewiesener propriozeptiv tätiger Rezeptoren im VKB-Stumpf und verlangen nach einer schnellen Versorgung um der Degeneration dieser Rezeptoren über die Zeit vorzubeugen [6].
Die individualisierte Betrachtung des Verletzungs- aber auch der sportartspezifischen Belastungsmuster belebt die Diskussion der „richtigen“ Transplantatwahl immer wieder neu, wobei insbesondere der Vergleich zwischen Patellarsehnendrittel als BTB-Transplantat und der 4-fach Hamstringrekonstruktion (Semitendinosus/Gracilissehne) intensiv untersucht wurde. Unzweifelhaft zeigen Knochentransplantate eine schnellere knöcherne Einheilung mit möglicherweise schnellerer Sportbelastungsfähigkeit [7] gegenüber den initial zwar extrem reißfesten (ca. 4000 Newton) 4-fach Hamstringtransplantaten mit verzögerter Einheilung in den Knochenkanal. In einer aktuell veröffentlichen Metaanalyse [8] aus 19 prospektiv randomisierten Studien mit einem follow-up von mindestens fünf Jahren zeigten sich jedoch keine signifikanten klinischen Unterschiede zwischen den Transplantaten, allerdings eine höhere Komplikationsrate bei den Patellarsehnenversorgungen im Hinblick auf Streckdefizit, vorderen Knieschmerz und Tuberositasschmerzen. In weiteren Studien wurde eine langfristig erhöhte Arthroserate gegenüber den Hamstrings postuliert, eine prospektive Vergleichsstudie [9] bei Versorgungen isolierter VKB Verletzungen konnte über einen 10-Jahreszeitraum dagegen keine Arthroseunterschiede erkennen, so dass hier doch möglicherweise eher relevante Nebenverletzungen und operative Begleitmaßnahmen für eine frühzeitige Gelenkdegeneration verantwortlich waren. Der initialen Schwächung der Streckfunktion bei BTB-Patienten stehen Beuge- bzw. Stabilisationsdefizite bei der Entnahme der VKB Agonisten Semitendinosus/Gracilissehne entgegen, die offensichtlich erst verzögert kompensiert werden können. Insbesondere bei weiblichen Patienten kann in funktionellen Analysen ein „Valguskollaps“ und eine verminderte Rotationsstabiltät [10, 11] bis zu zwei Jahren nach VKB-Plastik mit Hamstrings nachgewiesen werden. Vor diesem Hintergrund sollten insbesondere ipsilaterale Hamstringversorgungen bei gleichzeitiger relevanter Verletzung der medialen bzw. dorsomedialen Kapsel-/Bandstrukturen kritisch betrachtet werden.
Das Quadricepssehnentransplantat mit oder ohne endständigen Knochenblock verspricht, wenngleich noch nicht in gleichem Masse nachuntersucht, eine Reduktion der Strecksehnenmorbidität. Obwohl in der Breite momentan eher als Revisionstransplantat benutzt, zeigt dieses Transplantat klinisch gleichwertige Ergebnisse und kann in der Hand des Erfahrenen, ähnlich wie die Patellarsehne, knöchern implantatfrei „press-fit“ transplantiert werden, mit entsprechenden Vorteilen im Falle einer notwendigen Revision. Die regelmäßig bei Hamstringversorgungen entstehende Erweiterung der Bohrkanäle (sogenanntes „tunnel-widening“) kann vermieden werden. Demgegenüber eignen sich in der Praxis reine Sehnentransplantate in der Doppelbündelrekonstruktion, dem isolierten Bündelersatz und den Augmentationsverfahren.
Zusammenfassend gibt es das „beste“ Transplantat nicht und der Patient ist letztlich gut beraten, dem Operateur hinsichtlich der von ihm beherrschten Methode(n) zu vertrauen. Insbesondere im Leistungssport kommt im Zuge zunehmend individualisierter Betrachtung der Patientenanatomie und der sportartspezifischen Anforderungen das sogenannte „a la carte“ Vorgehen bezüglich Transplantatwahl, OP-Technik und Fixation zur Anwendung.
„Return-to-sports“ und Prävention
Der verständliche Wunsch des Athleten einer möglichst schnellen postoperativen Rückkehr in den Wettkampfsport, gepaart mit entsprechender medialer Aufmerksamkeit, hat in der Vergangenheit zu immer kürzeren Rehabilitationszeiten geführt, die letztlich auch den motivierten Breitensportler glauben ließen, spätestens sechs Monate postoperativ wieder aktiv am Wettkampfgeschehen teilnehmen zu können. Die Rerupturrate von bis zu 20 % ist sicher teilweise auch auf die zunehmend verkürzte Rehazeit mit konsekutiv funktionellen Defiziten zurückzuführen. Vor diesem Hintergrund haben sich erfreulicherweise in den letzten Jahren sportartspezifische Rehakonzepte entwickelt, verfügbar nicht nur für den Hochleistungssportler [12], die basierend auf funktionellen Testbatterien eine phasenadaptierte Rückkehr in den Sport gewährleisten, ohne den Sportler frühzeitig zu überlasten. Zur besseren Differenzierung wurden die einzelnen Rehaphasen für die verschiedenen Disziplinen nochmal in Untergruppen unterteilt, was beispielsweise im Skisport zu den Begrifflichkeiten „return-to-activity“, „return-to-sports“ und „return-to-competition“ geführt hat [13].
Die erhöhte Rate an Rerupturen ipsilateral und VKB-Rupturen kontralateral hat neben der Modifikation der Rehakonzepte auch Verletzungspräventionsprogramme zunehmend in den Focus gerückt. Wegweisend konnte vor allem skandinavische Literatur zeigen [14], dass sich die VKB-Verletzungsrate bei Einsatz funktioneller Muskelkräftigungsübungen signifikant senken ließ. Vor diesem Hintergrund entstanden z. B. fußballspezifisch das Präventionsprogramm FIFA 11+ bzw. aktuell [15] das umfangreiche Knieverletzungspräventionsheft STOP-X der Ligamentgruppe der Deutschen Kniegesellschaft. Dieses Format ist patientenanschaulich sowohl als Printversion als auch in einer videounterstützen Onlineversion einem breiten Publikum zugänglich (www.stop-x.de).
Literatur
[1] Frobell RB, Roos EM, Roos HP, Ranstam J, Lohmander LS. A randomized trial of treatment for acute anterior cruciate ligament tears. The New England journal of medicine 2010; 363: 331 – 342
[2] Shelbourne KD, Gray T, Haro M. Incidence of subsequent injury to either knee within 5 years after anterior cruciate ligament reconstruction with patellar tendon autograft. The American journal of sports medicine 2009; 37: 246 – 251
[3] Fink C, Hoser C, Hackl W, Navarro RA, Benedetto KP. Long-term outcome of operative or nonoperative treatment of anterior cruciate ligament rupture–is sports activity a determining variable? International journal of sports medicine 2001; 22: 304 – 309
[4] Kwok CS, Harrison T, Servant C. The optimal timing for anterior cruciate ligament reconstruction with respect to the risk of postoperative stiffness. Arthroscopy : the journal of arthroscopic & related surgery : official publication of the Arthroscopy Association of North America and the International Arthroscopy Association 2013; 29: 556 – 565
[5] Mayr HO, Benecke P, Hoell A et al. Single-Bundle Versus Double-Bundle Anterior Cruciate Ligament Reconstruction: A Comparative 2-Year Follow-up. Arthroscopy : the journal of arthroscopic & related surgery : official publication of the Arthroscopy Association of North America and the International Arthroscopy Association 2016; 32: 34 – 42
[6] Gao F, Zhou J, He C et al. A Morphologic and Quantitative Study of Mechanoreceptors in the Remnant Stump of the Human Anterior Cruciate Ligament. Arthroscopy : the journal of arthroscopic & related surgery : official publication of the Arthroscopy Association of North America and the International Arthroscopy Association 2016; 32: 273 – 280
[7] Xie X, Liu X, Chen Z, Yu Y, Peng S, Li Q. A meta-analysis of bone-patellar tendon-bone autograft versus four-strand hamstring tendon autograft for anterior cruciate ligament reconstruction. The Knee 2015; 22: 100 – 110
[8] Chee MYK, Chen Y, Pearce CJ et al. Outcome of Patellar Tendon Versus 4-Strand Hamstring Tendon Autografts for Anterior Cruciate Ligament Reconstruction: A Systematic Review and Meta-analysis of Prospective Randomized Trials. Arthroscopy : the journal of arthroscopic & related surgery : official publication of the Arthroscopy Association of North America and the International Arthroscopy Association 2017; 33: 450 – 463
[9] Hoffelner T, Resch H, Moroder P et al. No increased occurrence of osteoarthritis after anterior cruciate ligament reconstruction after isolated anterior cruciate ligament injury in athletes. Arthroscopy : the journal of arthroscopic & related surgery : official publication of the Arthroscopy Association of North America and the International Arthroscopy Association 2012; 28: 517 – 525
[10] van Melick N, van Cingel REH, Brooijmans F et al. Evidence-based clinical practice update: Practice guidelines for anterior cruciate ligament rehabilitation based on a systematic review and multidisciplinary consensus. British journal of sports medicine 2016; 50: 1506 – 1515
[11] Heijne A, Hagströmer M, Werner S. A two- and five-year follow-up of clinical outcome after ACL reconstruction using BPTB or hamstring tendon grafts: A prospective intervention outcome study. Knee surgery, sports traumatology, arthroscopy : official journal of the ESSKA 2015; 23: 799 – 807
[12] RETURN-TO-PLAY GmbH, http://www.return-to-play.de/
[13] Brucker PU, Waibel K-H, Huber A et al. „Return to Sports“ nach VKB-Rekonstruktion im alpinen Skileistungssport. Arthroskopie 2016; 29: 5 – 12
[14] Soligard T, Myklebust G, Steffen K et al. Comprehensive warm-up programme to prevent injuries in young female footballers: Cluster randomised controlled trial. BMJ (Clinical research ed.) 2008; 337: a2469
[15] Stoffels T, Achtnich A, Petersen W. Prävention von Knieverletzungen – besteht da Evidenz? Sports Orthopaedics and Traumatology 2017; 33: 344 – 352
Autoren
ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie mit Zusatzbezeichnung Sportmedizin und Chirotherapie. Er ist Leitender Arzt, Gesellschafter und Ärztlicher Direktor der ARCUS Sportklinik in Pforzheim. Von der Deutschen Kniegesellschaft e.V. wurde er als einer der ersten zertifizierten Kniechirurgen ausgezeichnet. Seine operativen Schwerpunkte sind: Kniegelenksarthroskopie, Bandchirurgie, Beinachsenkorrektur und Knieendoprothetik. Außerdem ist Dr. Ellermann wiss. Beirat der sportärztezeitung.