Die Ruptur des vorderen Kreuzbandes (VKB) ist eine der häufigsten Verletzungen bei körperlich aktiven Bevölkerungsgruppen und die meisten Rekonstruktionen werden bei Personen zwischen 16 und 39 Jahren durchgeführt [1, 2]. Die Operationsrate nahm in den letzten Jahren auch in der weiblichen Population zu, was u.a. mit der steigenden Partizipation in Kontakt- und Schnellkraftsportarten zu erklären ist [3].
Obwohl die VKB-Rekonstruktion (VKBR) die standardmässige operative Therapie darstellt und objektiv gesehen in den meisten Fällen erfolgreich verläuft, kehren über 60 % der Patienten innerhalb des ersten Jahres nach der OP nicht mehr auf das präoperative Aktivitätslevel zurück [4]. Dementsprechend scheint besonders die Rückkehr in den wettkampffähigen Leistungssport schwierig und ist nach einer VKBR häufig nicht erfolgreich [4]. Ein operativer Eingriff bedeutet für die betroffene Person i.d.R. ein einschneidendes Erlebnis, eine sowohl körperliche als auch psychische Belastung und geht regulär mit einer temporären Reduktion der Funktions- und Handlungsfähigkeit einher. Gerade bei Leistungs- oder Profisportlern ist eine bevorstehende OP mit Ängsten bzgl. der Rückkehr auf das prätraumatische/-operative Leistungsniveau verbunden. Dabei kann fehlendes Vertrauen in das Knie das Risiko einer Re-Ruptur erhöhen bzw. die Rückkehr auf das Leistungsniveau beeinflussen [5]. Dementsprechend kann eine längere Wartezeit vor der OP bereits geschürte Unsicherheiten, parallel zur physischen Dekonditionierung, weiter verstärken. Denn in dieser Phase nimmt das Aktivitätslevel tendenziell ab, die OP ist in Sichtweite und die Motivation, sich körperlich zu betätigen – ggf. sogar unter Schmerzen – ist nicht unbedingt gegeben. Und genau hier zeigt sich das Potenzial der präoperativen Vorbereitung, der Prähabilitation, kurz Prähab.
Bei der Zieldefinition für das personalisierte Prähab-Programm stehen folgende Fragen im Vordergrund [6]:
- Welche individuellen Faktoren (Personen-/Knie-/Sportart/-Umfeld-bezogen) fördern oder behindern die Rückkehr an die sportliche Spitze nach VKBR?
- Welche Risikofaktoren lassen sich bereits vor der OP adressieren?
Beispielsweise stellt die durch neuromuskuläre Inhibition bedingte Quadrizepsschwäche ein typisches Symptom nach einer VKB-Ruptur dar und mehrere Studien zeigen, dass ein präoperatives Kraftdefizit von mehr als 20 % im Vergleich zur Gegenseite (Leg Symmetry Index, LSI) mit einer verminderten subjektiven Funktionsfähigkeit zwei Jahre postoperativ assoziiert wird [7, 8]. Die Kraft bzw. Ansteuerung der Hamstrings [8, 9], fehlende aktive Endstreckung und Flexion [10], das Sprung- und Landemuster sowie die Leistung in Hop-Tests sind weitere Prädikatoren für die Rückkehr in den Leistungssport [11].
Fallbeispiel
Die 20-jährige Hürdensprinterin Lara ist seit drei Jahren fester Bestandteil des Schweizerischen Nachwuchskaders und startet regelmäßig bei nationalen und internationalen Großanlässen. Aktuell hat sie sich intensiv für die U23-EM in der kommenden Saison vorbereitet. Lara befand sich zum Zeitpunkt der Verletzung nach einem soliden Aufbau im Wintertraining in guter Form und hatte keinerlei Beschwerden.
Unfallhergang und ärztliche Diagnostik
Lara hat sich im Trainingslager einige Wochen vor Saisonstart bei einem Sturz über eine Hürde das VKB isoliert rupturiert. Anfänglich hatte sie sich in Rücksprache mit ihrem Sportarzt für den konservativen Weg entschieden, um in der zweiten Saisonhälfte in den Wettkampfsport zurückkehren zu können. Nach 12 Wochen Reha im physiotherapeutischen Back-to-sports!-Programm, wünscht sie sich doch die operative Versorgung, da das Vertrauen in das Knie fehlt und sie mit der vielseitigen, hochintensiven Schnellkraftbelastung ein zu hohes Wiederverletzungsrisiko befürchtet. Der betreuende Sportarzt, die Physiotherapeutin und die Kniechirurgin unterstützen bei einem gemeinsamen Gespräch ihren Entscheid. Der OP-Termin wird in sechs Wochen geplant mit dem Ziel, in der kommenden Hallensaison im Winter wieder an den Start gehen zu können. Die Kniechirurgin verordnet aufgrund der bestehenden Defizite bei der Testung im Anschluss an die 3. Reha-Phase bis zur geplanten VKB-Rekonstruktion eine physiotherapeutische Prähab. Anstatt dass Lara die kommenden Wochen auf der Couch verbringt und auf die OP wartet, ergreift das betreuende Team die Gelegenheit, ihre individuellen Prädikatoren für eine Wiederverletzung aktiv zu optimieren. Dazu werden potenzielle Risikofaktoren, die das OP-Resultat oder ihre Rückkehr in den Leistungssport gefährden könnten werden, identifiziert (Tabelle 1).
Prähab
Das Ziel in der Prähab ist nicht nur eine lokale Vorbereitung der kniegelenksnahen Strukturen, sondern auch eine globale Optimierung des Fitness- und Allgemeinzustandes, um eine ideale Ausgangslage für die postoperative Wundheilung und Rehabilitation zu gewährleisten. So wird neben dem knie- und sportartspezifischen Training auch die Grundlangenausdauer etwas mehr in den Vordergrund gerückt, als dies auf dem konservativen Pfad der Fall wäre. U. a. das Rumpfkrafttraining, welches im regulären Trainingsalltag eher zu kurz kommt, erhält mehr Raum. Da Lara eine ungenügende Ansteuerung der Hamstrings zeigt, wird neben dem isolierten Krafttraining im Kraftausdauerbereich mit Übergang zur Hypertrophie (z. B. Leg Curl, Dead Lift) auch die funktionelle Kräftigung in Bauchlage und später der Bridge trainiert. Koordinativ übt sie als Vorbereitung für den Single Leg Deadlift und die Sprung- und Landeübungen die Standwaage unter Einhaltung der korrekten Beinlängsachse und arbeitet aktiv an der Beweglichkeit (siehe Abbildungen).
Ergänzend zum physischen Training ist das Ziel, mit Lara einerseits den Ablauf des perioperativen Prozederes zu besprechen und ihr zu erklären, was sie nach dem Eingriff erwartet bzgl. Einschränkungen oder Schmerzen. Zu verstehen, wie Schmerz entsteht, was dessen Zweck ist und wie sich der Schmerz nach der VKBR verändern kann, stellt ein weiterer Pfeiler zur Vertrauensfestigung in ihr Knie dar. Weiter ist wichtig, dass Lara erkennt, wie die gelenksnahen passiven Strukturen und die Muskulatur ihr Knie nach der OP stabilisieren können und was es von ihrer Seite braucht, diese optimal zu trainieren und zu schulen.
Weitere Inhalte aus dem Edukationsteil:
- Gangschule: 3-Punkte-Gang an Unterarmgehstöcken: Schiefe Ebene, Treppensteigen mit/ohne Handlauf
- Transfers: Badewanne ein- und aussteigen
- Zuhause vorbereiten: Langer Schuhlöffel besorgen, rutschige Teppiche wegräumen (Stolperfalle)
- Übungsprogramm für stationären Aufenthalt ausprobieren (u. a. Mantelspannung, Stoffwechselübungen, Transfers aus dem Bett)
Abschluss Prähab
Nach sechs weiteren Wochen intensiver Vorbereitung – diesmal mit dem primären Ziel, Sicherheit und Vertrauen in das Knie zu gewinnen und den Körper ganzheitlich auf die OP vorzubereiten, zeigt Lara auch bei den kniespezifischen Tests zufriedenstellende Resultate. Lara blickt – u. a. auch durch die bevorstehende OP – zuversichtlich in die Zukunft. Sie weiß, was sie im Spital erwartet, dass die Reha anspruchsvoll werden wird und sie aber darauf bauen kann, dass sie ihren Körper und ihr Knie bestmöglich auf diese Herausforderung vorbereitet hat.
Diskussion
Gerade bei Sportlern ist die Frustrationsminderung über den physischen Abbau während einer Wartezeit vor der OP sehr wichtig. Nicht nur mit dem Training des restlichen Körpers, sondern auch mit der Ausnutzung der zur Verfügung stehenden Zeit für Bereiche, die im regulären Trainingsalltag zu kurz kommen, kann ein erheblicher Mehrwert generiert und Grundsteine für den Reha-Aufbau gelegt werden. Ein einschneidendes Erlebnis bzw. ein bevorstehender Major Life Event kann ein potenzielles Zeitfenster für einen Anstoß zur Verhaltensänderung darstellen [12]. Dies ist eine Chance, um nachhaltig u.a. die eigene Gesundheitskompetenz zu stärken, welche sowohl das Gesundheitssystem schonen und aber auch die Widerverletzungsrate reduzieren und gleichzeitig die sportliche Leistung steigern kann. Ob es sich lohnt, die VKBR bewusst zugunsten einer Prähab-Phase hinauszuschieben anstelle so schnell wie möglich zu operieren, sollte im Einzelfall beurteilt werden. Es kann aber, auch wenn alle objektiven Parameter für eine unverzügliche OP sprechen, erhöhte Risikofaktoren geben (u. a. fehlendes Vertrauen in das Knie), wo es sich lohnt, Zeit in deren Reduktion zu investieren.
Fazit
Die Phase zwischen Indikationsstellung und OP-Termin kann eine Chance für nachhaltige, positive Veränderungen darstellen. Dabei ist ein individueller Zugang unerlässlich und eine personalisierte Herangehensweise essenziell, um die bestmögliche Wirksamkeit zu erzielen. Es mag nicht immer sinnvoll sein, eine VKBR hinauszuzögern, aber wenn eine sofortige Operation nicht stattfindet, ist es immer sinnvoll, diese Zeit aktiv zu nutzen.
Literatur
1. LaBella, C.R., et al., Anterior cruciate ligament injuries: diagnosis, treatment, and prevention. Pediatrics, 2014. 133(5): p. e1437-50.
2. Renstrom, P., et al., Non-contact ACL injuries in female athletes: an International Olympic Committee current concepts statement. Br J Sports Med, 2008. 42(6): p. 394-412.
3. Arimaa, A., et al., Anterior cruciate ligament reconstruction and concomitant procedures in Finland between 2004 and 2018 based on national registers. Acta Orthop, 2023. 94: p. 45-50.
4. Ardern, C.L., et al., Return to the preinjury level of competitive sport after anterior cruciate ligament reconstruction surgery: two-thirds of patients have not returned by 12 months after surgery. Am J Sports Med, 2011. 39(3): p. 538-43.
5. McPherson, A.L., et al., Psychological Readiness to Return to Sport Is Associated With Second Anterior Cruciate Ligament Injuries. Am J Sports Med, 2019. 47(4): p. 857-862.
6. Gränicher, P., Scherr, J., Do athletes benefit from preoperative physical therapy before ACL-reconstruction? Sports Orthopaedics and Traumatology, 2021. 37(2): p. 126-131.
7. Grindem, H., et al., How does a combined preoperative and postoperative rehabilitation programme influence the outcome of ACL reconstruction 2 years after surgery? A comparison between patients in the Delaware-Oslo ACL Cohort and the Norwegian National Knee Ligament Registry. Br J Sports Med, 2015. 49(6): p. 385-9.
8. Eitzen, I., I. Holm, and M.A. Risberg, Preoperative quadriceps strength is a significant predictor of knee function two years after anterior cruciate ligament reconstruction. Br J Sports Med, 2009. 43(5): p. 371-6.
9. Spiess, J., Meyer, S., Wyss, T., Hübner, K, Bruhin, B., Luomajoki, H., Strength deficits of the hamstrings following surgery on the anterior cruciate ligament: a case-control study of elite alpine ski racers. Swiss Sports & Exercise Medicine, 2019. 67(1): p. 27-35.
10. van Melick, N., et al., Evidence-based clinical practice update: practice guidelines for anterior cruciate ligament rehabilitation based on a systematic review and multidisciplinary consensus. Br J Sports Med, 2016. 50(24): p. 1506-1515.
11. Welling, W., et al., Passing return to sports tests after ACL reconstruction is associated with greater likelihood for return to sport but fail to identify second injury risk. Knee, 2020. 27(3): p. 949-957.
12. Verplanken, B., Wood, W., Interventions to Break and Create Consumer Habits. Journal of Public Policy & Marketing, 2006. 25(1): p. 90-103.
13. van Duijn, A., Overberg, JA., et al, Rehabilitation von Sportverletzungen. 1 ed. 2021, Stuttgart Georg Thieme Verlag KG
Autoren
ist Physiotherapeutin (M.Sc./Ph.D. cand.) und Therapeutische Leitung Prähab, am Universitären Zentrum für Prävention und Sportmedizin der Universitätsklinik Balgrist in Zürich. Außerdem ist sie wiss. Mitarbeiterin im Sportamt Stadt Zürich sowie vorsitzende Geschäftsführerin & Mitgründerin der science2practice GmbH, Männedor.