Chronische Rückenschmerzen – ein ungelöstes Problem. Rückenschmerzen sind nach wie vor eine der größten Herausforderungen in den westlichen Gesundheitssystemen. Trotz Dekaden der Forschung sind die zugrundeliegenden Mechanismen immer nicht vollständig verstanden und bezüglich idealer Behandlung gibt es offiziell keinen „Goldenen Standard“.
Aktuelle wissenschaftliche Übersichtsarbeiten kommen zum Schluss, dass diverse Therapie- und Trainingsformen, wie z. B. Pilates, Stabilisierungsübungen, Übungen zur motorischen Kontrolle, Krafttraining und aerobes Ausdauertraining jeweils effektive Behandlungsmöglichkeiten sein können und dass außerdem Bewegungstherapien tendenziell effektiver als physiotherapeutische Maßnahmen sind [1 – 4]. Laut den Autoren gibt es jedoch nur sehr wenige qualitativ hochwertige Studien. Aus ärztlicher Sicht gibt es außerdem viel zu wenig Literatur zu klinisch relevanten Diagnosen wie Bandscheibenvorfällen, Stenosen etc. Ein häufig unterschätzter Faktor bei der Prävention und nachhaltigen Rehabilitation ist die tiefe autochthone Rückenmuskulatur. Neuste Studien deuten klar darauf hin, dass eine geeignete visuelle Darstellung des Muskelzustandes sowie ein adäquates Training Kernelemente einer Rückentherapie sein müssten [5]. Der genaue Zusammenhang zwischen Rückenschmerzen und der tiefen Rückenmuskulatur und warum spezifisch und isoliert trainiert werden muss, wird im Folgenden dargestellt.
Autochthone Rückenmuskulatur – Die Stabilisatoren der Wirbelsäule
Die tiefliegenden autochthonen Rückenmuskeln sind Schlüsselelemente bei der Aufrichtung und Stabilisierung der Wirbelsäule [6]. Sie halten diese in einer „neutralen“ Position, sodass die Belastung auf die passiven Strukturen optimal ist [7]. Man unterscheidet im Lendenbereich zwischen dem lateralen /intermediären Strang (m. longissimus und m. iliocostalis) und dem medialen Strang (v.a. m. multifidus) [8] (Abb. 1). Ersterer wird häufig als m. erector spinae zusammengefasst und wirkt als globaler Stabilisator, da seine Muskeln über größere Distanzen wirken. Die Mm. multifidii sind segmental angeordnet und daher für die segmentale Stabilisierung und Hauptkontrolle der Wirbelsäule verantwortlich (siehe Abb. 2) [8, 9].
Anders als Skelettmuskeln, die durch eine starke Sehne Kraft auf einen Knochen übertragen, haben die autochthonen Rückenmuskeln zwar einen großen Muskelbauch, jedoch nur sehr kurze und kleine Sehnen. Die Wirkung dieser Muskeln wird daher durch hohen Druck und intrinsische Steifheit kreiert [8]. Der Querschnitt der autochthonen Rückenmuskeln ist sehr stark von BMI, Körpergewicht und Körpergröße abhängig und vor allem bei Patienten mit Rückenschmerzen deutlich reduziert [10]. Unterstützt werden diese Muskeln von einem komplexen System aus Faszien [11]. Die prominenteste Struktur ist die Thorakolumbalfaszie (Fascia thoracolumbalis), welche die autochthonen Rückenmuskeln umgibt und durch Spannung nach medial und auf das Iliosakralgelenk dem ganzen Bereich Stabilität verleiht. Gut trainierte Multifidusmuskeln erhöhen diese fasziale Spannung und ermöglichen dadurch eine systemische Stabilität [11].
Abbau der tiefen autochthonen Rückenmuskulatur bei Rückenschmerzpatienten und dessen Folgen
Nach dem „Dekonditionierungsmodell“ korrelieren chronischen Rückenschmerzen immer mit einem Abbau (Atrophie) und einer lokalen Infiltration von Fett in der tiefen Rückenmuskulatur (Abb. 3). Dieser Prozess entsteht durch Inaktivität, aber auch durch chronische Schonhaltung und Vermeidungsstrategien nach kleinen initialen Mikroverletzungen, wie z. B. nach einem Verhebetrauma [11 – 14]. Dieser Muskelabbau ist bei chronischen Patienten deutlich ausgeprägter als bei Patienten mit akuten Symptomen und der m. multifidus ist dabei stärker betroffen ist als der m. erector spinae. Darüber hinaus kommt es zu einer reduzierten motorischen Kontrolle der Muskeln inklusive einer Reorganisation der betroffenen Wirbelsäulenbereiche im Gehirn [15, 16]. Neben der eingeschränkten sensomotorischen Funktion führen diese Prozesse letztlich auch zu einer abnormalen Schmerzverarbeitung. Der entstandene chronische Abbau der tiefen (Multifidus-) Muskeln und die lokale Muskelverfettung [13, 14] haben wiederum pathologische Konsequenzen. Sie führen zu einer reduzierten Funktionalität im LWS-Bereich [17] und aufgrund veränderter Biomechanik zu mehr Bandscheibendegeneration und Facettengelenksarthrose [18, 19]. Dies erscheint logisch, da nur gut trainierte Muskeln eine ausreichende Stabilität und Funktionalität erzeugen. Eine Atrophie führt dann zwangsläufig zu reduzierter Stabilität und erhöhtem Verschleiß der passiven Strukturen.
Der Abbau der tiefen Rückenmuskeln ist kein Phänomen, das nur bei den sogenannten chronischen „unspezifischen“ Rückenbeschwerden auftritt, sondern als Begleiterscheinung bei nahezu allen pathologischen Veränderungen der Wirbelsäule. Beispielsweise ist der Muskelquerschnitt des m. multifidus auf der Seite und am Segment unterhalb des Bandscheibenvorfalls reduziert (Abb. 4) [20]. Auch bei Patienten mit degenerativen Spinalkanalverengungen (Stenosen) und Gleitwirbeln (Spondylolisthesis) wurden stark ausgeprägte Fetteinlagerungen beobachtet, die mit den Symptomen und dem funktionalen Status der Wirbelsäule korrelieren [21 – 23]. Eine gut entwickelte tiefe autochthone Rücken- und Nackenmuskulatur ist also ein Zeichen und gleichzeitig Garant für eine gesunde Wirbelsäule. Atrophierte Muskeln sind andererseits eine charakteristische Ausprägung bei chronischen Schmerzpatienten und gleichzeitig auch ein Risikofaktor für eine weitere Verschlimmerung der Beschwerden [17]. Darüber hinaus konnte in Langzeitstudien gezeigt werden, dass es auch im Zuge des Altersprozesses zu einer deutlichen Reduktion des qualitativen Muskelquerschnittes kommt [24, 25].
Nachhaltige Rückengesundheit durch spezifisches Training
Aus präventiver Sicht geht es darum, diesen natürlichen Zustand so lange wie möglich durch vielseitige Bewegungsformen, idealerweise ergänzt durch spezifisches Training, zu erhalten. Ist der schmerzbedingte Abbau schon deutlich vorangeschritten und der Schmerz chronisch, gibt es Hinweise darauf, dass man für nachhaltige Ergebnisse um ein spezifisches Widerstandstraining nicht herumkommt [12, 26]. Die Ergebnisse verschiedener Studien belegen, dass spezifische Trainingsprogramme chronische Rückenschmerzen wirksam beseitigen können und dass die verbesserte Muskelfunktion direkt mit der Beschwerdeverbesserung korreliert [27, 28]. Im Gegensatz zur Skelettmuskulatur kann die autochthone Rückenmuskulatur nur begrenzt willentlich angesteuert werden [29]. Ein wirksames Training – eine Isolierung der betreffenden Muskulatur bei gleichzeitig hoher Intensität – wird dadurch maßgeblich erschwert. Ein weiterer Faktor ist der Einfluss anderer Muskelgruppen, wie die ischiocruralen Hüftstrecker und gluteale Muskulatur, die anatomisch bedingt oftmals die Hauptlast bei den Extensionsbewegungen des unteren Rückens übernehmen [29]. Neben der Spezifität, um einen hohen Trainingsreiz zu erzeugen, ist es auch wichtig, gleichzeitig die Belastung für die verletzten und degenerierten passiven Strukturen zu reduzieren. Hier können Trainingsmaschinen mit speziellen Fixierungssystemen (wie z. B. Powerspine Trainingskonzepte) die ideale Lösung sein. Durch Beckenstabilisierung und semi-sitzender Position wird die Aktivität der Lumbalextensoren maximiert und die der Hilfsmuskulatur minimiert [30, 31], sodass hohe isolierte Trainingsreize möglich werden. Darüber hinaus kann das Bewegungsausmaß individuell auf klinische Diagnosen angepasst werden.
Literatur
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Passende internationale Studien zum Thema
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8198576/
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7097984/
Autoren
ist Facharzt für Orthopädie mit Zusatzbezeichnungen Sportmedizin und Chirotherapie. Er ist Inhaber und leitender Arzt im Privatem Wirbelsäulenzentrum Dr. Alfen Würzburg. Außerdem ist er Präsident der Gesellschaft für Medizinische Kräftigungstherapie (GMKT-D) und betreut internationale Athleten im Bereich Fechten, Handball und Triathlon.
(Ph.D) ist Neurobiologe (Univ. Dipl.) sowie Sportwissenschaftler (Univ. Dipl.). Er ist Wissenschaftler im Bereich chronische Schmerzen und Gewebsveränderungen und leitender Trainingstherapeut im Privatem Wirbelsäulenzentrum Dr. Alfen Würzburg. Außerdem ist Dr. Spang Geschäftsführer der Gesellschaft für Medizinische Kräftigungstherapie (GMKT-D).