Der Hirnstamm nimmt eine zentrale Rolle im Nervensystem ein, indem er als Bindeglied zwischen Gehirn und Rückenmark fungiert. Er ist verantwortlich für die Übertragung von sensorischen und motorischen Informationen zwischen Körper und Gehirn. Darüber hinaus ist der Hirnstamm von essenzieller Bedeutung für die Regulation wichtiger physiologischer Funktionen wie Atmung, Blutdruck, Herzfrequenz und Verdauung und reguliert Schlafzyklen und Bewusstsein.
Der Hirnstamm spielt auch eine wichtige Rolle bei der Modulation von Schmerzen und der Steuerung von reflexiver Bewegungssteuerung, Haltung und Balance. Demnach ist er eine entscheidende Struktur, die bei Schmerzen und für eine gute Verletzungsprophylaxe adressiert werden sollte.
In der Regel entstehen die meisten Verletzungen auf Grund mangelnder Bewegungskontrolle. Diese kann ihre Ursache in Ermüdungsprozessen, fehlender Energie, aber auch in mangelnden Ansteuerungsprozessen haben. Wenn es um die Ansteuerung von Bewegung geht, müssen jedoch zwei unterschiedliche Ansteuerungsmechanismen unterschieden werden: Die willentliche und die reflexive Bewegungskontrolle. Beide werden durch verschiedene „Schaltkreise“ im Nervensystem durchgeführt. Die willentliche Bewegungskontrolle erfolgt über die Pyramidenbahn, während die reflexive Bewegungssteuerung über das extrapyramidale System gesteuert wird. Nur durch eine gezielte Absprache beider Ansteuerungsprozesse ist es uns möglich, effiziente Bewegungen auszuführen. Bezüglich der Ansteuerungsmechanismen besteht jedoch ein entscheidender Unterschied. Zwar erhalten beide Bahnen ihre Ausgangsinformationen für die Bewegungsplanung aus dem gleichen sensomotorischen Kortex, jedoch verläuft die Nervenbahn der willentlichen Bewegungssteuerung zur gegenüberliegenden Körperseite, während die reflexive Steuerung auf der ipsilateralen Seite bleibt.
Bewegungssteuerung einfach erklärt
Jede Bewegung muss zunächst durch eine Bewegungsidee geplant werden. Will beispielsweise ein Fußballspieler einen Freistoß mit dem rechten Bein schießen, wird diese Bewegungsplanung im linken Kortex vorgenommen. Der linke Kortex sendet anschließend diesen Bewegungsplan an die Zielmuskeln, um die Bewegung auszuführen. Die Bewegung führt zur Aktivierung sensorischer Rezeptoren innerhalb der Körperstrukturen (Propriozeption), die ihre Informationen an das ipsilaterale Kleinhirn senden, um die Bewegung auf ihre Effizienz und ihren Ausgangsplan zu überprüfen. Das Kleinhirn sichert somit die Akkuratheit und die Koordination der Bewegung und kann diese, wenn nötig nachkorrigieren. Dies ist dadurch möglich, dass das Kleinhirn an den kontralateralen Kortex Feedbackschleifen sendet, sodass der Kortex zu jedem Zeitpunkt der Bewegung intervenieren kann. Dieser Teil der Bewegung gilt als willentliche Ausführung. Bei einem Schuss mit dem rechten Bein muss jedoch gleichzeitig die linke Körperseite stabilisiert werden, um bei dem Schuss nicht umzufallen. Dies geschieht dadurch, dass der linke Kortex die sensorische Ausgangslage an den darunterliegenden Hirnstamm sendet. Anhand dieser Informationen ist es dem Hirnstamm nun möglich die linke Körperseite gegenzuregulieren. Dieser Teil der Bewegung ist unwillkürlich und Bedarf keinerlei Aufmerksamkeit. Dennoch kann es hier zu defizitären Ansteuerungsschwierigkeiten kommen, wodurch ein erhöhtes Verletzungsrisiko besteht.
Hirnstamm und Schmerzen
Da der Hirnstamm eine zentrale Rolle bei der Modulation von Schmerzen spielt, sollte dieser bei bestimmten Erscheinungen von Schmerzäußerungen aktiviert werden. Die große Problematik bei Schmerzinterventionen bezieht sich darauf, dass die meisten Therapien auf die schmerzbetroffene Struktur abzielen. Zieht man in Betracht, dass ein Schmerz das Endresultat vorhergegangener sensorischer Verarbeitungsprozesse und Entscheidungen unterschiedlicher Hirnstrukturen ist, lässt sich dieser modulieren, wenn man die Qualität der Sensorik verbessert und die betroffenen Hirnstrukturen adressiert.
Wie lässt sich der Hirnstamm aktivieren?
Aktivierung durch die kontralaterale Seite
Zunächst muss klargestellt werden, dass der Hirnstamm immer aktiv ist und bei allen Prozessen beteiligt ist. Dennoch ist es möglich das Aktivierungsniveau gezielt durch ausgewählte Übungen zu erhöhen. Auf der Grundlage der vorgestellten Bewegungssteuerung ist es demnach möglich den linken Hirnstamm durch Bewegungsmuster der rechten Körperseite zu aktivieren. Dafür eignen sich vor allem komplexe Mobilisationsübungen aller Gelenke der rechten Körperseite, vor allem die der Extremitäten (Schulten, Ellbogen, Hand- und Fußgelenke, sowie Finger und Zehen). Dabei sollte zunächst darauf geachtet werden, dass die Bewegungsausführung möglichst groß, kontrolliert und langsam ausgeführt wird. Bezüglich einer Verletzungsprophylaxe wird dadurch die reflektorische Ansteuerung der Gegenseite trainiert.
Für ein eventuelles Schmerzmuster, dass durch den Hirnstamm ausgelöst wird, bedeutet dies, dass es sehr hilfreich sein kann die nicht betroffene Seite zu trainieren. So können ebenfalls komplexe Bewegungsmuster als auch sensorische Stimuli auf der nicht betroffenen Seite ausgeführt und gesetzt werden, um eine Schmerzregulation zu erreichen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass bei einer solchen Problematik die Arbeit auf der betroffenen Seite sogar zu Verschlimmerungen und damit zu einem erhöhten Schmerzempfinden führen kann, da aus einer neuronalen Sicht die „falsche Struktur“ aktiviert wird und ein größeres Ungleichgewicht in den Hirnregionen erzeugt.
Aktivierung über die Hirnnerven
Anhand der anatomischen Struktur des Hirnstamms lässt sich erahnen, dass die Hirnnerven für die Aktivierung des Hirnstamms von zentraler Bedeutung sind. Der Mensch hat 12 Hirnnervenpaare, 10 von diesen ziehen direkt in den Hirnstamm. Diese steuern unterschiedlichste Funktionen der Augen, des Gleichgewichts, des Kopfes, etc. Betrachtet man die Funktionen fällt auf, dass allein drei (HN 3,4 & 6) von den zwölf Hirnnervenpaaren nur der Augenmotorik gewidmet sind. Will man eine Aktivierung des Hirnstamms erreichen, kann dies besonders gut über die Einbindung von Augenbewegungen erfolgen. Dies ist einer der Gründe, warum die Augen eine zentrale Rolle im neurozentrierten Training spielen.
Selbstversuch
Viele Personen leiden unter Verspannungen und Schmerzen im Nackenbereich. Drehe abwechselnd den Kopf von rechts nach links und überprüfe, ob eine Seite einen geringeren Bewegungsumfang hat oder Schmerzen erzeugt.
Probiere anschließend die folgende Übung (siehe Abb. 2):
- Strecke deinen Arm nach vorne aus und fixiere deinen Daumen auf Augenhöhe.
- Ziehe den Daumen zwischen deine Augen und verfolge diesen mit deinem Blick (schielen).
- Ziehe den Daumen so nah heran, bis der Daumen unscharf wird oder ein Spannungsgefühl in den Augen entsteht.
- Schiebe den Daumen wieder nach vorne und wiederhole die Übung, bis die erste Stressreaktion* eintritt.
- Teste deine Schmerzsituation erneut und beobachte, ob sich die Situation verbessert oder verschlechtert hat. Verschlechtert sich die Reaktion, wiederhole die Übung mit vermindertem Bewegungsumfang und geringerer Wiederholungszahl.
*Stressreaktionen: Schwindel, tränende Augen, erhöhter Lidschlag, Spannungsgefühl in den Augen.
Vielen Leuten hilft eine solche Übung. Jedoch kann eine solche Intervention nicht pauschalisiert werden. Vielmehr muss herausgefunden werden, wo das Problem die Ursache hat, um eine gezielte Übung zu adressieren.
Fazit
- Der Hirnstamm spielt eine zentrale Rolle bei der Ansteuerung von reflektorischen Bewegungen und bei der Schmerzmodulation.
- Demnach ist die Hirnstammfunktion entscheidend für eine optimale Verletzungsprophylaxe und das Schmerzempfinden.
- Liegt eine Problematik des Hirnstamms vor kann dieser über unterschiedliche Interventionen adressiert werden:
- Komplexe Bewegungsmuster und sensorische Stimuli auf der gegenüberliegenden Körperseite.
- Über die Hirnnervenpaare. In diesem Beispiel über die Aktivierung von Augenbewegungen.
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Literatur
- Davis, K. D., Moayedi, M., & Taylor, K. S. (2017). Brain imaging tests for chronic pain: Medical, legal and ethical issues and recommendations. Nature Reviews Neurology, 13(10), 624-638. doi: 10.1038/nrneurol.2017.122
- Butler, D. S., & Moseley, G. L. (2017). Explain pain supercharged. Noigroup Publications.
- Rahn, S., & Grafen, K. (2022). Sport trifft Gehirn – Neuronales Training mit Fitnessgruppen, Meyer & Meyer Verlag.
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Autoren
studierte Sportwissenschaften an der Deutschen Sporthochschule in Köln und arbeitet als sportwissenschaftlicher Leiter im Fitnessland Kensho in Neukirchen-Vluyn. Zusätzlich absolvierte er in kürzester Zeit das Curriculum in angewandter Neurologie (Z-Health®) unter der Leitung von Neurokoryphäe Dr. Eric Cobb in den USA. Kevin gehört seitdem zu den weltweit ersten und wenigen Master Trainern.