In aktuellen Zeiten wie diesen ist es wichtig, dass gewisse Schlüsselpositionen unserer Gesellschaft weiterhin funktionieren. Das Personal, welches diese Positionen innehat muss funktionieren. Was ist, wenn die Funktion nicht mehr gewährleistet ist? Ein Unfall o.ä. kann schnell dazu führen, dass reibungslose Abläufe gestört oder aufgehoben werden.
Wie kann nun die Funktion wieder schnellstmöglich hergestellt werden, wenn eine Operation nicht indiziert oder aufgrund der Notsituation nicht priorisiert ist? Hier bedarf es der kreativen Umsetzung aller konservativ schaffenden Mediziner und Therapeuten. Social Distancing hat seine Grenzen und zwar genau dann, wenn wir gezwungen werden, gewisse Besuche zu tätigen. Wer möchte heutzutage gerne stundenlang in einem überfüllten Wartezimmer beim Arzt sitzen, um im Anschluss ein paar Fragen zu klären und die Überweisung für den Radiologen oder den Physiotherapeuten abzuholen?
Moderne Technik als Chance
Hier greift die moderne Technik. Mit Hilfe der Telemedizin kann sich der Arzt via Videochat direkt an den Patienten zu Hause wenden. Fragen können geklärt und Überweisungen ausgestellt werden. Was tun, wenn es aber einer spezifisch klinischen Untersuchung bedarf? Es ist nun einmal auch der besondere diagnostische Griff notwendig, um eine adäquate Aussage über eine Struktur zu bekommen. Ist der Patient sowieso bei einem gut ausgebildeten Therapeuten in Behandlung, kann dieser als „verlängerter Arm“ des Arztes dienen*. Interdisziplinäre Zusammenarbeit und Transparenz inklusive. Der Therapeut setzt das um, was der Arzt via Video untersucht haben möchte. Ist der Physiotherapeut entsprechend ausgebildet und ausgestattet, kann er sogar die MSK Sonographie übernehmen. Gerade hier zeigt sich, dass wir in Zukunft vermehrt in diesem Sektor auf innovative Fort- und Ausbildungen zurückgreifen müssen. Mit portablen Ultraschallgeräten können Physiotherapeuten unter Anleitung der Ärzte via Telemedizin diagnostische Unterstützung erfahren und somit unnötige Gänge zu überfüllten Praxen vermeiden. Die therapeutischen Interventionen sollten sich auf das minimal Notwendigste konzentrieren. So viel wie nötig, so wenig wie möglich,wie beispielsweise manuelle Therapie oder auch physikalische Therapiemaßnahmen (Abb. 1). Übungen können ebenfalls über Videochat angeleitet und kontrolliert werden (Abb. 2). Ängste werden durch einfache Erklärungen genommen. Vor allem in der Akutphase nach einer Verletzung oder Operation, haben viele Patienten Hemmungen, diverse Strukturen adäquat zu belasten. Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass Angststörungen sogar die Wundheilung negativ beeinflussen können [1]. Es ist nicht unüblich, dass nach einer Bandverletzung im Fuß auch gerne die Hüfte oder das Knie geschont wird. Die Folgen aus einer solchen langfristigen Kompensation sind bekannt. Der Hinweis des Therapeuten kann in diesem Fall schon relevante Folgeschäden verhindern.
Fallbeispiel Patellafraktur nach Sturz, männlich 59 Jahre alt
Bildgebung
- Röntgen Knie in zwei Ebenen + Patella-Defilé (Abb. 3 a + b)
- MRT zur Unterscheidung zwischen Patella bipartita oder frischer, knöcherner Verletzung
Versorgung
- OP nicht indiziert(sofern keine Dislokation und/oder Gelenkbeteiligung vorliegen)
- konservativ Physiotherapie (manuelle Therapie, EMG gestützte Trainingstherapie)
- Orthese
- MBST
Vorgehen
Nach der notwendigen Erstvorstellung in einer unfallchirurgisch/orthopädischen Praxis oder Klinik, bedarf es in diesem Fall zu den angefertigten Röntgenbildern einer zusätzlichen Bildgebung CT oder MRT, um den möglichen strukturellen Schaden zu dokumentieren. Mit der entsprechenden Überweisung und dem MRT kam es zu einer Vorstellung beim Physiotherapeuten. Der Patient war zu diesem Zeitpunkt bereits mit einer Orthese versorgt, die konservative Therapie wurde ebenfalls schon eingeleitet. Um die Frakturheilung zusätzlich zu stimulieren, wurde eine MBST-Therapie (9 Sitzungen – Kernspinnresonanz) bereits zu Beginn eingeleitet. Diese erste Aufnahme konnte komplikationslos via Videochat stattfinden. Erste Anweisungen, wie der Patient sich in der akuten Phase der Verletzung zu verhalten hat, wurden geklärt und Fragen beantwortet. Zur Unterstützung dieser Maßnahmen ist in diesem Fall die Versorgung mit einer Orthese essenziell (in diesem Beispiel auf 20° Flexion limitiert, nach ca. 3 Wochen auf 40° erweitert). Bei geringeren Beschwerdebildern kann z.B. eine funktionelle Bandage von Vorteil sein. Hierbei geht es nicht primär um die mechanische Stabilität oder Ähnliches. Vielmehr geht es um eine bewusste Wahrnehmung der verletzten Region. Es schafft subjektive Sicherheit und mahnt gleichzeitig vor Bagatellisierung. Der Patient braucht etwas an der „Hand“, um sich versorgt zu fühlen [2]. In der Folge war der Gang zum Physiotherapeuten unabdingbar. Gezielte Griffe zur Mobilisation diverser kontrakter oder hypomobiler Strukturen waren nötig, um eine Dysbalance zu verhindern. Die Anleitung von Übungen auf dysfunktionalen Strukturen (z. B. hypomobilen Gelenken), kann zu einem unphysiologischen neuromuskulären Muster führen und Folgeschäden mit sich bringen [3].
Beispiel einer möglichen Folgekette
Aufgrund der frakturbedingten Flexionshemmung im Kniegelenk kommt es zwangsläufig zu einem unphysiologischem Gangmuster. Der Patient wird eine individuelle Strategie entwickeln, wie er aus der terminalen Standphase über die mittlere in die terminale Schwungphase kommt [4]. In den meisten Fällen geschieht dies über eine beckendominierte Kompensation. Durch eine Elevation des Iliums auf der Schwungbeinseite kommt es weiterlaufend zu einer einseitigen Lateralflexion in der LWS. Neuromuskulär bedeutet dies eine unilaterale Mehraktivität des M. quadratus lumborum, M. erector spinae u.a. Eine erworbene ISG Affektion kann die Folge sein. Diese ist nur eine von vielen möglichen Verläufen. Das erworbene Muster muss schnell aufgelöst werden, sobald sich die Flexion im Kniegelenk wieder erweitern lässt. Nicht selten bleiben Restkompensationen übrig, obwohl die Pathologie schon längst aufgehoben ist. Oft ist dies schon mit einem geübten Auge zu erkennen. Manchmal bedarf es spezieller Technologie, um einen genaueren Eindruck davon zu bekommen (z. B: EMG) (Abb. 4). Ein bekanntes Beispiel ist die Dysbalance zwischen vastus lateralis und vastus medialis.
Auch mit einer akuten Fraktur lassen sich angrenzende Gelenke und kompensationsbetroffene Muskeln gezielt trainieren. Nicht zu vergessen ist hierbei die oft überbelastete kontralaterale Seite. So kann es vorkommen, dass aufgrund einer abrupten Entlastung eines Beines sich eine Tendopathie im anderen Bein entwickelt. Auch das oft erworbene Patellaspitzensyndrom nach einer Patellafraktur kann präventiv frühzeitig diagnostiziert (z. B. Sonographie) und dann gezielt behandelt werden. Ein essenzieller Teil ist die Aktivierung des M. gluteus medius. Dieser ist unabhängig von der Fraktur in verschiedenen Positionen trainierbar. Über eine Extension / Abduktion und Außenrotation in der Hüfte kann dies auch mit extendiertem und gegebenenfalls Orthesen versorgtem Knie geschehen. In Bauchlage oder eben auch im Stand und sowohl im Schwung- als auch im Standbein kann dies umgesetzt werden. Um eine übermäßige und für die Fraktur möglich kontraproduktive Aktivierung des M. quadriceps zu verhindern, kann via Biofeedback das EMG zum Einsatz kommen (Abb. 5). Um dies bestmöglich zu verhindern, können diverse manualtherapeutische Griffe und Anleitungen zur Eigenmobilisation spezieller Segmente in einer Sitzung angeleitet und per Handy des Patienten gefilmt werden. So entsteht schnell eine individuelle Datenbank aus Übungen und Handgriffen zur Unterstützung der Regeneration. Stay at home. Rehab at home.
WICHTIG: Es muss verhindert werden, dass der Patient sich ungefiltert am Pool der Übungen sogenannter Influencer in den sozialen Medien bedient und damit gegebenenfalls mehr Schaden anrichtet, als sich selbst zu helfen!
Der Kontakt mit dem Patienten bleibt eng. Rückmeldungen via E-Mail oder mobil messenger sind wichtig. In regelmäßigen Abständen werden Videochatsitzungen durchgeführt, um die Progression von Belastung und Übungen zu gewährleisten. Empfehlungen zur Verbesserung der Regeneration über Ernährung oder Supplemente können beim Arzt erfragt werden. Anleitungen zu speziellen Atemtechniken (Diaphragmaatmung) sorgen für einen verbesserten Stoffwechsel, Lymphfluss und unterstützen die Rumpfstabilität [4]. Mit diesen und ähnlichen Maßnahmen ist es möglich, die Grundversorgung zur Rehabilitation zu gewährleisten, ohne den Patienten unnötigen Aufwänden und „Gefahren“ der Infizierung auszusetzen. Individuell können weitere Maßnahmen implementiert werden. Immer nach dem Credo: So viel wie nötig, so wenig wie möglich. Im Besten Fall findet sich der Patient in diesen Zeiten nur einmal in einem Wartezimmer wieder.
Fazit
Jetzt wird beschleunigt, was wir in Zukunft brauchen. Big brother is watching you. Aber nur, wenn es vom Patienten auch gewollt ist. Monitoring als mögliches Werkzeug zur Überprüfung der in Eigenverantwortung übertragenen Rehabilitationsmaßnahmen. Dabei nie vergessen: Der zwischenmenschliche Kontakt und taktile Reize sind wichtiger Bestandteil einer jeden Heilung. Die Technologie sollte langfristig nie die Arbeit eines Arztes oder Therapeuten ersetzen. Sie dient vielmehr als digitale Unterstützung und zwar nicht nur in Zeiten wie diesen.
*Anmerkung der Redaktion: Siehe dazu auch https://www.fifamedicalnetwork.com/can-we-examine-a-players-hip-via-telehealth/. Originalstudie: Owusu-Akyaw KA, Hutyra CA, Evanson RJ, et al Concurrent validity of a patient self-administered examination and a clinical examination for femoroacetabular impingement syndrome BMJ Open Sport & Exercise Medicine 2019;5:e000574. doi: 10.1136/bmj-sem-2019-000574
Literatur
[1] British Journal of Surgery 2017; doi: 10.1002/bjs.10474
[3] Daniel Wagner, Michael Liebensteiner 2017: Die degenerative Erkrankung des Patellofemoralgelenks: Diagnose und stadiengerechte Therapie AGA-Komitee-Knie-Patellofemoral. Pathogenese, Diagnosestellung und Klassifikation der Degeneration des Patellofemoralgelenks
[4] Kinesiology of the musculoskeletal system by Donald A. Neumann
Autoren
hat Medientechnologien an der Hochschule Rhein-Main studiert, bevor er sich entschlossen hat, Physiotherapeut zu werden. Nach seinem Examen hat er sich direkt neben der Manuellen Therapie auf die Anwendung des EMG im klinischen Kontext spezialisiert. Seit über sechs Jahren implementiert er es in den Praxisalltag mit über 10.000 Messungen Erfahrung. Mit der Gründung von MYOact hat er sich u. a. auf den Leistungssport fokussiert und arbeitet mit Mannschaften aus der ersten Bundesliga und der Premier League zusammen, widmet sich aber auch der Analyse von Breitensportlern und dem „Alltagspatienten“. Außerdem ist er wiss. Beirat der sportärztezeitung.
ist Facharzt Orthopädie und Unfallchirurgie. Er ist Chefarzt der Abteilung Orthopädie und Unfallchirurgie am Krankenhaus Ingelheim und ist im Team der Unfall-/Chirurgischen Gemeinschaftspraxis Am Brand in Mainz (Janocha/ Özay/Hub). Seine Schwerpunkte sind orthopädische Gelenkchirurgie und Endoprothetik, Verletzungen des Muskoloskelletalen Systems sowie ambulante und stationäre Operationen. Außerdem ist Dr. Hub wiss. Beirat der sportärztezeitung.