Mit einer neuen Medizinprodukteverordnung sollte in Europa „ein hohes Maß an Sicherheit und Gesundheitsschutz gewährleistet“ und gleichzeitig Innovationen gefördert werden. Dieses Versprechen konnte allerdings bisher nicht gehalten werden. Statt mehr Patientensicherheit bestehen nun Versorgungsengpässe bei Medizinprodukten – und auch MedTech-Innovationen wandern immer mehr in die USA ab. Doch es besteht Hoffnung: Lösungen liegen auf dem Tisch und die Notwendigkeit sowie der Wille für Verbesserungen sind in der Politik angekommen.
Ob Herzschrittmacher, Prothesen oder Gelenkersatz: Bevor Medizinprodukte in der Versorgung landen, müssen eine Reihe an rechtlichen Anforderungen erfüllt sein. Im wesentlichen wird das Inverkehrbringen von Medizinprodukten in der Europäischen Verordnung für Medizinprodukte, kurz: MDR, und in nationalen Regelungen definiert. Dabei ist die MDR recht neu: Sie ist 2017 in Kraft getreten und hatte am 26. Mai 2021 ihren Geltungsbeginn. Sie ersetzt die beiden europäischen Medizinprodukterichtlinien (MDD / AIMDD) und erfordert eine vollumfängliche Neuzertifizierung aller Produkte. Diese Zertifizierung nach MDR müssen Hersteller bei staatlich autorisierten Stellen, so genannte „Benannten Stellen“, beantragen. Um einen funktionierenden Übergang zwischen den Gesetzgebungen zu gewährleisten, wurde eine Übergangsfrist bis Mai 2024 definiert.
Zahlen und fehlende Effizienz
Die MedTech-Branche hat sich auf die MDR vorbereitet. Ein paar Zahlen dazu: Rund 25.000 Medizinprodukte-Zertifikate müssen in die MDR überführt werden. 20.400 wurden bislang beantragt (Stand Februar 2024). Im Durchschnitt dauert es bis zu 18 Monate, um ein MDR-Zertifikat zu erhalten (doppelt so lang wie zuvor unter den Richtlinien und wesentlich länger als die 90 Tage-Frist in den USA). Bislang wurden erst knapp 7.000 Zertifikate erteilt (Stand Februar 2024). Nach Expertenschätzungen drohen ein Drittel der Medizinprodukte in Europa vom Markt genommen zu werden. Anhand dieser Zahlen wird deutlich: Da stimmt etwas nicht. Denn die MDR ist nicht praxistauglich: Die neuen Auflagen sind zu bürokratisch und Unternehmen sind gezwungen, Entwicklungsressourcen in die Regulatorik zu verlagern. Viele haben für die Einhaltung der Vorschriften ihr Produktportfolio bereinigt. Hinzu kommt, dass MedTech-Unternehmen Schwierigkeiten haben, Benannte Stellen mit ausreichend Kapazitäten zu finden, um ihre Medizinprodukte zu zertifizieren. Das System ist nicht effizient. Es fehlten Harmonisierung, pragmatische Ansätze und eine zentrale rechenschaftspflichtige Aufsicht. Die deutsche MedTech-Branche wünscht sich daher eine zukunftsweisende MDR-Reform, die Patienten sowie dem Innovationsstandort Europa hilft. Lösungsvorschläge bietet das gemeinsame Whitepaper des BVMed und VDGH. Eine Zusammenfassung:
1. Effizienzsteigerung
Der Übergang zur MDR verläuft nach wie vor schleppend. Mittlerweile sind bei den Benannten Stellen ausreichend personelle Kapazitäten vorhanden. Nun müssen sie effizienter eingesetzt werden. Dazu gehört die Abschaffung bürokratischer Überregulierung, beispielsweise durch die Vermeidung von redundanten Prüfungen und die Einführung digitaler Lösungen.
2. Reform des 5-jährigen Re-Zertifizierungszyklus
Das MDR-System sieht eine Re-Zertifizierung aller Medizinprodukte nach fünf Jahren vor. Dabei erhöht die MDR die Patientensicherheit bereits durch kontinuierliche Überwachung in jährlichen Audits und Aktualisierung sowie Überprüfung aller relevanten Inhalte und der Nutzen-Risko-Abwägung. Verschiedene Pflichtberichte werden durch die Benannten Stellen engmaschig überwacht. Die Re-Zertifizierung beinhaltet keine neuen Prüfinhalte und kann vor diesem Hintergrund für alle Produktklassen abgeschafft werden – zumal Benannte Stellen jederzeit die Möglichkeit haben, ein Zertifikat zurückzuziehen.
3. Ergänzung des derzeitigen Regulierungssystems
In vielen Rechtssystemen existieren Fast-Track-Verfahren (beschleunigte Verfahren) für innovative Produkte sowie Spezialverfahren für so genannte Orphan Devices und / oder für Nischenprodukte mit nachgewiesener Erfolgsbilanz, bei denen das Standardverfahren für die Konformitätsbewertung auf-
grund mangelnder klinischer Nachweise nicht durchführbar ist. Solche Regelungen müssen auch im MDR-System geschaffen werden.
4. Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit
Das europäische System mit der CE-Kennzeichnung hat durch die MDR und die damit einhergehenden Probleme massiv an Reputation verloren. Die exportstarke Industrie steht deswegen vor erheblichen Herausforderungen und Zusatzaufwänden. Wir brauchen eine verstärkte Einbindung der EU in das MDSAP-Programm für Qualitäts-Management-Systeme und spezifische gegenseitige Anerkennungen (MRA).
5. Zentralisierung
Im jetzigen System gibt es unterschiedliche Verantwortlichkeiten für Produkte, Zertifizierungsverfahren, Benannte Stellen oder die Erstellung von Leitlinien. Die Einrichtung einer zentralen, rechenschaftspflichtigen und verantwortlichen Verwaltungsstruktur für Medizinprodukte mit Entscheidungsfähigkeit auf Systemebene hätte bedeutende Vorteile gegenüber dem derzeitigen System der MDR. Insbesondere in Verbindung mit einer konsequenten Anwendung der Grundsätze guter Verwaltungspraxis.
Der Gesundheitsausschuss des Bundestages hat sich im Juni mit der Versorgung mit Medizinprodukten befasst, um Lösungen für die aktuellen Probleme durch die MDR zu diskutieren. Die Bundesregierung muss nun eine aktive Rolle im Europäischen Rat und gegenüber der EU-Kommission zur Verbesserung der MDR einnehmen und die Kommission darauf drängen, noch in diesem Jahr konkrete Lösungsvorschläge vorzulegen. Wir können und müssen gemeinsam mit allen Beteiligten Europa wieder zu einem wettbewerbsfähigen MedTech-Standort machen und überzogene Strukturen aufbrechen sowie gute regulatorische Rahmenbedingungen schaffen – für unsere Gesundheitsversorgung sowie unseren Wirtschaftsstandort Deutschland und Europa.
Autoren
ist Geschäftsführer des Bundesverbandes Medizintechnologie e.V. in Berlin sowie Geschäftsführer der BVMed-Akademie. Er ist zudem Mitglied des BVMed-Vorstands. Der promovierte Politikwissenschaftler verfügt über langjährige gesundheitspolitische Erfahrungen.