Verletzungen sind eine unvermeidbare Realität in der Welt des Sports. Während die meisten Rehabilitationsmaßnahmen sich darauf konzentrieren, die Integrität des verletzten Bereichs wiederherzustellen, vernachlässigen sie oft die entscheidende Rolle des sensorischen Systems bei der vollen Genesung. Dieser Artikel beleuchtet die neuronalen Hintergründe dieser Therapiemaßnahme und zeigt auf, wie eine umfassende sensorische Rehabilitation nach Sportverletzungen aussehen kann.
Verletzungen im Sport führen nicht nur zu einer strukturellen Schädigung, sondern haben darüber hinaus auch negative Auswirkungen auf das neurologische System. Häufige Maßnahmen nach einem Sturz oder Umknicken sind Verbände, Schienen oder ein Gips. Je nach Schweregrad der Verletzung ist zusätzlich eine Operation notwendig. Nach einem Kreuzbandriss folgt z. B. Krankengymnastik in Form von manueller Therapie, Muskelaufbau durch Krafttraining und die Wiederherstellung von Bewegungsabläufen. Der Fokus liegt somit auf einer strukturellen und motorischen Wiederherstellung im betroffenen Bereich. Aus neurozentrierter Sicht ist diese klassische Behandlung jedoch unvollständig, lässt sie doch das neurologische System als essenziellen Baustein außer Acht. Werden Körperstrukturen oder Bereiche des Nervensystems nicht genutzt, so degenerieren sie. Dies ist durch Bewegungseinschränkungen, wie z. B. nach dem Tragen einer Schiene oder Gips im motorischen Bereich allgemein bekannt. Es finden jedoch auch immer neuronalen Anpassungen statt, denn unser Nervensystem arbeitet nach dem „use it or lose it“ Prinzip. Abhängig von Dauer und Grad der Verletzung oder Bewegungseinschränkungen kann es nicht nur zu einer vorrübergehenden Dysregulation im Nervensystem, sondern auch zu einer vollständigen Degeneration kommen. Hierbei spielt vor allem das sensorische System eine entscheidende Rolle, denn eine Verletzung oder Operation geht auch immer mir einer sensorischen Einschränkung einher.
Unser Gehirn greift für die Erzeugung von Bewegung immer auch auf sensorische Informationen zurück. Es benötigt permanent afferente Informationen aus dem Körper, um optimale Efferenzen zu erzeugen. Der Verarbeitungsprozess im Gehirn folgt einem bestimmten Ablauf bzw. einer gewissen Richtung. Informationen, die aus dem Körper aufgenommen werden, treten unten in das Gehirn ein, laufen hinten nach oben und erst dann nach vorne. So treffen sie zuerst auf den somatosensorischen Kortex als Teil der Parietallappens und erst danach auf den motorischen Kortex, der Teil des Frontallappens ist. Beide Bereiche liegen direkt aneinander, wobei die sensorischen Komponenten vor den motorischen liegen. Einfach ausgedrückt gilt das Prinzip: Sensorik vor Motorik. Als weiterer Aspekt kommt hinzu, dass das Gehirn verletzten Körperbereiche häufig sensorisch ausblendet. Was kurzfristig ein positiver neuronaler Schutzmechanismus ist, kann langfristig negative Auswirkung auf die Bewegungsausführung und auch das Schmerzempfinden haben. Für unser Gehirn steht Sicherheit an erster Stelle. Häufig tragen auch Operationen zu einer Einschränkung der sensorischen Signalqualität aus den betroffenen Bereichen bei. Nicht oder unzureichend wahrgenommene sensorische Bereiche führen zu einer verschwommenen Körperkarte und senken das Sicherheitsgefühl des Gehirns maßgeblich. So besteht die Möglichkeit, dass trotz einer scheinbar vollständigen strukturellen Heilung und Wiederherstellung immer noch motorische Einschränkungen im Bewegungsumfang vorliegen, Schmerzen anhalten oder sich gar chronifizieren. Eine sensorische Aufarbeitung verletzter Bereiche ist aus neurozentrierter Sicht daher unerlässlich.
Sensorische Rehabilitation in der Praxis
Die sensorische Rehabilitation erfordert eine gezielte Vorgehensweise. Hier ist eine praktische Methode zur Bewertung und Behandlung sensorischer Defizite zu nennen. Als erstes ist zu ermitteln, ob an der verletzten Stelle ein sensorisches Wahrnehmungsdefizit vorliegt.
Hierzu wird die betroffene Stelle mit unterschiedlichen sensorischen Stimuli getestet. Um über die lokale Funktion verschiedener Rezeptoren Aufschluss zu erhalten, sind alle Stimuli zu evaluieren. Für valide Ergebnisse sollten die Tests durch den Therapeuten ausgeführt werden (Tab.).
Vibration stellt einen besonders interessanten sensorischen Stimulus nach Verletzungen dar, da hierüber intensiv Mechanorezeptoren getriggert werden. Mechanorezeptoren spielen vor allem bei Bewegung eine Rolle und sind für optimale Bewegungsausführung verantwortlich bzw. liefern dafür wichtige sensorische Informationen. Die aufgeführten Sensorik-Arten sind nicht nur im verletzten Bereich, sondern insbesondere auch auf, bzw. unmittelbar um Narben herum durchzuführen.
Praktische Durchführung
1. Sensorische Tests
Beginnen Sie damit, die sensorische Stimuli an einer nicht verletzten oder gesunden Körperstelle (nahe des verletzten Bereichs) zu testen und diesen einen Intensitätswert von 10 zuzuordnen.
2. Testen Sie die verletzte Stelle
Führen Sie denselben Stimulus an der verletzten Stelle oder auf einer Narbe durch und lassen Sie den Klienten die empfundene Intensität bewerten. Schritt eins und zwei sind mit allen bereits beschriebenen sensorischen Reizen durchzuführen.
3. Ergebnisse interpretieren
Mögliche Ergebnisse:
- Der Athlet gibt eine 0 = der Reiz wird nicht gespürt
- Der Athlet gibt eine 1 – 9. Der Bereich ist hyposensibel
- Der Athlet gibt eine 10. Keine Reha dieses Reizes notwendig.
- Der Athlet gibt eine Zahl > 10. Der Bereich ist hypersensibel.
Basierend auf den Ergebnissen können Sie feststellen, ob der Bereich hypo- oder hypersensibel ist und entsprechend handeln.
4. Sensorische Rehabilitation
Wenn Hypo- oder Hypersensibilität identifiziert wurde, planen Sie eine gezielte Rehabilitation. Dies kann sensorische Stimulation und motorische Ansteuerung umfassen.
5. Wiederholung
Um nachhaltige neuronale Veränderungen zu erreichen, sollten die Übungen regelmäßig durchgeführt werden. Der Athlet sollte den sensorischen Stimulus auch außerhalb der Behandlung mehrmals täglich für 10 – 45 Sekunden anwenden und seinen Fokus auf die Anwendung legen. Die Zusammenarbeit mit einem Partner ist ideal. Alternativ kann der Athlet den Reiz auch selbst applizieren, wobei stets externe Tools verwendet werden sollten.
Neben der beschriebenen direkten sensorischen Aufarbeitung sind auch weitere Gehirnbereiche, wie insbesondere das Kleinhirn (Cerebellum), auf gute sensorische Informationen angewiesen. Das Kleinhirn ist für Bewegungskoordination, Körperstabilisierung/Balance und die Präzision der Bewegungsausführung verantwortlich, wofür es auf ausreichende und präzise Afferenzen aus den einzelnen Körperbereichen angewiesen ist. Insbesondere aus vorher verletzten Bereichen. Unzureichende oder fehlerhaft sensorische Informationen beeinträchtigt die Funktion des Kleinhirns negativ, was sich wiederum mittel bis langfristig in einer Dysfunktion dessen widerspiegeln kann. Einschränkungen im Cerebellums führen zu einer eingeschränkten Kontrolle der einzelnen Körperbereiche. Die sich daraus ergebende Unsicherheit für das Gehirn kann selbst wiederum zu eingeschränkter Bewegungsfähigkeit bis hin zu motorischen Schmerzen führen. Ein Teufelskreis entsteht. Auch unter diesem Aspekt ist eine sensorische Rehabilitation unentbehrlich und sollte mit motorischer Ansteuerung gepaart sein. Hierbei ist darauf zu achten, dass die Bewegung ausschließlich im schmerzfreien Bereich durchgeführt wird.
Fazit
Die Rehabilitation nach einer Verletzung erfordert mehr als die Wiederherstellung von Strukturen. Eine umfassende Therapie sollte immer eine detaillierte sensorische und neuronale Rehabilitation einschließen, um eine langfristige und vollständige Genesung sicherzustellen. Die entsprechenden Maßnahmen gilt es, in den Behandlungsplan zu integrieren. Denn nur wenn das sensorische System wieder optimal funktioniert, kann der Athlet seine sportlichen Aktivitäten sicher und schmerzfrei wieder aufnehmen.
Autoren
ist Ausbilder und einer der führenden Experten für neurozentriertes Training (Neuroathletik) in Europa. Er leitet die Deutsche Neuro-Akademie in Bornheim und arbeitet u. a. mit Spitzensportlern aus unterschiedlichen Bereichen, Trainern und Therapeuten sowie diversen Einsatzkräften zusammen.