Die medizintechnische Entwicklung hat in den letzten Jahrzehnten immense Fortschritte gemacht und dadurch die Bandbreite der Behandlungsmöglichkeiten enorm erhöht. Bei aller Offenheit gegenüber neuen und innovativen Techniken sollte man altbewährte Verfahren jedoch nicht aus den Augen verlieren – zumal, wenn diese wie die Blutegeltherapie bei zahlreichen orthopädischen und sportmedizinischen Indikationen einfach und ausgesprochen wirksam eingesetzt werden können.
Es gibt Hinweise darauf, dass Blutegel bereits in der Steinzeit zu therapeutischen Zwecken eingesetzt wurden. Nach Deutschland gelangte die Egelbehandlung erst im 16. Jahrhundert. In Europa und USA erlangte sie mit Beginn des 19. Jahrhunderts eine große Bedeutung, was allerdings zu exzessivem Gebrauch und damit zu einer erheblichen Reduktion der Bestände führte. Dadurch nahm die Anzahl der Behandlungen mit Blutegeln seit 1850 stetig ab. Erst ab 1920 haben Naturheilkundler die wurmartigen Blutsauger wieder kurzzeitig verstärkt in Deutschland eingesetzt, insbesondere zur Verhinderung postoperativer Thrombosen und Embolien. Die Renaissance der Blutegeltherapie in Europa und den USA begann dann 1970 mit der Anwendung bei chirurgischen Indikationen sowie in der Orthopädie, beispielsweise bei Arthrosen, Hämatomen und Rückenschmerzen. Nicht zuletzt ist es wohl auch dem Einsatz und den zahlreichen Publikationen von Prof. Andreas Michalsen, Professor für Klinische Naturheilkunde an der Berliner Charité, zu verdanken, dass sich die Blutegeltherapie in Deutschland aktuell wieder etabliert hat. [1, 2]
Blutegelspeichel = Wirkstoff-Cocktail
Blutegel gehören zur Familie der Glieder- oder Ringelwürmer, weltweit gibt es über 600 Egelarten. Zu medizinischen Zwecken wird heute lediglich noch der ungarische Egel („Hirudo verbana“) eingesetzt. Ein Blutegel hat im Kopfbereich fünf Augenpaare und auf dem ganzen Körper verteilt Chemorezeptoren, die wie Nasen und Zungen wirken. Außerdem sind sie im Mundbereich mit Thermorezeptoren zur Beuteortung von Warmblütern ausgestattet. Ihre Arbeit verrichten sie mit drei zahnbesetzten Kiefern, deren insgesamt ca. 240 messerscharfe, winzige Zähne sich in schnell rotierenden Kieferbewegungen durch die Haut raspeln. Die Egel sondern nach dem Biss durch ihre rund 40.000 Speicheldrüsenzellen den speziellen Wirkstoff-Cocktail ab, der aus etwa 200 verschiedenen Einzelsubstanzen besteht. Dazu gehören u. a. Hirudin, Faktor-Xa-Hemmer, Destabilase, Calin und Hyaluronidase. Diese bioaktiven Stoffe wirken blutverdünnend, schmerzstillend, entzündungs- und gerinnungshemmend, gefäßerweiternd, lymphflussanregend sowie mit großer Wahrscheinlichkeit auch antibakteriell [1 – 4].
Anwendung in der Praxis
Im Zuge der Ausbildung für die Zusatzbezeichnung „Naturheilverfahren“ bin ich erstmals auf diese uralte Behandlungsform gestoßen und wende sie mittlerweile seit vielen Jahren in der Praxis an. Blutegel zur medizinischen Anwendung sind in Deutschland zulassungs- und apothekenpflichtige Human-Fertigarzneimittel. Damit unterliegen sie höchsten hygienischen Ansprüchen und sind „Einmalprodukte“, d. h. sie dürfen nur einmal am Menschen eingesetzt werden. Beziehen kann man sie u. a. aus dem hessischen Biebertal, hier ist der erste Betrieb in Deutschland beheimatet, der medizinische Blutegel züchtet. Da Blutegel sehr sensibel sind, Duftstoffe und Desinfektionsmittel nicht mögen und bei deren Anwendung auf der Haut nicht beißen, erhalten Patienten im Vorfeld ausführliche Informations- und Aufklärungsunterlagen. Hier wird auch ausdrücklich auf Kontraindikationen hingewiesen, wie beispielsweise die Einnahme von gerinnungshemmenden Medikamenten, das Vorliegen einer ausgesprochenen Allergieneigung oder eine aktuell durchgeführte immunmodulierende Therapie. Nach Unterzeichnung der Aufklärung wird der Patient bequem gelagert und die zu behandelnde Stelle für einige Minuten mit einem Fangokissen erwärmt, um die Durchblutung anzuregen. Der Blutegel wird dann sanft auf das Behandlungsareal aufgesetzt und sein Entfernen von dieser durch das Überstülpen eines Spritzenkolbens o. ä. verhindert. Nach dem Biss lässt man den Egel ungestört, bis er zumeist nach 30 bis 120 Minuten abfällt. Die Wunde wird im Anschluss locker mit saugfähigem Material verbunden – die weitere Blutung ist für eine gute Wirksamkeit durchaus erwünscht – und die Bissstelle am nächsten Tag in der Praxis kontrolliert.
Blutegeltherapie: Fallbeispiele
Fallbeispiel 1: 29-jähriger Oberliga-Fußballspieler
- Diagnose: Z. n. ORIF m. Plattenosteosynthese + Stellschraube bei bimalleolärer Luxationsfraktur re. OSG vor 10 Monaten
- Therapien bisher: Physiotherapie, Zinkleim-/Salbenverband, Einlagen, NSAR
- Anwendung Blutegeltherapie: 6 Stück re. OSG
-> VAS von 5 auf 2; ROM in Extension und Flexion deutlich verbessert,„Fuß fühlt sich freier an“
Fallbeispiel 2: 65-jähriger Bodybuilder
Diagnose: Tendinopathie Achillessehne re. (seit ca. 8 Monaten)
- Therapien bisher: NSAR, Stoßwellentherapie, Salbenverbände
- Anwendung Blutegeltherapie: 5 Stück re. Achillessehne
-> Patient ist beschwerdefrei und kann wieder uneingeschränkt seinem Krafttraining nachgehen.
Fallbeispiel 3: 48-jähriger ambitionierter Fußballspieler
Diagnose: Hallux rigidus re. Großzehengrundgelenk (ED vor 8 Jahren)
- Therapien bisher: Einlagen, Salbenverband, kühlen, Orthese für die Nacht
- Anwendung Blutegeltherapie: 3 Stück re. Großzehengrundgelenk
-> Patient kann wieder nahezu beschwerdefrei Fußballspielen.
Fallbeispiel 4: 77-jährige Hobby-Golfspielerin
Diagnose: chron.-rezid. Lumbago bei BSV L4/5 und L5/S1 (ED vor >10 Jahren)
- Therapien bisher: Physiotherapie, Wärme, NSAR, Rumpfstabi-Training
- Anwendung Blutegeltherapie: 8 Stück paravertebral bds. LWS + ISG
-> VAS von 7 – 8 auf 1 – 2; ROM Rumpf frei, Golfspielen wieder ohne NSAR möglich.
Studienlage zur Blutegeltherapie
Was genau bei einer Blutegeltherapie passiert, ist noch nicht bis ins letzte Detail geklärt, ebenso, warum der Effekt oft über Monate nach einer Behandlung anhält. Die Forschung zeigt jedoch eindeutig, dass der rein therapeutische Effekt deutlich größer ist als das, was bei einem Placeboeffekt zu erwarten wäre [3]. Und dies bei zahlreichen orthopädischen Indikationen (exemplarische Studien):
- Gonarthrose: bei 72 % reduzierter Schmerzmittelbedarf, bei 32 % länger als ein Jahr anhaltend [5].
- Rhizarthrose: signifikante Schmerzreduktion im Vergleich zur Diclofenac-Kontrollgruppe, ebenso Verbesserung von Beweglichkeit und Griffstärke [6].
- Epicondylitis hum. lat.: signifikant stärkere Schmerzreduktion und verbesserte Mobilität im Vergleich zur Diclofenac-Kontrollgruppe [7].
- Chronische Lumbago: deutliche Beschwerdelinderung bei chronisch unspezifischen Rückenschmerzen, pseudoradikulären Syndromen und SIG-Syndromen [8].
Fazit
Die Blutegeltherapie gehört neben dem Schröpfen, Aderlass, Abführen und Fasten zu den ausleitenden Verfahren und ist Bestandteil der traditionellen Naturheilkunde. Die häufigsten Nebenwirkungen bei der Anwendung von Blutegeln sind lokale Rötungen und Juckreiz über einige Tage, größere Komplikationen kommen in der Regel nicht vor. Vor dem Hintergrund der einfachen Anwendung, des geringen Nebenwirkungsprofils sowie einer studiengestützten Wirksamkeit bietet sich der Einsatz einer Blutegeltherapie auch in der orthopädischen/sportmedizinischen Praxis an, insbesondere bei den Indikationen Arthrose (Bsp.: Knie, Sprunggelenk, Daumen, Handgelenk), Sehnenentzündungen/-reizungen (Bsp.: Bizepssehne, Supraspinatussehne, Patellasehne, Achillessehne), Lumbago/Lumbalgie, ISG-Syndrom sowie großen Hämatomen.
Literatur
[1] Michalsen A.: Heilen mit der Kraft der Natur, Meine Erfahrung aus Praxis und Forschung, Insel Verlag Berlin 2017, S. 51-66
[2] Leitfaden Planung und Umsetzung eines Vortrags zur Blutegeltherapie; Biebertaler Blutegelzucht, 1. Auflage August 2012
[3] Hildebrandt JP & Lemke S. Small Bite, Large Impact-Saliva and Salivary Molecules in the Medicinal Leech, Hirudo medicinalis. Naturwissenschaften 2011; 98: 995-1008
[4] Lemke, S.: Die Speicheldrüsenzellen des medizinischen Blutegels, Hirudo verbana – Struktur, Inhaltsstoffe und mögliche Funktionen; Inauguraldissertation, Greifswald 2014
[5] Span, G. et al.: Long-Term results and adverse effect of leech therapy in osteoarthritis, Focus on Complementary and Alternative Medicine (FACT) 2005; 10:34
[6] Michalsen A. et al. Effectiveness of Leech Therapy in Women with Symptomatic Arthrosis of the First Carpometacarpal Joint. Pain 2008; 137: 452-459
[7] Bäcker M et al. Effectiveness of Leech Therapy in Chronic Lateral Epicondylitis. Clinical Journal of Pain 2011; 27 (5): 442-447
[8] Übersichtsartikel: Michalsen A. Blutegeltherapie bei chronischen Rückenschmerzen. Zeitschrift für Komplementärmedizin 2009; 2: 1-3
Autoren
ist Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin, DiplomSportlehrer und Gründungsmitglied des Athleticums – dem Kompetenzzentrum für Sport- und Bewegungsmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Außerdem ist er seit 2012 Mannschaftsarzt des HSV (2. Fußball-Bundesliga). Spezialgebiete: konservative Orthopädie, Sport-/Fußballmedizin, Naturheilverfahren. Foto: © UKE