Die Geschwindigkeit, mit der sich das öffentlich verfügbare Wissen der Menschheit verdoppelt, nimmt seit Jahrzehnten exponentiell zu. Dauerte es in den 1950er Jahren noch durchschnittlich 50 Jahre, waren es 1980 nur noch 7 Jahre und Anfang der 2000er bereits unter 5 Jahre. Es ist davon auszugehen, dass es mittlerweile nur noch wenige Monate dauert, bis sich das gesamte Wissen um 100 % erhöht [1].
Da verwundert es nicht, dass es für Praktiker, aber auch selbst für Wissenschaftler schwer ist, mit den Entwicklungen Schritt zu halten. Es ist seit langem bekannt, dass neue Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung Jahrzehnte brauchen, um ins allgemeine Bewusstsein, in den Lehrkanon und die praktische Anwendung eines Faches Einzug zu halten. Obwohl sich auch die Kommunikationsmedien mit Internet, Remote-Fortbildungen und E-Mail-Newsletter sowie Chatgruppen in den letzten Jahrzehnten rasant erweitert haben, scheint sich diese Zeitspanne leider nicht wesentlich zu verkürzen. Ein außerordentliches Beispiel hierfür spielt sich gerade vor unser aller Augen ab und wird doch von den meisten von uns nicht wahrgenommen: oder haben Sie schon einmal etwas von „Inflammation Resolution“ und „Resolvinen“ gehört?
Entzündungsprozesse spielen im menschlichen Organismus bei einer Vielzahl von Prozessen, wie z. B. der Wundheilung oder der Schmerzentstehung, eine zentrale Rolle [2, 3]. Diese Prozesse betreffen fast alle klinischen Fachrichtungen. Und wie auch ich haben sicher auch Sie im Grundlagenstudium der Vorklinik die biochemische Entzündungskaskade mit ihren von der Arachidonsäure abgeleiteten Entzündungsmediatoren (Thromboxane, Prostaglandine und Leukotriene) kennengelernt, die später unser Gedankenmodell für die Wirkung von Medikamenten, der Herleitung von zeitlichen Verläufen, Symptomen und Folgezuständen war. Ohne es auszusprechen oder gelesen zu haben, gingen wir dabei aber immer davon aus, dass die Entzündung, so wie sie entsteht, auch einfach wieder aufhört, ausläuft oder abebbt, wenn der Auslöser wegfällt. In der Klinik sah dann aber alles ganz anders aus: nicht selten anhaltende, teils chronifizierende Entzündungszustände ohne weiterhin erkennbaren Auslöser, die für uns schwer erklärbar waren und sind [4, 5]. Dies motivierte Forschergruppen weltweit, sich mit den Abläufen bei der Zurückbildung einer Entzündungsreaktion (engl. „Inflammation Resolution“) genauer zu beschäftigen. Das Ergebnis ist eigentlich eine kleine Sensation: Die Entzündungsrückbildung ist kein ungesteuertes Auslaufen der Entzündungskaskaden, sondern ein fein und komplex regulierter Prozess, in dem bislang unbekannte oder wenig beachtete Mediatoren, die sogenannten Resolvine, eine unverzichtbare Rolle spielen [4, 6, 7].
Keine Heilung ohne Entzündung
Eine Schlüsselposition nimmt dabei die Konzentration des Prostaglandin E2 (PGE2) ein, das mit niedriger ansteigender Konzentration zunächst proinflammatorisch wirkt, dann aber später bei gleichzeitig abnehmenden Co-Mediatoren ein sogenanntes Class-Switch der Lipidmediatoren [7] und folgend auch der Makrophagen und Leukozytenphänotypen [8] hin zu einer Entzündungsauflösung einleitet. Nur durch diese besondere Konstellation von Mediatorkonzentrationen im zeitlichen Verlauf kann die Kaskade zur Entzündungsauflösung in Gang kommen. Durch das Ineinandergreifen der verschiedenen Einzelwirkungen der sogenannten Resolvine (Tabelle) oder auch SPMs (Specialized Proresolving Mediators) genannt, kommt es dann zum gesteuerten Rückgang der Entzündungsreaktion. Die Bedeutung dieser Erkenntnisse für das Verständnis von Entzündungs- und Heilungsprozessen ist enorm. Es ist seit langem bekannt, dass Entzündungsvorgänge für eine erfolgreiche Heilung wichtig sind. Vereinfacht lässt sich das wie folgt zusammenfassen: es gibt wohl Entzündung ohne Heilung, aber keine Heilung ohne Entzündung. Und gerade die nicht (rechtzeitig) abklingenden Entzündungsreaktionen scheinen besonders nachteilig für den Organismus zu sein. So konnte gezeigt werden, dass diese „Non-resolving Inflammation“ bei der Entstehung von malignen Erkrankungen, chronisch-entzündlichen Pathologien [5], aber auch bei chronischen Schmerzzuständen, wie z. B. langwierigen Rückenschmerzen, eine zentrale Rolle zu spielen scheint [8]. Besonders heikel an diesen „neuen“ Erkenntnissen: die Verwendung von bislang häufig eingesetzten und als mehr oder weniger harmlos erachteten Schmerzmitteln wie Nicht-steroideale Antiphlogistika (NSAIDs), scheinen die Ausbildung der für den Class-Switch der Mediatoren und Entzündungszellen notwendige Konstellation der Botenstoffe zu behindern. So konnte gezeigt werden, dass der langfristige Einfluss dieser Medikamente eine Chronifizierung und Verschlechterung der Schmerzzustände bewirken kann [8, 9]. Neben den gastrointestinalen und kardiovaskulären Nebenwirkungen dieser Medikamentengruppe ist dies ein weiterer Grund, ihren Einsatz auf die kürzest nötige Zeit in der niedrigsten möglichen Dosis zu beschränken.
Eine Hoffnung in diesem Zusammenhang sind althergebrachte Therapiemethoden, wie die Physikalische Therapie oder Phytopharmaka, deren Wirksamkeit und Wirkmechanismus vor diesem Hintergrund nun wissenschaftlich und klinisch neu beleuchtet werden kann. So konnte z. B. in sogenannten Transkriptionsanalysen gezeigt werden, dass Traumeel (Tr14), ein Multikomponentenpräparat auf natürlicher Basis, in einem Wundheilungsmodell Gene so reguliert, dass die Entzündungsrückbildung begünstigt werden kann. Es ist davon auszugehen, dass Ähnliches für physikalische Anwendungen, wie z. B. Wasserbäder, Lasertherapie etc. und andere Orthobiologica, wie z. B. PRP zutreffen könnte – untersucht ist es nur leider bislang nicht. Es bleibt daher nur, sich auf die verfügbaren Daten zu stützen und den in der Einleitung beklagten Zustand festzustellen, dass die Wissensgenerierung, aber auch Vermittlung, in unserem Fach trotz aller moderner Technik nach wie vor viel zu langsam vonstattengeht.
Literatur
[1] Lux, H., Regulierter Wissenstransfer in der Medizin. Bayerisches Ärzteblatt, 2017. 04/2017.
[2] The Physiology of Inflammation and the Healing Process. Br Foreign Med Rev, 1844. 18(35): p. 69-79.
[3] Stupin, V., et al., The Effect of Inflammation on the Healing Process of Acute Skin Wounds Under the Treatment of Wounds with Injections in Rats. J Exp Pharmacol, 2020. 12: p. 409-422.
[4] Medzhitov, R., Inflammation 2010: new adventures of an old flame. Cell, 2010. 140(6): p. 771-6.
[5] Nathan, C. and A. Ding, Nonresolving inflammation. Cell, 2010. 140(6): p. 871-82.
[6] Serhan, C.N. and J. Savill, Resolution of inflammation: the beginning programs the end. Nat Immunol, 2005. 6(12): p. 1191-7.
[7] Sugimoto, M.A., et al., Mediators of the Resolution of the Inflammatory Response. Trends Immunol, 2019. 40(3): p. 212-227.
[8] Parisien, M., et al., Acute inflammatory response via neutrophil activation protects against the development of chronic pain. Sci Transl Med, 2022. 14(644): p. eabj9954.
[9] Enthoven, W.T., et al., Non-steroidal anti-inflammatory drugs for chronic low back pain. Cochrane Database Syst Rev, 2016. 2: p. CD012087.
Autoren
ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie. Er ist seit 2018 festangestellter Mannschaftsarzt von Borussia Mönchengladbach, zusätzlich arbeitet er im Orthopädiezentrum Theresie in München. Zuvor war Dr. Doyscher in verschiedenen Abteilungen der Charité Berlin tätig. Außerdem war er Mannschaftarzt des 1. FC Union Berlin sowie Verbandsarzt des DLV und BSD. Dr. Doyscher ist wiss. Beirat der sportärztezeitung.