Unter dem Motto „Was bleibt? Was kommt?“ wird die 70. Jahrestagung der Vereinigung Süddeutscher Orthopäden und Unfallchirurgen (VSOU) vom 28. – 30. April 2022 in Baden-Baden in rund 70 Sitzungen über medizinische Themen und die aktuelle Versorgungs- und Patientensicherheit in Deutschland diskutieren. Ein Schwerpunkt: Wirbelsäulenerkrankungen.
Eingriffe an der Wirbelsäule gehören zu den häufigsten Operationen in der Bundesrepublik. Mit Schlagzeilen wie „Sinnlos unters Messer“ oder „Unsinnig, gefährlich, teuer“ sind diese Eingriffe in der Vergangenheit immer wieder skandalisiert worden. Seit einigen Wochen haben Patienten das Recht, die Indikation zur Wirbelsäulenoperation von einem zweiten Facharzt überprüfen und sich über alternative Therapiemaßnahmen beraten zu lassen. Zu den planbaren Wirbelsäulen-Operationen mit Anspruch auf eine Zweitmeinung gehören die dynamische und statische Stabilisierung der Wirbelsäule, die knöcherne Dekompression, Facettenoperationen, Verfahren zum Einbringen von Material in Wirbelkörper, Entfernung von Bandscheibengewebe und das Einsetzen einer künstlichen Bandscheibe. Nach entsprechender Genehmigung können Fachärzte für Orthopädie und Unfallchirurgie, Neurochirurgie, Neurologie sowie Physikalischer und Rehabilitativer Medizin diese Leistung erbringen. Kritisch ist jedoch, dass die Zweitmeinung lediglich mit rund 23 Euro vergütet wird. Wer nicht draufzahlen will, kann für ein solches Honorar keine differenzierte Stellungnahme abgeben, die sowohl die operative als auch die konservative Perspektive berücksichtigt. Das Honorar ist nicht angemessen. Ein Zweimeinungsverfahren sollte auch nicht als Einladung zum Ärztehopping missverstanden werden. Die Behandlung von Rückenschmerzen verlangt Vertrauen und eine enge Bindung zwischen den Kranken und den Ärzten. Sie ist ein gemeinsamer Weg.
Individualisierte Therapie und richtiger Zeitpunkt
Zu den häufigsten Wirbelsäulenerkrankungen zählen zweifellos der Bandscheibenvorfall und die lumbale Spinalkanalstenose. Bei diesen Krankheitsbildern gibt es nur wenig zwingend notwendige Indikationen zur Operation – und zwar relevante akute und fortschreitende Lähmungen und Störungen der Blasen- oder Darmfunktion. Eine absolute Indikation ist auch die sehr seltene Kauda-Konus-Symptomatik. Ansonsten gilt: Die Therapie muss individualisiert werden, wobei die Operation nur eine mögliche Option ist. Oft ist die konservative Therapie vielversprechend. Das zeigen auch die Zahlen der Barmer Ersatzkasse aus dem Jahr 2016. Von rund 47 Millionen Patienten mit Rückenschmerzen wurden nur 611.000 stationär behandelt, 207.000 wurden operiert. Allerdings darf man auch nicht den richtigen Zeitpunkt für eine Operation verpassen. Die Ergebnisse sind besser, wenn die Schäden noch nicht zu ausgeprägt sind. Auch die Chronifizierung der Schmerzen muss verhindert werden. Auf der anderen Seite braucht die konservative Therapie Zeit und darf nicht zu schnell aufgegeben werden. Die richtigen Therapieverfahren und der richtige Zeitpunkt bewegen sich in diesem Spannungsfeld. Dabei muss die Frage, ob es Zeit für eine Operation ist, immer wieder neu gestellt und beantwortet werden. Es geht um ein fortlaufendes Abwägen. Was geht noch, was geht nicht mehr? Dann sollte zusammen mit den Patienten über den nächsten Schritt entschieden werden. Sinnvoll ist auch, sich in einer Einrichtung behandeln zu lassen, die über alle Optionen der konservativen und operativen Orthopädie und Unfallchirurgie verfügt. So lässt sich die Therapie am besten individualisieren und es stehen alle Therapieoptionen zur Verfügung. Die Indikation zur Operation sollte nie allein auf der Basis des MRT-Bilds gestellt werden. Es muss eine Schmerzursache geben, die sich auch mit einer Operation adressieren lässt. Sonst ist der Eingriff nicht erfolgsversprechend, denn beim Rückenschmerz steht die Operation immer in Konkurrenz zum Spontanverlauf. Krankengeschichte, körperliche Untersuchung und MRT-Aufnahmen müssen kohärent sein. Wenn das alles nicht zusammenpasst, ist die Operation keine Lösung. Allerdings sind auch die konservativen Therapien keine Schrottschusstherapien. Sie werden nicht beliebig verordnet, sondern auf den erhobenen Befund und die Schwere der individuellen Erkrankung bezogen. Wenn mehrere gleichwertige Therapien zur Verfügung stehen, sollte ausgelotet werden, welche Behandlung die besten Aussichten auf Erfolg hat. Hilfreich sind zudem gemeinsam getroffene Therapieentscheidungen.
Versorgungssicherheit unter Druck – Patientensicherheit in Gefahr
Beim diesjährigen VSOU-Kongress wird es aber nicht nur um medizinische Schwerpunktthemen gehen, sondern auch um die Zukunft der Patienten- und Versorgungssicherheit in der Bundesrepublik. Beide stehen nicht erst seit der Corona-Pandemie unter Druck. Mangelnde Ressourcen, fehlendes Personal, finanzieller Druck, strukturelle Probleme, hohe gesetzliche Hürden, eine überbordende Bürokratie und eine mangelnde Digitalisierung haben eine Situation erzeugt, die die Versorgung zunehmend gefährdet. Das hat zur Folge, dass auch Behandlungen hinter dem zurückbleiben, was medizinisch möglich ist, weil die notwendigen Bedingungen fehlen. Mit der Versorgungssicherheit gerät auch die Patientensicherheit in Gefahr. Ohne strukturelle Veränderungen wird sich das Versorgungsniveau nicht halten lassen. Diese Entwicklung lässt sich sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich beobachten. In den Kliniken engen Investitionsstaus, hohe Vorhaltekosten, steigende gesetzliche Anforderungen und eine nicht kostendeckende Erstattung den Spielraum immer weiter ein. Wenn es immer schwieriger wird, eine Klinik betriebswirtschaftlich auskömmlich zu führen, geht das irgendwann zu Lasten der Patientensicherheit. Bei der Zusammenarbeit zwischen Kliniken und Praxen gibt keine Anreize für eine konsequente Umsetzung sektorübergreifender Behandlungsketten, sondern Hindernisse. Ohne eine Definition dessen, was eine sektorübergreifende Zusammenarbeit ist, steht auch schnell der Verdacht der Korruption im Raum. Verantwortlichkeiten – etwa in der Nachbehandlung oder der Operationsvorbereitung – sind nicht klar definiert und die Vergütung bleibt hinter dem Aufwand zurück. Es sind dringend verlässliche Konzepte und Vergütungsmodelle nötig, um auch in Zukunft eine sichere Patientenversorgung gewährleisten zu können.
Was bleibt? Was kommt?
Die Zeichen stehen auf Veränderungen, nicht nur wegen der Corona-Pandemie, der Digitalisierung und der Gesundheitspolitik der neuen Ampel-Regierung, sondern auch durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Wir haben ein Programm zusammengestellt, das nicht nur medizinisch-wissenschaftlich, sondern auch berufspolitisch überzeugt. Schwerpunktthemen werden neben den Erkrankungen der Wirbelsäule mit ihrem hohen interdisziplinären und intersektoralen Anspruch auch Erkrankungen und Verletzungen des Fußes und der Sehnen sein. Einige Sitzungen werden sich der Kindertraumatologie und Kinderorthopädie mit besonderer Gewichtung von Achsabweichungen am wachsenden Skelett widmen. Die konservative Orthopädie wird sich wie ein roter Faden durch die gesamte Veranstaltung ziehen. Wir werden uns mit einigen Veranstaltungen auch direkt an junge Kollegen wenden, um ihnen das nötige Wissen für eine Medizin im Umbruch zu vermitteln. Hier sehen wir eine besondere Verpflichtung. In unserem Festvortrag bei der Eröffnungsveranstaltung wird Professor Giovanni Maio von der Universität Freiburg über die ärztliche Identität in einer sich wandelnden Welt sprechen.
Kommen Sie nach Baden-Baden und diskutieren Sie mit, wenn es heißt. Was bleibt? Was kommt? Wir freuen uns auf Ihren Besuch und feiern Sie mit uns auch unseren 70. Kongress-Geburtstag.
Wir freuen uns sehr, mit der sportärztezeitung offizieller Medienpartner des diesjährigen VSOU-Kongresses in Baden-Baden zu sein. Das vollständige Programm des Kongresses finden Sie hier: www.vsou-kongress.de
Autoren
ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie und Präsident der 70. VSOU-Jahrestagung 2022. Seit 2019 ist er Direktor der Unfallchirurgischen und Orthopädischen Klinik am Universitätsklinikum Erlangen und Lehrstuhlinhaber für Unfallchirurgie und Orthopädie der Friedrich Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seine klinischen Schwerpunkte sind die Behandlung von Wirbelsäulenverletzungen und die Versorgung von Schwerverletzten sowie die Sport- und Gelenkchirurgie. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Trauma-Immunologie.
ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie in der Praxis Ludwigsplatz – Ortho-Zentrum Karlsruhe und Präsident der 70. VSOU-Jahrestagung 2022. Er war Präsident des Berufsverbands für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU) und hat zahlreiche weitere berufs- und sozialpolitische Ehrenämter inne. Seine Tätigkeitsschwerpunkte sind Arthrose, Sportmedizin, Rheuma, Osteologie und Erkrankungen des Fußes.