Grundlage für die Anfrage des Chefredakteurs der sportärztezeitung für diesen Beitrag war der jüngste Ausstieg einer Tennisspielerin aus einem großen Turnier. In der inhaltlichen Abstimmung und visuellen Gestaltung zeigt sich das Spannungsfeld der Berichterstattung über in der Öffentlichkeit stehenden Personen und medizinischer Zurückhaltung und Versachlichung.
Die „Goldwater Rule“ verbietet Fachleuten, sich im Kontext medialer Berichterstattung und mutmaßlicher Erkrankungen von in der Öffentlichkeit stehenden Personen sich zu Ferndiagnosen hinreißen zu lassen. Diagnosen also, die als Erkenntnisquelle nicht den primären Patientenkontakt und eine fundierte medizinische Anamnese- und Befunderhebung (Längs- und Querschnittsbefundungen) mit mehreren Untersuchungszeitpunkten und eine nachfolgende Interpretation (diagnostische Beurteilung) derselben zur Grundlage haben. Die folgenden Ausführungen wollen sich von „Einzelfallbetroffenheiten“ abheben.
Sport vs. Depressio oder: Zerstreuung und Tiefsinn
Die Wortbedeutung des Begriffs Sport geht auf „disportare“ zurück und meint eine Form der zerstreuenden Freizeitgestaltung mit, historisch gesehen elitärem, von den Nöten einer Normalbevölkerung abgehobenem Charakter. Sport ein „upper-class-Phänomen“ mit eventueller Analogie zur von Freud beschriebenen neurotischen Phänomenen der städtischen Oberschicht des 19. Jahrhunderts? Der Depressionsbegriff fußt auf dem lateinischen „deprimere“ und meint direkt übersetzt, dass Betroffene in einer, die normalen Alltagsfunktionen einschränkenden Art und Weise, „niedergedrückt“ werden. Differenziellere Übersetzungen des Begriffs legen auch Niedergeschlagenheit, Zusammenbruch, Schwermut und Tiefsinn nahe. Letztere beiden ganzheitlicheren Qualitäten zeichnen ein Bild, das aus dem vordergründig „mechanisch-funktionierenden Leistungs-Organismus“ eben auch einen emotionalen, introspektionsfähigen, empfindsamen und tiefsinnigen Menschen macht, der durch die krankheitsbedingten Beeinträchtigungen in den alltäglichen Lebensverrichtungen im Dunkelfeld der öffentlichen Wahrnehmung still verzweifelt.
Häufigkeiten von Affekterkrankungen
Die Punktprävalenz ist ein gutes Maß, die aktuelle Belastung einer Volkswirtschaft oder eines anderen Vergleichskollektivs zu veranschaulichen. Für schwere, behandlungsnotwendige Affekterkrankungen, zu denen im Wesentlichen Angststörungen, Panik- sowie Zwangserkrankungen und Depressionen zählen, liegt diese Zahl bei 10 %. Übersetzt heißt dies, dass beim EM-Endspiel am 11. Juli 2021 in London von den 22 Spielern auf dem Feld zwischen 2 und 3 Spielern bezüglich ihrer mentalen Gesundheit beeinträchtigt gewesen sein müssten. Für jeden einzelnen Amateur oder Profisportler, Funktionär, Trainer und Referee liegt die Lebenszeitprävalenz, also das Risiko, einmal im Leben an einer behandlungsnotwendigen Affekterkrankung zu erkranken, zwischen 20 und 25 %. Bildlich gesprochen reicht das Erkrankungsrisiko, das jedem Einzelnen innewohnt, mindestens vom Boden bis über das Knie. Aus großen Kohortenstudien der vergangenen Dekaden kennt man als Haupttreiber für Affekterkrankungen Einsamkeit bzw. soziale Exklusion und Stadtleben. Des Weiteren haben sich die Erstmanifestationen von depressiven Störungen über die Lebensspanne verschoben. Ersterkrankte werden immer jünger und sind oft bereits in der Adoleszenz betroffen, aber auch die sogenannte Altersdepression nimmt zu.
Häufig sehen wir ein Aufflammen affektiver Symptome an sogenannten „Lebensübergängen“. In der Adoleszenz geht es um emanzipatorische Prozesse bezogen auf das Elternhaus und schulische-berufliche Anpassungsnotwendigkeiten. Senioren am Übergang vom Erwerbsleben in den (Un)-Ruhestand haben dank einer deutlich höheren Lebenserwartung als noch vor 50 Jahren die Herausforderung, sich für ihr drittes Lebensdrittel nach dem Erwerbsleben, das sie oft bei guter körperlicher und mentaler Gesundheit antreten, neu zu erfinden – Chance und Herausforderung gleichermaßen.
Sinnfindung wird durch unumkehrbare gesellschaftliche Entwicklungen seit der Industrialisierung mit Mechanisierung im 19. und der heutigen Digitalisierung und Algorhythmisierung und einer damit einhergehender Sinnentkopplung vieler Menschen und einem zunehmend oberflächlichen Leistungsstreben in westlichen Welten erschwert. Diese Entwicklungen stehen im deutlichen Widerspruch sozialwissenschaftlicher Konzepte, wie sie bspw. Abraham Maslow in den 1960 und 1970er Jahren geprägt hat. Lassen sich diese Erkenntnisse auf Sportler-Biografien anwenden?
Leistungssportler – moderne Clowns?
Die Analogie mag auf den ersten Blick erstaunen. Was hat eine Zirkusbiografie mit einer Leistungssportbiografie gemein? Vielleicht mehr als wir denken. Leistungssportler lernen wie Artisten und Künstler früh, diszipliniert und fokussiert zu sein und je nach Sportart in unterschiedlicher Manier, wie man sich „aufzuführen“ hat. Sie kennen den Clown, der erheitern, unterhalten soll und auch als Spiegelbild der eigenen vielleicht gebrochenen Seele etwas „belustigend-tieftrauriges“ haben darf? Hier unterscheiden sich Sportler von Clowns, obwohl beide Höchstleistungen erbringen. Dem Sportler kommt die Rolle des Helden, des Gewinners, des Allmächtigen zu. Ist er das? Der Sportler wird zur Projektionsfläche einer, durchschnittlichen Gesellschaft. Zum Sportler wird aufgeschaut und wenn das Idol oder die Mannschaft obsiegt, fällt auf den Betrachter gefühlt ein bisschen Ruhm mit ab. Die Sportler-Rolle im Scheinwerferlicht darf demnach auch zum Schutz etwas „Maskenhaftes“ beinhalten. Mit dem Unterschied, dass Clowns Kostüme tragen, sich Schminken und oft in ihrem privaten Leben nicht erkannt werden. Leistungssportler haben keine Schminke. Sie haben Kopfsponsoren, die auf Kamera-Augenhöhe Heldenhaftes sehen möchten.
Aufstehen, Krone richten, (nicht mehr) Weitermachen
Oft wird von einer uninformierten Öffentlichkeit verkannt, dass sich Sportler sehr gut mit dem Scheitern, dem Wiederaufstehen und sich selber motivieren auskennen und über eine sehr ausgeprägte Resilienz verfügen. Der Umgang mit den oft kurzen, seltenen Erfolgen und die Herausforderungen im Hinblick auf das, was nach dem Karriereende kommt, kann große Schwierigkeiten beinhalten. Ebenso der Umgang mit Verletzungen und den damit verbundenen Zukunftsängsten. Aus qualitativen Arbeiten mit Leistungsträgern weiß man, dass Misserfolg und Erfolg, je länger eine Karriere dauert, zunehmend auch Einsamkeitsgefühle auslösen und sich Ängste mit Zunahme körperlicher und gegebenenfalls auch seelischer „Verschleißerscheinungen“ einschleichen, die oft im „Flow“ der laufenden Karriereherausforderungen weggedrückt werden müssen. Diese Form des „Zerrissen-Seins“ oder ein Gefühl des „Zerrissen-Werdens“ und ein Auslenken aus der inneren (Leistungs-) Mitte, begünstigen Zweifel und Sinnentleerung und sie kontrastiert sehr stark mit dem Treiber nach innerer Bestätigung durch Erreichung der gesteckten Ziele.
Wichtig Es geht dabei nicht um die Bestätigung im Außen z. B. durch Medien oder Fans. Sportler haben eine viel stärkere innere Leistungsinstanz, die früh in den Sportlerbiographien angelegt wird, der sie genügen müssen. Diese Instanz am Übergang vom aktiven Sportlerleben in ein neues Leben zu verändern, stellt oft eine große Herausforderung dar, die bei Vorhandensein ausreichend guter, stabiler sozialen Bindungen außerhalb des Sports, wenn dann nur temporär therapeutisch begleitet werden muss.
Einfache Werkzeuge – große Wirkung. Bio-Psycho-Soziales Modell
Ärzte und Therapeuten tun gut daran, sich auf die alten Werte der Diagnostik zurückzubesinnen und sich eines zwar einfachen, aber so wichtigen Konzepts eines ganzheitlichen Krankheitsmodells zu bedienen – dem Bio-Psycho-Sozialen Modell. Dabei wird oft die soziale Dimension von Krankheit in der Anamnese- und Aktualbefundserhebung übergangen. Insbesondere auch die Exploration der Familienanamnese im Hinblick auf psychische Erkrankungen oder eine Sexualanamnese und das konsequente Abfragen und Prüfen objektiv erkennbaren und zu objektivierenden Symptomen ist zentral. Das von der Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie geprägte AMDP-System ist ein sehr gutes Hilfsmittel zur standardisierten Erfassung und Dokumentation eines psychopathologischen Befundes. Im AMDP-System werden sogenannte Selbst- und Fremd-Items beschrieben. Diese Einteilung hilft uns Ärzten, dass wir erkennen, dass es neben objektiv-erkennbaren Symptomen, wie beispielsweise eine Bewusstseinseintrübung (ITEM 2), auch Phänomene gibt, die auf den ersten Blick nicht erkannt und nur durch eine aktive Exploration abgebildet werden können. Hierzu gehören beispielsweise die oft für Patienten schambehafteten Zwangsphänomene. Wer nicht aktiv nach Zwangsgedanken (ITEM 30), Zwangsimpulsen (ITEM 31) oder Zwangshandlungen (ITEM 32) fragt, wird diesen, gerade auch bei Sportlern häufig vorkommenden Leidensbereich verpassen.
Weitere zentrale Wirkfaktoren einer Arzt-Patientenbeziehung und für Sportler in besonderem Masse wichtig sind die 3 V‘s:
- Verfügbarkeit – auch telemedizinisch
- Verlässlichkeit – auch über das Karriere-Ende hinaus
- Vertraulichkeit – Fachbeziehung auf Augenhöhe
Wichtig dabei ist, dass es für jede Form der Beratung, des Coachings oder einer Therapie nur einen Auftraggeber geben darf: Den Sportler selbst. Insofern sind die therapeutische Unabhängigkeit und niederschwellige Zugänglichkeit von entscheidendem Wert, ob ein Sportler, der psychisch erkrankt ist, Hilfe annimmt oder nicht. Eine breit angelegte auf die aktuelle Lebenssituation des Sportlers bezugnehmende somatische und psychiatrische Diagnostik und Differenzialdiagnostik mit Fokus auf Persönlichkeitsentwicklung gerade auch junger Sportler, Ressourcen, dysfunktionale Regulationsmechanismen (e. g. stoffgebundene und stoffungebundene Süchte, Bedarf an Schmerzmitteln o. ä.)ist unumgänglich. 2010 hat die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (DGPPN) das Referat „Sportpsychiatrie und -psychotherapie“ gegründet. Via dieser Initiative und der hinterlegten Netzwerke haben Sportler die Möglichkeit, ortsnahe, niederschwellige und diskrete Unterstützung zu bekommen:
(→ Sportpsychiatrie – Referate – Die DGPPN – DGPPN Gesellschaft https://www.dgppn.de/die-dgppn/referate/sportpsychiatrie.html).
Der Olympische Gedanke
Das IOC wurde 1894 gegründet. Mit der Olympischen Idee sind Ideale wie das Streben nach Höchstleistungen, ein friedlicher Leistungsvergleich im Wettkampf, Freundschaft, Völkerverständigung sowie der Fairplay-Gedanke verbrieft. Die olympischen Ringe wurden von Pierre de Coubertin 1913 gestaltet. Fünf verschlungene Ringe in den Farben Blau, Gelb, Schwarz, Grün und Rot. Gemäß Pierre de Coubertin seien die Ringe symbolisch zu verstehen und meinen die fünf Erdteile, die durch diese Darstellung und die olympische Bewegung vereint sein sollen. Durch die Brille des Psychiaters fällt in Coubertins Darstellung des olympischen „Logos“ der schwarze Ring, der von den anderen Ringen stabilisiert und gehalten wird, auf. Die Lebenszeitprävalenz für Affekterkrankungen liegt in der Größenordnung von 1:4, entspricht also der Anzahl olympischer Ringe. Der schwarze Ring, der vielleicht auch als affektbelasteten Menschen gedeutet werden kann, der froh ist, von anderen gesunden Kettengliedern gehalten zu sein – denn: Wir alle könnten morgen schon von einer Depression betroffen sein – direkt oder indirekt.
Autoren
ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH sowie praktischer Arzt. Er führt seit 10 Jahren eine Psychiatrische Praxis im Fürstentum Liechtenstein und ist Mitbegründer und Chefarzt des Clinicum Alpinum, einer der modernsten psychiatrischen Fach-Kliniken, die sich auf Menschen mit schweren Affekterkrankungen fokussiert und seitens der DGPPN als außeruniversitäres Zentrum für seelische Gesundheit im Sport anerkannt ist.
Foto: © Georgiev Nicolaj/clinicum alpinum