Klettern gehört, wie viel andere Sportarten auch, zu den Sportarten, bei denen ein niedriges Körpergewicht von Vorteil ist. Dies führt dazu, dass viele Sportler auf zumindest eine ungesunde Art und Weise ihr Gewicht kontrollieren. Die Folge sind Mangel-Ernährungen mit teils klassischen Symptomen und Langzeitfolgen: Karies, Osteoporose, Ermüdungsfrakturen, Amenorrhoe, Nierenerkrankungen, Anämie und u. a. schwere psychische Folgen.
Vor allem Anorexie und Depression stellen eine mögliche Folge der krankhaften Überzeugung dar, sein Gewicht niedrig halten zu müssen. Bei vielen Athleten sind diese Überzeugungen so fest verankert, dass sie ihr ganzes Leben unter den mentalen Folgen leiden.
Mangelernährung im Sport oder RED-S (Relative Energy Deficiency in Sport)
Das Syndrom der Mangelernährung im Sport RED-S beschreibt eine beeinträchtigte Physiologie in Folge einer relativen Energie-Deffizienz und beinhaltet Einschränkungen des Metabolismus, des Menstruationszyklus, der Knochengesundheit, des Immunsystems, der Proteinbiosynthese und der Herz-Kreislauf-Funktion [3, 4]. Obgleich grundsätzlich jeder Sportler von diesem Syndrom bedroht sein kann, gibt es doch einige Sportarten, die diesbezüglich besonders gefährdet sind. Das sind Sportarten mit dem Aspekt der Ästhetik und des Aussehens, Gewichts-Klassen-Sportarten, Ausdauersportarten und Sportarten, bei denen das eigene Körpergewicht gegen die Schwerkraft bewegt werden muss (z. B. Klettern, Geräteturnen, Skispringen, Laufsport) [3, 4]. Das IOC hat im Jahr 2014 ein „Consensus Statement“ veröffentlicht, indem die Zeichen und Gefahren der Mangelernährung beim Sportler (RED-S) erklärt werden [2]. Ein Jahr später legte das Komitee mit einem Diagnostik-Tool nach, dem RED-S CAT [3]. Mit diesem werden Sportler nach komplexer medizinischer Diagnostik in drei Kategorien eingeteilt (Rot, Gelb, Grün). Dabei sind rote Sportler klinisch krank und bedürfen einer Therapie. Das Betreiben des Sports und vor allem die Teilnahme an Wettkämpfen stellt hier eine gesundheitliche Bedrohung dar und diese Sportler sollten daher gesperrt werden. Sportler der gelben Kategorie gelten als gefährdet, in die rote Kategorie abrutschen zu können. Sie bedürfen daher einer medizinischen Betreuung und Überwachung. Sie können aber unter bestimmten Voraussetzungen ihren Sport ausüben und können auch an Wettkämpfen teilnehmen. Grüne Athleten gelten als gesund und sind entsprechend voll wettkampftauglich.
RED-S im Klettersport
Ein optimales Verhältnis zwischen Körpergewicht, bzw. niedrigem Körperfettgehalt bei noch hoher Kraft ist im Sportklettern ein wesentlicher Faktor [7], da es sich um eine Sportart handelt, bei der das eigene Gewicht gegen die Schwerkraft bewegt werden muss [4]. Kletterer versuchen daher, die Nahrungsaufnahme und insbesondere die Fettaufnahme zu reglementieren, um ihr Körpergewicht und hier vor allem den Körperfettanteil auf niedrigstem Niveau zu halten. Der Einfluss eines niedrigen Körpergewichts auf die Kletterleistung muss jedoch kritisch hinterfragt werden. Es gibt Studien, die klar zeigen konnten, dass gute Kletterer außergewöhnlich dünn und klein sind [5-8]. Eine Kausalität lässt sich aus diesem Zusammenhang allerdings noch nicht ableiten [4]. Andere Arbeiten zeigen auch, dass der Effekt der Leistungssteigerung unter einem Körperfettwert von 6 % nicht mehr gegeben ist.
Über die letzten zehn Jahre sah die MedCom der IFSC eine Zunahme an Sportlern mit kritischer Ernährungssituation. Daher wurden über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren zunächst BMI (Body Mass Index) und später auch MI (Massen Index) Messungen bei einzelnen Wettkämpfen durchgeführt. Der MI berücksichtigt dabei die Scheitel-Steißlänge und liefert fairere Ergebnisse bei Personen mit langen, dünnen Gliedmaßen. Bedingt durch die dadurch dokumentierte Zunahme an sehr dünnen Sportlern wurden dann im vergangenen Jahr bei allen Weltcups im Lead und Bouldern Messungen durchgeführt. Bei Auffälligkeiten bei einem Wettkampfathleten wurde der nationale Verband informiert und aufgefordert, entsprechende Schritte einzuleiten, um den Athleten zunächst in eine Kategorie einzuteilen und dann einem Behandlungsplan zuzuführen, wenn indiziert. Außerdem wurden weitere medizinische Befunde eingefordert. Die Möglichkeit einer Schutzsperre seitens der MedCom der IFSC besteht allerdings bis dato nicht. Eine solche wird aber von der MedCom seit Jahren bei der IFSC eingefordert, einerseits zum Schutz der betroffenen Athleten, andererseits zur Vermeidung der Etablierung eines falschen Rollenmodells. 2022 wurde zusätzlich in Zusammenarbeit mit einer internationalen Gruppe an Wissenschaftlern eine Studie zur sekundären Amenorrhoe bei Wettkampfsportlerinnen aufgelegt und publiziert [1]. Von 114 Weltcupkletterinnen berichteten 16 % über eine sekundäre Amenorrhoe und 14,9 % über eine Essstörung. Zusätzlich wurden aufwändige Messungen der subkutanen Fettmasse mittels Ultraschall durchgeführt. Hierbei zeigten die Kletterinnen im Vergleich mit allen anderen Sportarten die niedrigsten jemals gemessenen Werte (Publikation im Review). Aufgrund dieser eindeutigen Datenlage wurde von der MedCom der IFSC in Zusammenarbeit mit externen Spezialisten, u. a. der MedCom des IOC, ein detailliertes Konzept zur Frühdetektion von gefährdeten Sportlern erarbeitet. Hierbei sollte mittels BMI/MI gescreent werden und auffällige Sportler wären dann aufgefordert gewesen, umfangreiche medizinische Unterlagen vorzulegen, z. B. psychologisches Gutachten, Ernährungsfragebogen, Knochendichtemessung, Laboruntersuchungen, sportmedizinische Untersuchung usw. Diese medizinischen Daten sollten dann über ein entwickeltes Scoring System eine Ampeleinstufung entsprechend der zuvor beschriebenen Grün-, Gelb-, Rot-Kategorien ergeben, auf welcher Grundlage gegebenenfalls auch eine Schutzsperre seitens der IFSC möglich gewesen wäre. Dieses fertige Konzept wurde seitens der IFSC auch nach mehrmaligen Aufforderungen nicht umgesetzt.
Fazit
Sportklettern ist nur eine der Sportarten mit einem RED-S Problem. Viele andere sind ebenfalls davon betroffen. In keiner anderen Sportart besteht allerdings eine so gute Datenlage wie im Klettersport. Hier liegen Mess-Ergebnisse aller Halbfinalteilnehmer aller Wettkämpfe vor. Da die IFSC nicht gewillt war, die von der MedCom vorgeschlagenen Ansätze umzusetzen, sahen sich Drs. Burtscher und Schöffl gezwungen, zurückzutreten. Die Eigengefährdung der Athleten durch diese ungesunden Ansätze wollten die beiden Vorsitzenden nicht weiter tragen. National sind in Deutschland und Österreich bereits ähnliche Konzepte umgesetzt und wirksam. Burtscher und Schöffl werden sich weiter für die betroffen Sportler und Thematik einsetzen.
(Teile des Textes stammen aus dem Kapitel: Chronische Mangelernährung im Klettersport aus dem Buch „Klettermedizin“ von Schöffl V. und I. et al.)
Literatur
[1] Joubert LM, Warme A, Larson A, et al. Prevalence of amenorrhea in elite female competitive climbers. Frontiers in Sports and Active Living. 2022;4.
[2] Mountjoy M, Sundgot-Borgen J, Burke L, et al. The IOC consensus statement: beyond the Female Athlete Triad–Relative Energy Deficiency in Sport (RED-S). Br J Sports Med. 2014;48(7):491-497.
[3] Mountjoy M, Sundgot-Borgen J, Burke L, et al. The IOC relative energy deficiency in sport clinical assessment tool (RED-S CAT). Br J Sports Med. 2015;49(21):1354.
[4] Schöffl I, Schöffl V. Chronische Mangelernährung im Klettersport. In: Schöffl V, Schöffl I, Hochholzer T, Lutter C, eds. Klettermedizin: Grundlagen, Unfälle, Verletzungen und Therapie. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg; 2020:177-183.
[5] Schöffl I, Schöffl V, Dotsch J, Dorr HG, Jungert J. Correlations between high level sport-climbing and the development of adolescents. Pediatric exercise science. 2011;23(4):477-486.
[6] Smith EJ, Storey R, Ranchordas MK. Nutritional Considerations for Bouldering. Int J Sport Nutr Exerc Metab. 2017;27(4):314-324.
[7] Watts PB, Martin DT, Durtschi S. Anthropometric profiles of elite male and female competitive sport rock climbers. J Sports Sci. 1993;11(2):113-117.
[8] Zapf J, Dingerkurs M, Fichtl B, Wielgross C. Ernährung und Essverhalten beim Sportklettern. Sportortho Sporttrauma. 2002;18:97-103.
Drs. Burtscher und Schöffl treten aus Protest aus der Medizinischen Kommission der IFSC zurück
Am 5.7.2023 kündigte ich (VS) zusammen mit unserem Präsidenten unseren sofortigen Rücktritt aus der Medizinischen Kommission (MedCom) der International Federation of Sport Climbing (IFSC), des internationalen Sportkletterverbands an. Damit lehnen wir jegliche weitere Verantwortung für das medizinische Wohlbefinden unserer Athleten ab und protestieren gegen das Nichtumsetzen der IFSC der von der medizinischen Kommission geforderten Maßnahmen zum Schutz der Sportler.
_________________________
Autoren
ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie mit Zusatzbezeichnungen spezielle Unfallchirurgie, Sportmedizin, Notfallmedizin. Er ist Leitender Arzt der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie sowie des Zentrums Interdisziplinäre Sportmedizin am Klinikum Bamberg. Prof. Schöffl ist Verbandsarzt DAV und war von 2009 bis 2023 im MedCom IFSC.
ist Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin mit Zusatzbezeichnungen Kinderkardiologie und Sportmedizin. Sie ist Oberärztin der Abteilung für Kinderkardiologie und Leiterin der Kinderkardiologischen Sportmedizin, Kinderkardilogie, Universitätsklinikum Erlangen. Außerdem ist Dr. Schöffl Teamärztin des DAV.