Bewegung ist simpel, so scheint es. Die Sinnesorgane erhalten einen internen oder externen sensorischen Stimulus. Innerhalb von Millisekunden wird dieser in das Gehirn weitergeleitet, welches die aufsteigenden Signale interpretiert und verarbeitet. Anschließend wird aufgrund der getroffenen Entscheidung ein Rückkopplungssignal an die entsprechende Zielmuskulatur gesendet und ein motorisches Endprodukt, die Bewegung, entsteht.
Doch hinter dieser einfachen Formulierung stecken komplexe neurologische Prozesse und bestimmte Schutzmuster, die durch Verletzungen aus dem Gleichgewicht gebracht werden können. Neurozentrierte Trainingsreize können im Verlaufe einer Rehabilitation dazu genutzt werden, diese Prozesse zu beeinflussen und unverhältnismäßig hohe Schutzmuster abzubauen. Der nachfolgende Artikel soll in Grundzügen darauf eingehen, wie Bewegungen entstehen und neurozentriertes Training im alltäglichen Therapieprozess eingebunden werden kann – Neuroathletik für Jeden.
Gesamten Körper einbeziehen
Als anatomisch struktureller Übergang von der Peripherie (untere Extremitäten) zum zentralen Nervensystem (Rückenmark und weiterführend das Gehirn) stellt der Lenden-Becken-Hüft Bereich durch die im Becken sitzenden Hüftgelenke und die darauf aufbauende Lendenwirbelsäule eine besondere Herausforderung in der Therapie verschiedenster Krankheitsbilder und Problemstellungen dar. Ein perfekter Angriffspunkt für neurozentriertes Training, damit der Heilungsverlauf nicht unnötig ins Stocken gerät. Das Gehirn verarbeitet aufkommende Reize und Stimuli nach dem Prinzip „sensory before motor“. Um einen kontinuierlichen Therapieverlauf bestmöglich zu unterstützen, ist es daher sinnvoll, trotz bestehender Hüftproblematiken (Hüft TEP, Oberschenkelhalsfraktur, unspezifische Schmerzen in der Leiste, ansatznahe Adduktorenprobleme etc.), den gesamten Körper – speziell seine peripheren Nervenbahnen – einzubeziehen. Da u. a. die Extremitäten, insbesondere die Hände und Füße, über den Homunculus ein großes somatotopisches Areal im Gehirn belegen, ist es wichtig, zur Verbesserung des Inputs, die sensorische Informationsweiterleitung zu adressieren. Dies kann durch einfache sensorische Stimuli wie Vibration, sanfte Berührungen oder leichtes Klopfen geschehen. [3, 4]
Trotzdem kann es sein, dass Patienten bei Hüftbeschwerden mit herkömmlichen Trainingsmethoden nicht weiter in die Hüftflexion kommen. Ein erster Angriffspunkt kann daher die Aktivierung des III., IV. (Mesencephalon) und VI. (Pons) Hirnnerves sein, welche für Augenbewegungen zuständig sind (N. oculomotorius, N. trochlearis, N. abducens). Binokulares Sehen gilt als die wichtigste Funktion des visuellen Systems. Die Fazilitation der Augenmuskeln (uni- oder bilateral) ist mit Haltungsreflexen verschaltet, welche strukturell zwar keinen Einfluss auf die Hüfte haben, dennoch aber über eine nervliche Verknüpfung zur Verbesserung deren Flexion beitragen können. So fördert eine Augenposition nach unten sowie nach innen die Aktivierung des Hirnstammes und verbessert folglich die Flexion [1, 2, 3] (siehe Abb. 2 a – d). Das Gehirn kontrolliert jede Bewegung und wägt dabei ab, ob diese auch sicher ist. Durch die Aktivierung von Schutzmustern, wie beispielsweise Schmerz, wird die Leistungsfähigkeit beschränkt. Die Aufarbeitung des sensorischen Inputs und seiner Interpretation muss stattfinden. Einen besonderen Stellenwert nehmen dabei der Thalamus und das Cerebellum (in Rückkopplungsschleifen mit Teilen des Hirnstammes) ein. Dank seiner funktionell-anatomischen Unterteilung in Vestibulocerebellum, Spinocerebellum und Pontocerebellum moduliert es in seiner Funktion die Feinabstimmung von Bewegungsentwürfen. Darunter fallen 1. die stützmotorischen Anteile von Haltung und Bewegung – vor allem des Rumpfes – einschließlich des Muskeltonus (Spino- und Vestibulocerebellums), 2. die im Telencephalon entworfene Zielmotorik einschließlich Sprachmotorik (Pontocerebellum) und 3. die Blickmotorik im Sinne einer Stabilisierung auf ein Blickziel (Vestibulocerebellum). Im Thalamus wird anschließend entschieden, ob die bisherige Planung der fein abgestimmten motorischen Bewegungen zugelassen, in bestimmter Form zugelassen oder gar nicht zugelassen wird. Diese Schlussfolgerung wird letztendlich an den Gyrus precentralis (Motorkortex) vermittelt und zieht von dort über pyramidale Bahnen sowie extrapyramidale Bahnen durch die Hirnnervenkerne in der Formatio reticularis des Hirnstammes in das Rückenmark. Dort erfolgt die efferente Überleitung in die Peripherie und führt somit zu motorischer Bewegung [2, 3].
Das vestibuläre System (VIII. Hirnnerv – N. vestibulocochlearis), welches vor allem für die Orientierung im Raum und die Aufrichtung des Körpers gegen die Schwerkraft zuständig ist, steht in großer Wechselwirkung zum visuellen und propriozeptiven System. Aus neurozentrierter Sicht ist es damit ein höchsteffizientes Werkzeug, beispielsweise durch Schmerzreduktion in den Hüftflexoren während einer tiefen Kniebeuge. Durch ein langsames Herablassen in die Kniebeuge bis zum Schmerzpunkt bei gleichzeitiger Fokussierung auf ein tief gehaltenes Objekt (Visionstick) und schnelles herausschieben in den Parallelstand zurück, wird durch Aktivierung der entsprechenden Hirnareale in Mesencephalon, Pons, Cerebellum und Thalamus der sensorische Input qualitativ so aufgearbeitet, dass dank einer besseren Vorhersehbarkeit über mehrere Wiederholungen die Schmerzen reduziert und die volle Bewegungsreichweite ausgenutzt werden kann (Abb. 3 a + b).
Beispielhafte Integration in eine Therapieeinheit
Als gängige Belastungsprinzipien eines neurozentrierten Trainings sind ca. 30 min täglich empfehlenswert. Diese können ohne Probleme in kleinere zeitliche Elemente aufgebrochen und im Verlauf der Therapie integriert werden. So könnte eine beispielhafte Umsetzung zur Integration in eine Therapieeinheit oder eine gesonderte Trainingseinheit im Therapieverlauf folgendermaßen Ablaufen [4]:
Aktivierung bewegungssteuernder Systeme vor bzw. im Warm Up
- Gezielte Gelenksmobilisation
- Visuelles, vestibuläres Training (bilateral oder unilateral bei bekannter Schwäche)
Zwischen Satz- oder Serienpausen
- 1 – 2 High Pay off Übungen für betreffende Gelenke
▶ Sensorische Aktivierung, visuelles System, etc.
- Sollten nicht zu viel Aufmerksamkeit abverlangen und schnell/einfach durchführbar sein
Cool Down
- Gelenks- und Nervenmobilisation der belasteten Gelenke, zusätzlich können folgende Übungen inkludiert werden
▶ Mobilisation von Wirbelsäule (HWS, BWS)/Füßen
▶ Augenentspannung (Palming oder Augenmassage)
▶ Atementspannungstechniken
Literatur
[1] Schünke, M., Schulte, E., Schumacher, U. 2009. Prometheus Lernatlas der Anatomie-Kopf, Hals und Neuroanatomie. Thieme Verlag.Stuttgart
[2] Sitzer, M., Steinmetz, H.2011. Lehrbuch Neurologie. Urban und Fischer. München
[3] Trepel, M. 2012. Neuroanatomie-Struktur und Funktion. Urban und Fischer. München
[4] Schmid-Fetzer, U., Lienhard, L. 2018. Neuroathletik-Grundlagen und Praxis des neurozentrierten Trainings. Pflaum Verlag. München
Autoren
ist Inhaber und Geschäftsführer des interdisziplinären Gesundheitszentrums R2comSport in Neu Isenburg. Der Heilpraktiker und Physiotherapeut bac. Nl. betreute als leitender Physiotherapeut sieben Jahre lang die Eintracht Frankfurt Fußball AG. Zuvor behandelte er sowohl den FSV Frankfurt als auch die Kickers Offenbach in den jeweiligen Vereinen. Außerdem ist Björn Reindl Chiropractor (M.o.C. Swe.), Osteopath und Dozent im Bereich der DOSB-Sportphysio-Therapie.
arbeitet als Sportwissenschaftler (M.A. Sportwissenschaft) bei R2comSport in Neu-Isenburg. Seine Schwerpunkte liegen in den Bereichen medizinisches Aufbau- und Athletiktraining, Functional Range Conditioning und neurozentriertes Training. Er betreut hauptverantwortlich alle Leistungssportler verschiedener Sportarten auf (inter)nationaler Ebene und ist vor allem auf die untere Extremität spezialisiert.