Wenn man unter das aktive Berufsleben einen Strich zieht, dann wird man zwangsläufig von der Frage geplagt „gibt es da irgendetwas, das aufzuschreiben lohnenswert wäre“. Ich bin einige Jahre mit dieser Frage herumgelaufen, ohne sie zu meiner Zufriedenheit beantworten zu können.
Das hatte zunächst zur Folge, dass ein paar Texte entstanden, die ich überhaupt nicht schreiben wollte. Dann erfüllte ich mir einen schon lange gehegten Wunsch: Ich wollte die Akademie noch einmal besuchen, an der ich mich habilitiert hatte. Es ist die Hochschule, an der der Nobelpreisträger I. P. Pawlow lehrte und seine berühmten Versuche zur „höheren Nerventätigkeit“ durchführte, deren Ergebnisse auch heute noch nicht ihre Bedeutung als Grundlagen weiterführender Forschungen beziehungsweise verhaltenstherapeutischer Interventionen eingebüßt haben.
Auf dem Rückflug skizzierte ich das Konzept für das Buch „Die Kraft der Selbstheilung“, wobei der Titel letztendlich so von Dr. Bollmann (Lektor am Verlag C.H. Beck) formuliert wurde. Ich beschäftigte mich wieder mal mit den Signalsystemen, ließ die Klassische und die Operante Konditionierung Revue passieren und erinnerte mich daran, dass ich immer wieder feststellen musste, dass Patienten beim Eintritt in die Klinik ihr ganz persönliches Therapieziel, das sie während des Klinikaufenthaltes erreichen wollten, nicht formulieren konnten, geschweige denn, sich darüber überhaupt Gedanken gemacht hatten.
Hinzu kam noch ein anderer Umstand: Ich hatte beruflich über viele Jahre mit „Klienten“ zu tun, deren Berufsausübung mit extremen Belastungssituationen verbunden war. Sie nutzten alle nur denkbaren Möglichkeiten der Unterstützung ihrer Gesundheit und suchten auch schon von sich aus nach gesundheitsförderlichen Zusammenhängen zwischen Psyche und Körper. Dem Rechnung tragend hatten wir in der mit der Sorgfaltspflicht für diese Menschen beauftragten medizinischen Einrichtung eine leistungsfähige psychophysiologische Forschung etabliert, die die theoretischen Grundlagen und praktischen Anwendungsformen hierfür schuf.
Ich war also auf unterschiedlichste Weise mit dem Problem der Aktivierung des gesundheitsförderlichen Potenzials konfrontiert, die zum großen Teil in die Frage mündete: Warum verzichten so viele (erkrankte) Menschen auf die dem Körper innewohnenden Kräfte? Die Annahme: Sie wissen nicht um diese Kräfte oder kennen nicht den Zugang zu ihnen.
Lassen Sie uns ein wenig zur Selbstheilung „philosophieren“. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass die Medizin der Philosophie sehr nahe sei. Vielleicht stimmt das sogar. Wenn ja, dann sollte man diese Nähe auch nutzen. Ich erwarte keinesfalls, dass man meinen „Selbstheilungsgedanken“ widerspruchslos folgen sollte. Ganz im Gegenteil: Wenn sie zur Debatte über dieses biologische Prinzip ein wenig anregen würden, dann wäre ich sehr zufrieden.
Ich behaupte: Die Selbstheilung ist ein evolutionäres Prinzip, das heißt, ohne sie keine biologische (menschliche) Existenz. Sie ist ein Selbsterhaltungsprinzip. Das ist das eine. Die Frage, die sich daraus aber ableitet, lautet: Was machen wir daraus? Dazu ein Beispiel. Stellen Sie die eleganten Bewegungsabläufe in ihrer Vielfalt und Leichtigkeit, zu denen eine ausgebildete Tänzerin fähig ist, oder das muskuläre Vermögen und die Bewegungsabläufe eines Sportlers den muskulären Fähigkeiten eines nur „Geradeaus-Gehers“ gegenüber. Die Evolution hat beiden prinzipiell die gleichen Voraussetzungen mit auf den Weg gegeben, aber die abrufbaren Fähigkeiten unterscheiden sich doch gewaltig. Ich will damit sagen, obwohl das Prinzip der Selbstheilung unveräußerlich allgemeingültig ist, muss es doch stimuliert werden. Und das wiederum stellt sich uns gleichermaßen als evolutionäres Prinzip dar. Ich wiederhole Oftgesagtes: Neuronen, die nicht zur Tätigkeit gezwungen werden, stellen die Arbeit ein. Erik Scherder hat das schön beschrieben (Lass dein Hirn nicht sitzen – C.H. Beck). Um das Zusammenführen dieser beiden Prinzipien geht es, wenn die Selbstheilung über das, was sie im Stillen unentwegt tut, ohne dabei groß zu tönen, hinausgehend und von Nutzen sein soll.
Damit ist es schon angedeutet: Ärztliches, oder besser therapeutisches Handeln und Selbstheilung sind die berühmten beiden Seiten der Medaille. Übrigens im wahrsten Sinne des Wortes, eine uralte Weisheit. Der erzkonservative Theologe Thomas von Aquin, auch als Philosoph berühmt, hat das schon im 13. Jahrhundert auf den Punkt gebracht: Medicus in sanatione est minister naturae,… (Der Arzt ist bei der Heilung nur der Diener der Natur,…) (H. Kudla: Lex.d.lat. Zitate; C.H. Beck). Entkleiden wir den Satz der damals mit Sicherheit, so möchte ich annehmen, beigefügten klerikalen Färbung und nehmen wir ihn so, wie er dasteht. Er kann uns viel sagen. Wir können getrost und mit Stolz auf darauf verweisen, auf welche solide Basis die Medizin in unserer Zeit gestellt wurde, und wie deshalb mit ihrer Hilfe das Selbstheilungsprinzip zur vollen Geltung gelangen kann: Ohne erfolgreiche Medizin nur eingeschränkte Selbstheilung, so möchte man ohne Zögern schlussfolgern.
Ich will hier beileibe nicht Inhalte des Buches „Die Kraft der Selbstheilung“ wiedergeben, ich möchte nur auf bestimmte Zusammenhänge verweisen oder sie in aller Kürze kommentieren. Wenn man sich mit jemandem über die Selbstheilung unterhält, dann stellt man sehr schnell fest, dass sie unter sehr eingeschränktem Blickwinkel gesehen wird. Und damit begeben wir uns in eine Sackgasse, die im Irrtum oder im Misserfolg endet. Spätestens seit den Arbeiten von U. Ehlert und R. von Kähnel (Psychoendokrinologie und Psychoimmunologie; Springer-Verlag GmbH) wissen wir um die Komplexität und eine Reihe von Zugangsmöglichkeiten psychologischer Verfahren zu nervalen und hormonellen Regelkreisen. Selbst auf Elemente / Funktionen des Immunsystems können wir auf diesem Wege gesundheitsfördernd einwirken.
Natürlich ist es bequem, passive Therapien in Anspruch zu nehmen, man verzichtet dabei aber häufig auf den persönlichen Anteil an der Aktivierung der Selbstheilungskraft des Körpers, und registriert kaum, dass man zum Objekt der Behandlung wird, nicht zuletzt, weil die Selbsterkenntnis in dieses schlummernde Vermögen nicht „angesprochen“ wird. Aber gerade in diese Kraft kann ärztlicherseits viel investiert werden.
Die Erfahrung zeigt, dass der Zugang zu diesen Einflussmöglichkeiten eine höchst individuelle Angelegenheit ist: Persönliche Voraussetzungen – Erkenntnis – Methodik – Verinnerlichung – Aktivität – so könnte die Reihenfolge aussehen, nach der vorzugehen wäre. Es scheint mir wichtig zu sein, dass man nicht nur den Zugang auf verbalem Weg sucht. Wenn das geschieht, dann werden apriori viele Stimulantien ausgeschlossen. Halten wir uns nur den Einfluss positiver oder gar negativer Emotionen oder des Schlafes auf hormonelle Regelkreise vor Augen. Denken wir an die vielfältigen positiven Reize aus der Natur, die täglich zur Verfügung stehen, von uns aber großenteils missachtet oder übergangen werden.
In diesem Zusammenhang ist es durchaus ratsam, unsere „Sinnes- und Gefühlswelt“ nicht außer Acht zu lassen, gewissermaßen sie zu schulen: Umgang mit negativen Emotionen und Nutzung der positiven, um zu einem homöostatischen Zustand beizutragen. Wir haben uns daran gewöhnt, unsere Umwelt mit den fünf Sinnen, die jedes Kind kennt, wahrzunehmen. Das ist normal. Doch ein „Aber“ ist damit verbunden. Mit dieser Definition schränken wir gedanklich das uns gegebene reiche Sinnesempfinden ungewollt erheblich ein. Wir vernachlässigen dadurch gewissermaßen viele Signale, die aus dem Inneren des Körpers kommen und uns jederzeit zur Verfügung stehen. Aber genau die können, wenn es um die Selbstheilung geht, wichtig sein. Ich habe deshalb den fünf einfach mal kurzerhand sechs (von Schmerz- bis Bewegungssinn) hinzugefügt, die ich nicht erfunden, sondern in dem grundlegenden Werk von N. Birbaumer / R. F. Schmidt: Biologische Psychologie, Springer-Verlag beschrieben gefunden habe. Die aktivierende Begleitung der Selbstheilung ist ein äußerst komplexes Geschehen, im Einzelfall häufig das Finden und Nutzen des erfolgversprechenden Zugangs zu diesem Prinzip.
Fassen wir zusammen
Die Selbstheilung ist ein Ergebnis der Evolution. Es ist ein für die Lebenserhaltung unverzichtbares Prinzip. Sie stellt weder ärztliches / medizinisches Handeln infrage, noch bedeutet es ihnen gegenüber gar einen nihilistischen Gedankenansatz. Die Potenzen der Selbstheilung wachsen mit jedem medizinischen Fortschritt. Sie ist integraler Bestandteil des Genesungsprozesses. Sie ist zum großen Teil selbständig wirksam, kann und sollte aber aktiv gefördert werden. Mit dem Buch wollte ich verdeutlichen, welches immense Potenzial die Selbstheilung besitzt und welcher Platz ihr meiner Auffassung nach in Genesungsprozessen zukommt.
Zum Schluss sei mir noch der Hinweis auf das Buch von Professor Tobias Esch – Der Selbstheilungscode, Beltz Verlag gestattet.
Lesen Sie mehr von dem Autor im Experten-Gespräch zwischen Dr. Robert Percy Marshall mit Prof. Dr. Winfried Papenfuß zum Thema Kältetherapie – „Die Kraft aus der Kälte“
Buchempfehlungen
Die Kraft der Selbstheilung
Wie wir Heilungsprozesse anstoßen und unterstützen können
Autor: Winfried Papenfuß
Verlag: C.H.Beck
Erschienen am: 19.09.2011
ISBN: 978-3406621949
Auflage: 1. Edition
Autoren
war bis zu seiner Pensionierung Chefarzt einer verhaltenstherapeutisch orientierten Reha-Klinik für Psychosomatische Medizin, u.a. mit den Schwerpunkten Therapie chronischer Schmerzen, Umgang mit lebensbedrohenden Erkrankungen sowie Übergewicht. Er verfügt über eine langjährige Erfahrung in der Anwendung der Ganzkörperkältetherapie.