Deutschland leistet sich eines der teuersten Gesundheitssysteme weltweit – und trotzdem fällt die Lebenserwartung hierzulande auffällig niedrig aus. Und zwar gleich um mehrere Jahre, vor allem aufgrund höherer Todesfälle bei den Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Dabei arbeiten in Deutschland überdurchschnittlich viele Ärztinnen und Ärzte, es gibt mehr Krankenhaus- und Intensivbetten als in fast allen anderen verglichenen Ländern.
Die Anzahl der Arztkontakte pro Person ist extrem hoch. Kleines, aber wichtiges Detail: Bei der hohen Zahl der Arztkontakte in Deutschland ist die Zeit, die pro Patienten zur Verfügung steht, um gesundheitsförderndes Verhalten zu besprechen, viel kürzer als in anderen Ländern. Es mangelt in Deutschland also nicht an Ärzten oder Krankenhäusern. Es mangelt aber an einer gut ausgebauten Prävention und an Gesundheitskompetenz der Deutschen. Gerade bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind präventive Maßnahmen, insbesondere Lebensstiländerungen, erfolgreicher als jede Pille. Nun ist der Ruf nach mehr Prävention nichts Neues. Sogar ein eigenes Gesetz für mehr Prävention wurde vor einigen Jahren auf den Weg gebracht. Geändert hat sich trotzdem wenig. Gestärkt wurde die Prävention, wenn auch ungewollt, vor allem da, wo wir sie am wenigsten brauchen: bei den Menschen, die sowieso schon gesundheitsbewusst leben. Etwas zugespitzt bedeutet das: Wer sowieso auf seine mentale und körperliche Gesundheit achtet, sich gesund ernährt und sich ausreichend bewegt, kann auch noch auf Krankenkassenkarte Yoga- und Entspannungskurse belegen. Das ist schön und gut. Aber da, wo die Menschen in benachteiligten Stadtteilen oder Landstrichen die größten Gesundheitsrisiken haben, bringt es wenig bis gar nichts. Denn es ist einfach so: Armut macht krank. Das Problem ist, dass sich diese Risikogruppen viel schlechter erreichen lassen.
Einen Ort aber gibt es, an dem alle sozialen Schichten zusammentreffen: die Hausarztpraxis. Hausärztinnen und Hausärzte sind Spezialisten für den ganzen Menschen. Sie arbeiten nach einem biospsychosozialen Modell. Das heißt, dass sie den sozialen Kontext des Patienten genauso berücksichtigen wie seine Blutwerte und seine sonstige körperliche Verfassung. Auch die Prävention gehört dazu. Um aber die Prävention in der Hausarztmedizin ausbauen zu können, braucht es einen entscheidenden Hebel: Die sprechende, besser noch, die zuhörende Medizin, muss endlich einen anderen Stellenwert bekommen, sodass den hausärztlichen Kolleginnen und Kollegen endlich mehr Zeit für die Gesundheitsberatung zur Verfügung steht – und auch für Fragen, wie es gelingen kann, z. B. mehr Bewegung im Alltag umzusetzen. Gerade Bewegung kann zu einem echten Gamechanger in der Prävention werden. Die positiven Effekte von Sport und Bewegung auf die Verhinderung von chronischen Erkrankungen sind wissenschaftlich gut belegt. Es müssen gar keine Spitzenleistungen sein: Jede regelmäßige moderate Bewegungseinheit über zehn Minuten zählt. Je mehr, desto besser.
Der Weg dahin muss nicht kompliziert sein. Es braucht Turnschuhe, etwas freie Fläche – und vor allem Zeit, die wir im Alltag aufbringen müssen. Dafür braucht es Tools und Modelle, auch Apps, die wirklich motivieren können. Ein Beispiel ist das „Rezept für Bewegung“, das von Hausärztinnen und Hausärzten ausgestellt werden kann. Bewegung wird durch das Rezept (das auch so aussieht wie ein „echtes Rezept“) explizit einem Arzneimittel gleichgesetzt – das motiviert und hilft, Bewegung ernster zu nehmen. In vielen Ländern wird diese gemeinsame Initiative der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention, des Olympischen Sportbundes sowie der Bundesärztekammer bereits umgesetzt. Auch die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin unterstützt das „Rezept für Bewegung“.
Echte Prävention ist aber noch viel mehr – sie ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe. Es wäre fatal, die Verantwortung alleine bei den Betroffenen abzuladen oder in die Arztpraxis zu delegieren. Prävention ist eben kein Hobby und auch kein Privatvergnügen, sondern eine gesellschaftlich hoch relevante Aufgabe, die uns alle angeht. Dazu braucht es Rahmenbedingungen, die von der Politik gesetzt werden müssen. Seit Jahren wird darüber diskutiert, wie die Prävention in den so genannten Lebenswelten gestärkt werden kann. Aber weder bei der Forschung noch in der Praxis der öffentlichen Gesundheitsfürsorge (Public Health) geht es wirklich voran. Erste und längst überfällige Schritte wären nun endlich: Einführung Zuckersteuer, Werbeverbot für Tabakprodukte, Raucherentwöhnung als Kassenleistung, Subventionierung von gesunder Ernährung in Kindergarten und Schule und mehr Sportangebote für jede Altersstufe. Das alles klingt erstmal nicht so spektakulär. Trotzdem geht es, wenn überhaupt, nur sehr zäh voran. Aber wir brauchen diese Art von Interventionen. Anders wird es in Deutschland nicht gelingen, in der Lebenserwartung zumindest den internationalen Durchschnitt zu erreichen – und was viel wichtiger ist: die Lebensqualität spürbar zur steigern.
Autoren
ist Facharzt für Allgemeinmedizin. Er ist Direktor des Instituts und Poliklinik für Allgemeinmedizin und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM).