Während die Elektromyographie (EMG) traditionell aus wissenschaftlichen Studien oder technisch aufwändigen Tests in Bewegungslaboren bekannt ist, wird die Technologie zunehmend für schnelle Analysen und als Trainingswerkzeug im Profisport eingesetzt. Die neue Ära der EMG-Analyse beruht auf drahtlosen Bluetooth-Sensoren in Kombination mit benutzerfreundlichen Softwarelösungen für Tablets.
Da die Anwendung von EMG in ihren Einsatzbereichen stark variiert, wurde eine allgemeine Unterscheidung in Tabelle 1 skizziert. Das hier beschriebene Beispiel betrifft die Anwendungsfälle A und B. Ein EMG-Mapping vergleicht drei Aktivitätszustände: Den „Ruhetonus“, die „willkürliche Aktivierung“ und die „unwillkürliche Aktivierung“.
Der „Ruhetonus“ wird im Stehen gemessen und sollte eine maximale Aktivität von 20 µV nicht überschreiten (Ausnahmen: Beckenboden / M. Transversus abdominis und M. soleus). Wenn Abnormalitäten im Sinne einer Hyperaktivität festgestellt werden, sollten detonisierende Maßnahmen in Betracht gezogen werden. Auch eine intensive Aktivierung der betroffenen Muskelgruppen kann helfen den gemessenen Tonus zu reduzieren. Die „willkürliche Aktivierung“ oder die Fähigkeit, einen Muskel bewusst zu aktivieren, verbessert die Kontrolle eines Athleten über sein Kraftpotential und kann bereits nach wenigen Trainingseinheiten signifikant verbessert werden. Die „unwillkürliche Aktivierung“ visualisiert die Muskelökonomie während der Bewegung. Hohe Aktivitätswerte, die bei dieser Bewegungsaufgabe erreicht werden, sind nicht pauschal als „gut“ zu bewerten. Sie können auch auf eine Schwäche hinweisen, die durch eine hohe Anstrengung /Aktivierung kompensiert wird. Die unwillkürliche Aktivität sollte daher immer im Verhältnis zum Ruhetonus und zur willkürlichen Aktivierung interpretiert werden. Zusätzlich hilft die Berechnung eines Balance Scores inter- & intramuskuläre Differenzen zu detektieren.
Auffällige Ergebnisse des Mappings sollten zu einem anschließenden Biofeedback-Training führen, um sowohl die willkürliche als auch die unwillkürliche Aktivierung zu verbessern. Dabei ist zu beachten, dass die muskelspezifische Aktivität nur verbessert werden kann, wenn zusätzliche Parameter wie der volle Bewegungsumfang (ROM) und der angepasste Widerstand gemäß dem individuellen Kraftziel berücksichtigt werden. Dynamische Trainingsübungen sind ebenso wichtig, um eine gezielte und schnelle Muskelaktivierungsfähigkeit in sportartspezifischen Bewegungen zu gewährleisten.
Die Bedeutung des M. gluteus medius (GM)
Der GM ist entscheidend für die Stabilisierung des Beckens, die Hüftaußenrotation und die Unterstützung des unteren Rückens, was zu einer verbesserten Haltung (Kontrolle des Beckens und Stabilität der Hüfte) und Effizienz in der Bewegungsausführung führt. Seine ordnungsgemäße Funktion kann Verletzungen, bspw. in Situationen einseitiger Belastung vorbeugen. Die Analyse von EMG-Untersuchungen an 48 männlichen Fußballspielern aus Deutschlands drei Top-Ligen ergab Unterschiede in der willkürlichen Aktivierung des GM (Durchschnitt: 430 µV [± 215 µV], Bereich: 140 – 1133 µV). Ähnliche Muster wurden in der unwillkürlichen Aktivierung beobachtet (Durchschnitt: 449 µV [±168 µV], Bereich: 219 – 1116 µV), wobei die höchsten Durchschnittswerte bei Spielern in der ersten Bundesliga festgestellt wurden. Diese Daten dienen als Orientierungshilfe und beanspruchen keine strenge wissenschaftliche Gültigkeit.
Beispiel: Belastungsabhängige Hüftschmerzen
Die folgende Fallstudie veranschaulicht das Zusammenspiel von Screenings und Biofeedback-Trainingseinheiten des GM anhand eines Spielers mit belastungsabhängigen Hüftschmerzen. Beim Fußball ist insbesondere im Standbein die sagittale Stabilität entscheidend, um eine optimale Leistung und Bewegungsökonomie zu gewährleisten. Die Bewertung der neuromuskulären Funktion des GM dient in diesem Zusammenhang als wichtiger Parameter.
Initiales Mapping des M. gluteus medius (Abb. 2 a)
Das standardisierte Mapping des GM besteht insgesamt aus sechs Übungen und beginnt immer mit der Ruhepositionsmessung, die in diesem Fall Ergebnisse unterhalb der Richtlinie von 20 µV zeigte. Die zweite Übung besteht darin, beide Gesäßmuskeln gleichzeitig anzuspannen (willkürliche Aktivierung).
Hier erreicht der Spieler einen Balance Score von 74 % und lag damit leicht unter dem Symmetrieziel von 80 %. Ein signifikanter Unterschied zeigte sich in den einseitig isolierten Aktivierungsübungen drei und vier. Der linke GM kann „isoliert“ angesprochen werden und erreichte bei einem Balance Score von 89 % eine Aktivität von 119 µV. Der rechte GM erreichte einen Balance Score von 55 %, bei kompensatorischer gleichzeitiger Aktivierung des linken GM 62 µV). Die letzte Übung „Einbeinstand links und rechts“ zielt auf die unwillkürliche, stabilisierende Aktivierung ab und war mit Werten von 400 µV unauffällig.
Biofeedback-Training
Im Biofeedback-Trainingsmodus sieht der Spieler die Muskelaktivitätswerte der EMG-Sensoren vor sich auf einem Tablet-Bildschirm und visuelle Ziele in der EMG-Skala können individuell festgelegt werden (externer Fokus). Diese Einstellung hilft dem Athleten, ein grundlegendes Gefühl dafür zu entwickeln, seinen GM anzusteuern, und bildet die Grundlage zur Verbesserung der willkürlichen und „isolierten“ willkürlichen Aktivierung. Die visuelle Rückmeldung in Echtzeit verbessert das Körperbewusstsein und die Motivation des Athleten sowie die Compliance, was alles wichtige Voraussetzungen für die kommenden Übungen sind. Um das Gelernte auf unwillkürliche Bewegungen zu übertragen, wurden Einbeinstand-Übungen mit Hüftaußenrotation des angehobenen Spielbeins durchgeführt. Es ist entscheidend, sicherzustellen, dass der Athlet einen stabilen, kontrollierten und sicheren Einbeinstand hat. Wenn die EMG-Aktivität während der Übung abnimmt oder stagniert, deutet dies auf eine Kompensation durch andere Muskeln hin. Die willkürliche (isolierte) Aktivierung und einbeiniges Stehen mit Hüftaußenrotation sind einfache Übungen für zu Hause oder zum Aufwärmen, um die bewusste willkürliche Aktivierung des GM zu verbessern. Verbesserungen sollten bereits nach der ersten Trainingseinheit spürbar sein, spätestens jedoch nach einigen Tagen aktiver Übung.
Targeting Tricks
Athleten können bei ihrem Verständnis für die willkürliche Aktivierung des GM mit zwei einfachen Tricks unterstützt werden. Trainer können den Muskel lokalisieren und den Athleten anleiten mit ihrem Daumen darauf zu drücken, während der Athlet versucht, den Daumen aktiv wegzudrücken. Zusätzlich kann es dabei von Vorteil sein, die Muskelkontraktion erst einmal durch eine Hüftaußenrotation des angehobenen Spielbeins während des einbeinigen Stehens einzuleiten. Der GM wird bei einer Hüftaußenrotation des angehobenen Spielbeins von etwa 30° spürbar.
Kontinuierlicher Einsatz im Athletiktraining
Der Athletiktrainer fügte nach dem EMG-Screening des Athleten Übungen für den GM im individuellen Trainingsplan hinzu. Die EMG-Messung während der Kraftübungen gewährleistete eine korrekte Ausführung und verbesserte die Effizienz der durchgeführten Übungen. Zum Beispiel kann eine vollständige Beckenstreckung während eines Seitstützes die Aktivierung um bis zu 200 µV erhöhen, was die Bedeutung kleiner Ausführungsanpassungen verdeutlicht. Eine EMG-Messung hilft auch dabei, Kompensationsmuster zu identifizieren, indem z. B. zusätzlich während der Übung die Aktivität von Muskeln wie dem M. tensor fasciae latae und dem M. biceps femoris überwacht wird, was es Trainern / Therapeuten ermöglicht, entsprechende Korrekturen vorzunehmen.
Ergebnisse der ersten Phase (Abb. 2 b)
Nach drei Wochen Trainings-Intervention blieb der Ruhetonus unauffällig und die willkürliche Aktivierung (Squeeze Your Glutes) wurde beidseits erheblich von 100 µV auf über 600 µV verbessert. Da ein Krafttraining in der Wettkampfphase nur begrenzt durchgeführt werden kann, wird diese Zunahme weniger auf Kraftzuwächse zurückgeführt, sondern vielmehr durch eine deutlich verbesserte willkürliche Aktivierung erklärt. Dies zeigt sich auch in der isolierten willkürlichen Aktivierung (Squeeze Your Left /Right Glute) mit höheren µV-Werten und besseren Balance Scores. Auch die unwillkürlichen Übungen (Einbeinstand) verzeichneten höhere Werte, mit einer Asymmetrie von 69 % im Balance Score, die in der nächsten Trainingsphase adressiert wurde.
Re-Test in Mid-Season Screening (Abb. 2 c)
Nach einer Phase ohne intensive EMG-Überwachung und Mapping wurde der hier vorgestellte Athlet während des Mid-Season Screenings des Teams erneut untersucht. Die willkürliche Aktivierung blieb gut, zeigte jedoch ein linksdominantes Ungleichgewicht und eine leicht erhöhte Aktivität des passiven Muskels auf jeder Seite. Diese Muster könnten auf das Fehlen gezielter Trainings zur bewussten willkürlichen Aktivierung zurückzuführen sein. Bemerkenswert war ein signifikanter Rückgang der unwillkürlichen Aktivierung des GM während des Einbeinstandes auf der rechten Seite, der auf den Wert des initialen Mappings zurückfiel (Abb. 2 A). Dies verdeutlicht, wie schnell sich die Muskelaktivierung verändern kann. Sie kann ohne regelmäßiges Training verlernt werden, aber entsprechend auch durch gezieltes Biofeedback-Training wieder rasch verbessert werden. Abbildung 3 zeigt diese Entwicklung über die drei verschiedenen Messungen für die Übung „Squeeze Your Right Glute“. Sie zeigt den Anstieg nach drei Wochen Intervention und einen leichten Rückgang nach sechs Monaten.
Fazit
EMG-Untersuchungen bieten Einblicke in die Muskelaktivität und unterstützen die individuelle Diagnostik. Biofeedback-Training verbessert die Fähigkeit zur Muskelaktivierung und kann den Athleten bei der effizienten Ausführung von Übungen unterstützen.
Angesichts der Vielzahl von Diagnostikverfahren, mit denen Athleten konfrontiert werden, kann es eine Herausforderung darstellen, ihr Engagement und ihre Motivation zu gewinnen. Biofeedback-Training, das ein direktes visuelles Feedback bietet und positive Veränderungen zeigt, kann dabei eine unterstützende Wirkung haben.
Die erfolgreiche Integration von EMG in den sportlichen Alltag erfordert benutzerfreundliche, intuitive, vorzugsweise drahtlose Systeme für einen flexiblen und effektiven Einsatz. Die Möglichkeit, Daten schnell zu erheben und aussagekräftig zu interpretieren, ist im Profisport entscheidend.
Autoren
Daten- und Leistungsanalyse im medizinischen Bereich bei
Eintracht Frankfurt.
Data Analyst and Performance Analysis Medical Department at Eintracht Frankfurt.
hat Medientechnologien an der Hochschule Rhein-Main studiert, bevor er sich entschlossen hat, Physiotherapeut zu werden. Nach seinem Examen hat er sich direkt neben der Manuellen Therapie auf die Anwendung des EMG im klinischen Kontext spezialisiert. Seit über sechs Jahren implementiert er es in den Praxisalltag mit über 10.000 Messungen Erfahrung. Mit der Gründung von MYOact hat er sich u. a. auf den Leistungssport fokussiert und arbeitet mit Mannschaften aus der ersten Bundesliga und der Premier League zusammen, widmet sich aber auch der Analyse von Breitensportlern und dem „Alltagspatienten“. Außerdem ist er wiss. Beirat der sportärztezeitung.
Leitung Rehabilitation Mainz 05 Jugend Akademie.