Rückenschmerzen verursachen mehr verlorene gesunde Lebensjahre als jede andere Erkrankung und können die Lebensqualität der Betroffenen deutlich mindern [1]. Körperliches Training bei chronischen Rückenschmerzen gilt als Erstlinientherapie [2]. Aber warum körperliches Training wirkt und wie stark die gesundheitlichen und ökonomischen Langzeiteffekte körperlichen Trainings auch vom Schweregrad der Rückenschmerzen abhängen, ist weitgehend unklar. Innerhalb einer Multicenterstudie des Rückenkonzeptes der AOK-Baden-Württemberg wurde beiden Fragen nachgegangen.
Knapp zwei Drittel der deutschen Bevölkerung sind innerhalb eines Jahres von Rückenschmerzen betroffen, rund ein Sechstel berichtet im gleichen Zeitraum chronische Rückenschmerzen [3]. Während die Mehrheit der Betroffenen innerhalb von ein bis zwei Monaten symptomfrei ist, entwickeln 8 – 10 % der Individuen chronische Schmerzen. Die Chronifizierung der Symptomatik bedingt hohe direkte und indirekte Kosten, so gehören Rückenschmerzen zu den häufigsten Ursachen für die Inanspruchnahme des Gesundheitssystems, Arbeitsunfähigkeit und Frühberentung [4, 5]. Daten der AOK zeigen, dass im Jahr 2020 unter den erwerbstätigen Versicherten die Diagnose Rückenschmerzen (ICD-10: M54) mit 6,1 % den größten Anteil der Arbeitsunfähigkeitstage ausmachte, was insbesondere in Betracht der Covid-19 Pandemie bemerkenswert ist [6]. Trotz der großen sozioökonomischen Auswirkungen gibt es bislang nur unzureichende Evidenz zu Kostenwirksamkeit und Wirksamkeitsmechanismen von Bewegungsinterventionen [7 – 9].
Gerätegestütztes Trainingsprogramm für Menschen mit Rückenbeschwerden
Seit 2005 bietet die AOK Baden-Württemberg ihren Versicherten ein umfangreiches Rückentrainingskonzept an, das jährlich von etwa 30.000 Versicherten mit Rückenbeschwerden in Anspruch genommen wird. Das AOK-Rückenkonzept (ARK) wurde auf Basis bisheriger Forschungskenntnisse für die Prävention und Behandlung von Rückenschmerzen konzipiert und setzt sich aus einem gerätegestützten dynamischen Krafttraining der Rumpfstabilisatoren und der Nackenmuskulatur, funktionellen gymnastischen Übungen und Übungen der Alltagsmotorik zusammen. Das Programm umfasst 36 einstündige Trainingseinheiten, verteilt über 24 Wochen. In den ersten 12 Wochen (Grundtrainingsphase) finden zwei Sitzungen pro Woche mit einem Übungssatz je Gerät statt. In den folgenden 12 Wochen (Erhaltungstrainingsphase) absolvieren die Teilnehmenden eine Sitzung pro Woche mit zwei Sätzen je Gerät. Am Ende des Programms erhalten die Teilnehmenden ein Trainingsprogramm für zu Hause.
Methodik
Im Rahmen der Evaluation des Programms wurde die gesundheitliche und ökonomische Wirksamkeit des ARK (n= 1829) mit der Regelversorgung (RV) (n=495) verglichen. Die Daten aus 39 Gesundheitszentren der AOK Baden-Württemberg wurden zusammengeführt. Die entstandenen direkten und indirekten Kosten sowie die gesundheitlichen Effekte in Interventions- und Kontrollgruppe wurden jeweils nach 6, 12, 18 und 24 Monaten erhoben. Die Kostendaten wurden zusätzlich auch für die zwei Jahre vor Start der Intervention erhoben. Die Kontrollgruppe wurde aus Abrechnungsdaten der AOK Baden-Württemberg und den Befragungsdaten über Propensity Score Matching generiert. Um die gesundheitlichen Effekte messen zu können, wurde vor Beginn der Intervention (t0) sowie zu den weiteren Messzeitpunkten (t1-t4) der chronische Schmerzstatus mit Hilfe des Graded Chronic Pain Status (GCPS) erfasst [10]. Einschlusskriterium war ein GCPS von mindestens Grad I. Eine detailliertere Beschreibung der Methoden und Ergebnisse wurde bereits anderweitig publiziert [11].
Die Effekte steigen mit dem Schweregrad der Rückenschmerzen
Das ARK war für alle Schweregrade des GCPS gesundheitlich effektiv, wobei insbesondere Teilnehmende mit schmerzbedingten Funktionseinschränkungen (Grad III-IV) profitierten. Die Dimensionen Schmerzintensität und funktionelle Einschränkungen konnten durch das ARK signifikant reduziert werden. Während sich die gesundheitlichen Effekte des Trainingsprogrammes bereits während des ersten Jahres der Intervention einstellten, zeigten sich die ökonomischen Effekte verstärkt erst im zweiten Jahr. Innerhalb der zwei Jahre nach Interventionsbeginn waren die direkten medizinischen Kosten der Interventionsgruppe signifikant niedriger. Diese Kosteneinsparungen resultieren vorwiegend aus der Gruppe der Teilnehmenden mit hohen Funktionseinschränkungen (Grad IV). Die Einsparungen durch das ARK beliefen sich bei GCPS IV auf durchschnittlich 4.543 Euro pro Teilnehmenden innerhalb von zwei Jahren [11]. Sowohl die gesundheitlichen als auch die ökonomischen Effekte des Trainings stiegen mit dem Grad der Rückenbeschwerden (Abb. 2). Die hier vorliegenden Ergebnisse unterstreichen den Zusammenhang zwischen dem Schweregrad der Rückenschmerzen und dem Effekt körperlichen Trainings und werden durch die Ergebnisse von Hochheim et al. bestätig [12].
Was wirkt, wenn es wirkt?
Für die evidenzbasierte Entwicklung nachhaltiger Trainingsprogramme sind insbesondere die zugrundeliegenden Wirkmechanismen von Interesse. In einer weiteren Studie wurde in der oben beschriebenen Stichprobe der Einfluss des Trainingsumfangs und der physischen Leistungssteigerung (u. a. Kraft und Beweglichkeit der Rumpfstabilisatoren) auf die Reduktion der Rückenschmerzen untersucht [13]. Die Reduktion der Rückenbeschwerden konnte dabei überwiegend auf den Trainingsumfang zurückgeführt werden. Dieser Dosis-Wirkungszusammenhang ist gut belegt [14, 15]. Anders als im Review von Steiger et al. [16], zeigte sich aber auch ein kleiner Effekt zwischen den physischen Leistungssteigerungen und dem Rückgang der Rückenschmerzen [13]. Grund ist möglicherweise der deutlich längere Untersuchungszeitraum dieser Studie im Vergleich zu den Untersuchungszeiträumen der in den Review von Steiger et al. einbezogenen Studien [16, 13]. Auch in dieser Untersuchung ließen sich diese Effekte erst beim zweijährigen Betrachtungszeitraum darstellen [13]. Trainingsumfang und physische Leistungssteigerung sind jedoch nicht die einzigen in der Literatur diskutierten Wirkfaktoren. Es liegt nahe, dass die Wirkung des Trainingsumfangs durch weitere unterliegende Faktoren vermittelt wird. Diesbezüglich wird u. a. die Interaktion mit kognitiven und emotionalen Prozessen diskutiert, wie beispielsweise die Reduktion von Vermeidungsverhalten durch die Erfahrung schmerzfreier Bewegung [17, 18]. Um die Wirkmechanismen genauer aufzuschlüsseln, sollten zukünftige Studien die psychisch-kognitive, psychosoziale, biopsychische und physische Wirkung von Rückentraining auf die Schmerzreduktion untersuchen.
Co-Autoren: Ellen Arnold3, Michael Clement1, Klaus Bös2, Thomas Kohlmann4
1 Geschäftsbereich Vorsorge & Prävention / AOK Baden-Württemberg, Stuttgart
2 Institut für Sport und Sportwissenschaft / Karlsruher Institut für Technologie, Karlsruhe
3 Medizinische Fakultät / Universität Heidelberg
4 Institut für Community Medicine / Universität Greifswald
Literatur
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[7] Wun A, Kollias P, Jeong H et al. Why is exercise prescribed for people with chronic low back pain? A review of the mechanisms of benefit proposed by clinical trialists. Musculoskeletal science & practice 2021; 51: 102307
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[9] Owen PJ, Miller CT, Mundell NL et al. Which specific modes of exercise training are most effective for treating low back pain? Network meta-analysis. Br J Sports Med 2020; 54: 1279–1287
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[17] Pfingsten M. Vermeidungsverhalten und Rückenschmerzen – Ansätze für neue therapeutische Wege? Phys Rehab Kur Med 2003; 13: 276–282
Autoren
ist Sport und Gesundheitswissenschaftlerin und promoviert zum Thema der gesundheitlichen Chancengleichheit an der Universität Ulm. Sie beschäftigt sich als Mitarbeiterin der AOK Baden-Württemberg mit Aspekten der Qualitätssicherung in der Gesundheitsförderung sowie wissenschaftlichen Themen rund um Vorsorge und Prävention.
hat am Institut für Sport und Sportwissenschaft (IfSS), Karlsruher Institut für Technologie (KIT) habilitiert. Er forscht zu Fragen der Effektivität und Effizienz von Präventionsmaßnahmen und arbeitet in den Geschäftsbereichen Vorsorge & Prävention und Medizin der AOK Baden-Württemberg an der Weiterentwicklung der Prävention.