Weitere Autoren des Artikels sind Stefanie Kaiser und Prof. Dr. med. Dr. phil. Winfried Banzer
Systeme zur klinischen Klassifizierung und Einstufung von Muskelverletzungen gibt es in der Literatur seit über 100 Jahren, dennoch gibt es momentan kein einheitlich akzeptiertes Klassifikationssystem oder gar eine einheitliche Definition [1]. Zudem finden sich in der Literatur häufig Ergebnisse, die Verletzungen der Muskulatur mit denen der Sehnen zusammengefasst bzw. nur nach Körperteilen differenziert darstellen [2].
Diese Tatsachen erschweren die Vergleichbarkeit von Studien untereinander und erklären die teilweise divergierenden Angaben zur Inzidenz und Schwere der Verletzungen. Des Weiteren bedeuten diese Limitationen eine schwerwiegende Herausforderung bei der Überprüfung der Wirksamkeit präventiver Ansätze. Verglichen mit Prellungen, Gelenk- und Bänderverletzungen, Knochenbrüchen und Hautverletzungen weisen Muskel-/Sehnenverletzungen eine hohe Inzidenz auf [2]. Häufig betroffene Muskeln und Muskelgruppen bei Fußballspielern sind die ischiokrurale Muskulatur, der Quadriceps femoris, die Leistenregion (Adduktoren) und die Wadenmuskulatur [2 – 4]. Die Vorhersage und Prävention von Verletzungen im Sport ist von immenser Bedeutung. Traditionell hat man versucht, mit Hilfe typischer statistischer Verfahren, wie der logistischen Regression, wichtige Prädiktoren für Verletzungen zu identifizieren. Diesem Verfahren liegt eine Linearität voraussetzende reduktionistische Sichtweise zugrunde [5]. Es zeigt sich, dass diese die konsistente Identifizierung von Risikofaktoren häufig verfehlt [5]. Neuere Forschungsansätze betrachten Sportverletzungen nach dem complex systems approach und argumentieren, dass der multifaktorielle, komplexe Charakter von Sportverletzungen sich nicht aus der linearen Interaktion zwischen isolierten und prädiktiven Faktoren, sondern aus der komplexen Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen Einflussfaktoren ergebe [5]. Entsprechend müsse auch die Forschung von isolierten Risikofaktoren zur Erkennung von Verletzungsmustern übergehen, indem sie das komplexe Muster der Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Faktoren ermittelt [5].
Inzidenz von Muskelverletzungen und Fehlzeiten
Muskelverletzungen im Profifußball stellen für die Mannschaften und Vereine eine ernste Belastung dar, da sie sich durch die Fehlzeiten negativ auf die Leistung und die Wirtschaftlichkeit der Vereine auswirken können und das Risiko für Folgeverletzungen erhöhen. Nach Daten der Verwaltungs- und Berufsgemeinschaft (VGB) hat sich statistisch gesehen jeder Spieler der ersten und der zweiten Bundesliga pro Spielzeit 2,7 Verletzungen zugezogen [6]. Während der drei Saisons (14 /15, 15 /16 und 16 /17) ergab sich eine verletzungsbedingte Gesamtfehlzeit von 77.761 Tagen oder 213 Jahren [6]. Eine aktuelle Studie schätzt die Ausfälle durch Verletzungen in einem durchschnittlichen Premier League Verein auf 45 Millionen Pfund pro Saison [7]. In der UEFA Elite Club Injury Study wurden Verletzungsdaten bei insgesamt 116 Mannschaften aus 24 Ländern über eine unterschiedliche Anzahl von Spielzeiten (1–16) zwischen 2001 und 2017 zusammengestellt. Während der 494 Mannschaftsspielzeiten wurden insgesamt 22.942 Verletzungen (19.926 Indexverletzungen und 3016 Wiederverletzungen) gemeldet [4]. Die Auswertung ergab, dass Verletzungen der ischiokruralen Muskulatur, Verletzungen der Leistenregion, Quadrizeps- und Wadenmuskelverletzung zu den häufigsten Verletzungen gehören und maßgeblich zu den Fehlzeiten beitragen [4]. Weiterhin zeigte sich, dass die Spieler nach eine Wiederverletzung im Falle von Wadenmuskelverletzungen, Verletzung in der Leistenregion und der ischiokruralen Muskulatur und Quadrizepsverletzungen länger pausieren mussten, als nach einer Indexverletzung [4]. Eine aktuelle Studie basierend auf zwei aufeinander folgenden Spielzeiten in der Qatar Stars League gibt die Fehlzeiten aufgrund von Verletzungen der Leistenregion mit 1,0 /1000 Stunden an. Die Verletzungsinzidenz war während Spielen fünfmal so hoch wie während des Trainings. Mehr als jeder fünfte Spieler musste wegen einer Verletzung der Leistenregion pausieren. Pro Saison haben die Mannschaften 85 Tage verloren und 59 % der Verletzungen führten zu einer Pause von einer Woche oder mehr [8]. Eine systematische Übersichtsarbeit und Meta-Analyse legt auf Basis von 74 Studien nahe, dass die Wahrscheinlichkeit der Verletzung an der dominanten Extremität höher ist und zwar unabhängig von Spielniveau und Geschlecht. Das relative Risiko für eine Verletzung der ischiokruralen Muskulatur wurde mit RR 1,3 [95 % CI 1,1–1,4] und für eine Verletzung im Leisten / Hüftenbereich mit RR 1,9 [95 % CI 1,3 – 2,7]) auf der dominanten Seite beziffert [9].
Prävention von Muskelverletzungen
Aufgrund der verletzungsbedingten Trainings- und Spielpausen sowie des erhöhten Risikos der Wiederverletzung kommt Präventionsansätzen eine große Bedeutung zu. Bis dato herrschen trainingsbasierte Interventionen vor. Obwohl Aspekte wie Stress, Ernährungszustand, Vitamin D-Status, Körperzusammensetzung und Hydratation auch mit Muskelverletzungen in Verbindung gebracht werden, wurden Ansätze wie die Veränderung der Trainingsbelastung, das Monitoring des Wohlbefindens, Verbesserung des Schlaf- oder Ernährungsverhalten bis jetzt in qualitativ hochwertigen Studien nicht umfassend untersucht [2, 10]. Im Folgenden wird die aktuelle Evidenzlage zu trainingsbasierten Präventionsansätzen zur Prävention von Muskelverletzungen dargestellt. Auch wird einen kurzen Überblick über Regenerationsmaßnahmen gegeben, die indirekt über die Erholung zu einer erhöhten Leistungsfähigkeit und einem verminderten Verletzungsrisiko führen können.
Bekannte und häufig angewandte trainingsbasierte Präventionsprogramme
FIFA 11 und FIFA 11+
Das FIFA 11+ ist eine leicht modifizierte Version des ursprünglichen Ansatzes und ist ein Aufwärmprogramm zur Verletzungsprävention bei Fußballspielern. Es beinhaltet 15 Übungen (Rumpfstabilisation, exzentrisches Oberschenkelmuskeltraining, propriozeptives Training, dynamische Stabilisierung und plyometrische Übungen) [11].
Nordic Hamstring Exercise
Das Nordic Hamstring Exercise (NHE) ist eine exzentrische Kräftigungsübung und wird aus dem Kniestand mit gestreckter Hüfte ausgeführt. Die Beine werden vom Partner festgehalten oder durch ein Objekt (z. B. Sprossenwand) fixiert. Ziel ist es, mit dem Oberkörper unter Anspannung der ischiokruralen Muskulatur langsam so weit nach vorne zu fallen, bis dies nicht mehr kontrolliert möglich ist und der Oberkörper mit den Händen abgefangen werden muss [12].
Prävention von Verletzungen der Leistenregion
Eine aktuelle systematische Übersichtsarbeit konnte mit sechs Originalarbeiten bei Fußballspielern keinen signifikanten Effekt der Präventionsmaßnahmen für zukünftige Verletzungen der Leistenregion feststellen [13]. Die Interventionen beinhalteten Krafttraining für die Rumpf- und Hüftmuskulatur sowie Gleichgewichts- und Koordinationstraining bzw. wandten das ‘The 11’ präventive Programm an [13]. Die Erkenntnisse dieser Übersichtsarbeit werden zudem dadurch eingeschränkt, dass die Leistenverletzung in keiner der eingeschlossenen Studien spezifisch definiert wurde und keine der Studien über die Verwendung eines standardisierten Diagnoseprotokolls berichtete. Zudem ist die Diagnose von Leistenverletzungen aufgrund der möglichen multiplen Pathologien und sich überschneidenden Symptome äußerst schwierig [13]. Crossley und Kollegen haben die Effekte von präventiven Interventionen speziell bei Fußballspielerinnen untersucht und eine nicht signifikante Reduktion der Verletzungen in der Leistenregion festgestellt [10]. Auch diese Autorengruppe weist auf die fehlende klare Definition der Verletzungen hin, was eine bedeutsame Limitation der Evidenz mit sich bringt. Thoborg und Kollegen dahingegen dokumentieren in einer aktuellen systematischen Übersicht und Meta-Analyse zur Wirksamkeit des FIFA 11+ Programms bei Freizeit und sub-elite Spielern eine Risikoreduktion um 41 % [14].
Prävention von Verletzungen der ischiokruralen Muskulatur
Trainingsbasierte Präventionsprogramme führen bei Fußballerinnen zu einer signifikanten Reduktion um 60 % der Verletzungen der ischiokruralen Muskulatur [10]. Allerdings waren nur Interventionen, die ausschließlich ein Element beinhaltet haben (Gleichgewicht, exzentrische Kräftigungsübungen für der ischiokruralen Muskulatur), nicht aber multikomponente neuromuskuläre Trainingsprogramme wirksam [10]. Eine aktuelle systematische Übersicht und Meta-Analyse kommt zum Schluss, dass das FIFA 11+ Programm bei Freizeit- und sub-elite Spielern Verletzungen der ischiokruralen Muskulatur um bis zu 60 % reduzieren kann [14].
Prävention von Wadenverletzungen
Aktuell gibt es keine speziell für diese Verletzungen ausgerichteten Präventionsprogramme [15, 16]. In einer prospektiven Kohortenstudie mit jungen Spielerinnen zeigte sich ein fußballspezifisches Gleichgewichtsprogramm wirksam bei der Verringerung von Wadenverletzungen [17].
Prävention von Quadrizepsverletzungen
Auf Basis der fünf eingeschlossenen Originalarbeiten, konstatiert eine aktuelle systematische Übersicht, dass die FIFA 11+ Interventionen einen kleinen, nicht signifikanten Effekt hatten. Die Evidenz wurde insgesamt als niedrig eingestuft. Darüber hinaus untersuchte keine der einbezogenen Studien die präventive Wirkung auf Verletzungen des Rectus femoris / Quadrizeps als primäre Ergebnisgröße [16].
Erholung und Regeneration
Erholung und Regeneration wird eine große Bedeutung bei der Trainingssteuerung beigemessen [18], auch wenn der Zusammenhang zwischen Belastung bzw. Erholung und Verletzungen nicht eindeutig ist [19]. Eine weitere Herausforderung stellt die valide und ökonomische Diagnostik von Erholung und Regenerationsbedarf dar [18], was wiederum die Vergleichbarkeit der wissenschaftlichen Ergebnisse und die Überprüfung der Wirksamkeit einzelner Verfahren erschwert. Potenziell regenerationsfördernde Maßnahmen umfassen u. a. Ernährung, Nahrungssupplemente und Flüssigkeitszufuhr, aktive Erholung und Nachdehnen, Hydrotherapie, Kälteapplikation, Kompressionskleidung, Wärmeapplikationen, Sportmassage und Ausrollen (z. B. Foam-Rolling), niederfrequente geräteunterstützte Vibrationsmassage, Schlafmanagement, psychologische Regenerationsverfahren, Akupressur und Akupunktur, geräteunterstützte Unterdruckbehandlungen, Laser- bzw. LED-Bestrahlung [20]. Es zeigt sich insgesamt keine klaren Vorteile einzelner Regenerationsverfahren [20]. Zudem sollte man bei der Wahl der Maßnahmen die Sportartspezifizität beachten, d. h. Erkenntnisse aus einer Sportart nicht ohne weiteres auf andere übertragen [20]. Eine aktuelle systematische Übersicht, die Wirksamkeit von Erholungsstrategien und -maßnahmen nach dem Spiel bei männlichen Profi- oder Halbprofifußballern auf die Leistungsfähigkeit, physiologische Marker und Indikatoren für das Wohlbefinden untersucht hat, fand heraus, dass Kompressionskleidung, Kaltwasserbäder und Schlafhygienestrategien im Vergleich zu einer Kontrollgruppe nur bei einem der Leistungstests (Counter Movement Jump) positive Effekte hat, aber auch Parameter der Muskelschädigung günstig beeinflussen kann [21].
Zusammenfassung und Ausblick
Obwohl Muskelverletzungen im Fußball eine große Belastung für den einzelnen Sportler, die Mannschaft und den Verein darstellen, muss die wissenschaftliche Evidenz zu Präventionsinterventionen als eingeschränkt eingestuft werden [10, 13, 22, 23]. Auffallend ist, dass die Verletzungen der verschiedenen Muskeln und Muskelgruppen unterschiedlich stark Gegenstand gezielter Maßnahmen sind. So finden sich verhältnismäßig viele Studien zu Verletzungen der Leistenregion und der ischiokruralen Muskulatur, aber deutlich weniger zu Verletzungen des Quadrizeps und der Wadenmuskulatur. Des Weiteren ist es häufig unklar, welche Trainingsinhalte in den Kontrollgruppen durchgeführt werden, in anderen Worten, wie weit die Präventionsprogramme andere oder zusätzliche Trainingselemente beinhalten im Vergleich zu der „normalen“ Trainingsgestaltung. Fanchini und Kollegen haben die durch ihre systematische Literaturübersicht identifizierten Studien (sowohl Original- als auch Übersichtsarbeiten) zu trainingsbasierten Strategien zur Prävention von Muskelverletzungen bei Elite-Fußballern nach den strengen Kriterien der Oxford Centre for Evidence-Based Medicine 2011 Evidenzstufen (OCEBM) bewertet [23]. Die Autorengruppe kommt zur Schlussfolgerung, dass aufgrund erheblicher methodischer Limitation es keine stichhaltigen wissenschaftlichen Beweise für die Annahme gibt, dass trainingsbasierte Strategien zur Vorbeugung von Muskelverletzungen bei Elite-Fußballspielern wirksam sind [23]. Entsprechend geben sie auch keine praktische Empfehlung für einzelne Ansätze ab. Im Sinne der Argumentation von Bittencourt und Kollegen, sollte man Sportverletzungen und deren Prävention durch die Brille des Ansatzes von komplexen Systemen betrachten [5]. Somit sollte die Prävention von Sportverletzungen auf die Ermittlung von Risikoprofilen beruhen, d. h., dass man von der Identifikation von isolierten Risikofaktoren zur Erkennung von Risikomustern übergeht. Dieser Ansatz berücksichtigt eine vernetzte und multidirektionale Interaktion zwischen allen Faktoren, die der komplexen Natur von Sportverletzungen Rechnung tragen [5]. Auch sind hochwertige wissenschaftliche Studien notwendig, um das vermutete Potenzial einer optimierten Ernährung, präventiver therapeutischer Maßnahmen, Stressregulation sowie Schlafverhalten zu untermauern oder zu widerlegen.
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Lesen Sie mehr zu der Thematik in der großen TEAMÄRZTE-UMFRAGE ZU MUSKELVERLETZUNGEN der sportärztezeitung.
Autoren
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Präventiv- und Sportmedizin am Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen bei Bewegungs- und Gesundheitsförderung im Bereich Public Health.
ist Facharzt für Dermatologe mit Zusatzbezeichnung Sportmedizin, Akupunktur, manuelle Medizin / Chirotherapie und Ernährungsmedizin mit Lehraufträgen an der Technischen Universität München, der Universität Regensburg und der Harvard Medical School. Seine Schwerpunkte sind Prävention und integrative konservative sportmedizinische Therapie. Er ist außerdem Leiter der medizinische Abteilung und leitender Mannschaftsarzt Eintracht Frankfurt.
(M.sc.) ist Physiotherapeut, Osteopath und DOSB Sportphysiotherapeut. Er ist (gemeinsam mit Prof. Dr. Florian Pfab) Leiter der medizinischen Abteilung von Eintracht Frankfurt sowie leitender Physiotherapeut / Osteopath. Bis 2015 betreute er DFB-U-Nationalmannschaften.