Die Vordere Kreuzbandruptur (VKB-Ruptur) ist mit ihrer Inzidenz von 68,6/100.000 weiterhin eine gehäuft auftretende schwerwiegende Bandverletzung, vor allem des jungen und sportlich aktiven Patientenkollektivs, die häufig in einer chronischen Bandinstabilität des Kniegelenkes resultiert [14].
Durch die fehlende Bandführung und die Verlagerung der Rotationsachse des Kniegelenkes nach medial kommt es zu einer besonders ausgeprägten translationalen Instabilität des lateralen Kompartimentes. Laut aktuellen Studiendaten kann diese Verletzung bei konservativer Therapie zu 75 – 87 % und nach operativer Therapie in 8 – 50 % der Fälle eine chronische translationale Instabilität des Kniegelenkes nach sich ziehen [10, 15, 16, 20]. Diese chronische Instabilität hat nachweislich negativen Einfluss auf die Sportfähigkeit des Patienten, die Funktion des Kniegelenkes, die Lebensqualität des Patienten und beschleunigende Wirkung auf die Arthroseprogredienz [2, 8, 14]. Die Auswahl der adäquaten Therapie nach einer erlittenen vorderen Kreuzbandverletzung ist jedoch weiterhin Teil der wissenschaftlichen Diskussion. Im Rahmen dieses Artikels wollen wir einen aktuellen Blick auf diese weiterhin kontroverse Frage werfen, zu der von dem Ligamentkomitee der Deutschen Kniegesellschaft (DKG) ein Konsensusprojekt abgeschlossen und publiziert worden ist [5, 11, 12]. Nach aktuellen S1-Leitlinien (AWMF) ist die Rekonstruktion des VKB mit autologem Transplantat bei Begleitverletzung der Seitenbänder, rekonstruierbaren Meniskusrissen, bei ausgeprägter Instabilität indiziert. Anhand von Metaanalysen und diversen Kohortenstudien konnte eine Verhinderung von Folgeschäden der Menisken und des Knorpels als auch eine Wiederherstellung des gewohnten Aktivitätsniveaus durch eine VKB-Rekonstruktion zu großen Anteilen sicher wieder hergestellt werden [1, 9, 14].
Adäquate Behandlung von Begleitpathologien bedürfen häufig einer gleichzeitigen VKB-Rekonstruktion
Eine wichtige Voraussetzung zur Entscheidung, ob eine VKB-Ruptur mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einem guten Ergebnis konservativ behandelt werden kann, ist der Ausschluss von relevanten Begleitpathologien, welche ohne operative Intervention einen großen Einfluss auf die Funktion und Haltbarkeit des biologischen Kniegelenkes haben. Wichtigster Vertreter dieser Verletzungen ist ein komplexer Meniskusriss, welcher gute Chancen auf eine Einheilung nach Naht und bei Resektion einen relevant negativen Einfluss auf das Gelenk hat [11]. Viele klinische Studien konnten zum einen zweifellos die schützende Funktion der Menisken, mit besonders großer Bedeutung für den Außenmeniskus, feststellen. Weiterhin konnte eine signifikante Verbesserung der Einheilungschancen einer Meniskusnaht durch die gleichzeitige Stabilisierung des vorderen Kreuzbandes gezeigt werden. Toman et al. demonstrierten eine Einheilungschance von 70 – 92 % bei gleichzeitiger Stabilisation der VKB-Ruptur im Vergleich zu einer Einheilung von 50 % ohne Stabilisation des VKBs [11, 17, 19]. Neben der notwendigen Stabilisation des Kniegelenkes durch die VKB-Rekonstruktion wird auch ein Stammzell-Einfluss fördernder Effekt der VKB OP zur Unterstützung der Meniskusheilung diskutiert, weshalb ebenfalls eine einzeitige Versorgung empfohlen wird.
Behandlung der isolierten VKB-Ruptur
Bezüglich der Therapie einer vermeintlich isolierten VKB-Ruptur hat vor allem eine prospektiv randomisierte Studie von Frobel RB et al. große Beachtung erfahren und insbesondere in der Laienpresse eine Gleichwertigkeit von operativer und konservativer Therapie suggeriert [3, 4]. Bei genauer Betrachtung der Studie ist vor allem ein Wechsel der Therapiegruppen von konservativ auf operative Therapie von 51 % nach fünf Jahren sehr kritisch zu bewerten, da die Ergebnisse dieser operierten Patienten der konservativen Gruppe zugeschrieben werden. Eine verzögerte operative Versorgung zeigte jedoch auch in anderen Studien ein deutlich erhöhtes Risiko für Folgeverletzungen im Bereich der Menisken und des Knorpels [6]. So konnten Sanders et al. in ihrer Kohortenstudie ein 5-fach erhöhtes Risiko für Folge-Meniskusrisse nach konservativ behandelter VKB-Ruptur im Vergleich zur operativ versorgten Gruppe feststellen [13].
Eine VKB-Rekonstruktion hat eine schützende Wirkung gegen Folgeverletzungen von Menisken und Knorpel
Insgesamt besteht somit Evidenz, dass eine VKB-Rekonstruktion eine schützende Wirkung für Menisken und Knorpel darstellt und Folgeverletzungen verhindern kann [11]. Eine weitere prospektiv randomisierte Studie ist bereits 2013 von Tsoukas D et al. publiziert worden. In dieser Studie konnte bezüglich der funktionellen Kniescores als auch der Stabilitätswerte hingegen zur Frobel Studie einen Vorteil zugunsten der operativen Therapie festgestellt werden [18]. Eine systematische Aufarbeitung der aktuellen Studienlage ist von Krause M. et al. 2018 im Deutschen Ärzteblatt publiziert worden [7]. Die Autoren stellten fest, dass aufgrund der derzeit publizierten RCTs (randomisierte Studien) keine klare Schlussfolgerung getroffen werden kann, ob operative oder konservative (abwartende) Therapie zu einem besseren funktionellen Ergebnis führt. In Beobachtungsstudien konnte die Autoren jedoch einen Trend zu besseren Ergebnissen zugunsten der operativen Therapie aufzeigen. Bei Ausschluss von dringlich zu versorgenden Begleitverletzungen und bei moderatem Aktivitätsniveau des Patienten ist ein konservativer Therapieansatz jedoch primär durchführbar. Allerdings sollte der Patient engmaschig betreut werden und somit eine persistierende oder zunehmende Instabilität erkannt werden, um eine erneute OP-Indikation zu überprüfen. Insbesondere die Folgeverletzungen nach VKB-Insuffizienz stellen eine relevante Problematik dar, welche man mit Hilfe einer VKB-Rekonstruktion erfolgreich minimieren kann.
Fazit
Viele neue Erkenntnisse über den Einfluss der peripheren Bandstrukturen (ALL, MCL), bestimmter Meniskuspathologien und dem Einfluss der tibialen knöchernen Neigung (Slope) haben das Verständnis über die einzelne VKB-Verletzung erheblich verbessert und sollten in Zukunft immer mehr in die Entscheidung zur individualisierten Therapie des einzelnen Patienten mit einbezogen werden. Ein apodiktisches „OP oder konservative Therapie“ sollte der Vergangenheit angehören. Auf diese Weise ist es sicherlich möglich, die Ergebnisse unserer Kreuzbandpatienten, sei es mit konservativer oder operativer Therapie, zu verbessern.
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Autoren
ist Facharzt für Orthopädie/ Unfallchirurgie und spezielle Unfallchirurgie und seit Januar 2019 in der OCM Klinik in München tätig (seit 2021 als Leitender Arzt und Gesellschafter). Seit 2016 ist er Vorstandsmitglied der Deutschen Kniegesellschaft. Außerdem ist Professor Herbort wiss. Beirat der sportärztezeitung.
ist Facharzt für Unfallchirurgie, Orthopädie und Sporttraumatologie und als Mitbegründer am Gelenkpunkt – Sport und Gelenkchirurgie Innsbruck tätig und leitet die Research Unit für Sportmedizin des Bewegungsapparates und Verletzungsprävention, an der Privatuniversität UMIT, Hall. Er war von 2002–2011 Vorstandsmitglied und zwei Jahre Präsident der AGA. Prof. Fink ist außerdem wiss. Beirat der sportärztezeitung.