Die Sportphysiotherapie ist eine Spezialisierung innerhalb der Physiotherapie und unterlag in den letzten Jahren im Zuge der Professionalisierung und Akademisierung des Berufes der Physiotherapie sowie dem internationalen-kulturellen Einfluss einen erheblichen und notwendigen Wandel.
In erster Linie kümmerte sie sich früher um häufige sportspezifische Pathologien im 1:1 Kontakt in unterschiedlichen Settings (Praxis, Rehazentren, Sportvereine, Krankenhaus, professionelle Sportvereine, Fitnessstudios) und mit verschiedenen Zielgruppen. Erstaunlicherweise in der Vergangenheit jedoch meist mit therapeutenfixierten passiven Maßnahmen und physikalischer Therapie, die weit weg von aktuellen und modernen evidenzbasierten Hintergründen war und somit häufig ohne erkennbaren Plan und Struktur im Sinne der symptomatischen Therapien mit einem biomedizinischen Denkmodell verankert war.
Ein Meilenstein in der Professionalisierung war daher im Jahr 2000 die Gründung der Organisation „Internationale Federation of Sports Physiotherapie (IFSP)“, die weltweit die nationalen Sportphysiotherapieverbände vertritt und Kompetenzprofile im Konsens erarbeitet hat (sports physiotherapy competencies and standards, 2005). Diese Veränderungen sind so tiefgreifend, dass man heutzutage durchaus von einem beruflichen Shift oder Paradigmenwechsel sprechen kann. Ähnliches erlebt die deutsche Physiotherapie seit längerem mit der Professionalisierung und Akademisierung auf Hochschulniveau.
Die wissenschaftliche Kritik von Experten im Bereich der muskuloskelettalen Therapien in der Sportmedizin sind folgendermaßen zusammengefasst:
- Die Therapie bei MSK-Beschwerden ist allgemein in der deutschen Medizin (Physiotherapie und Orthopädie) weitgehend passiv, symptomorientiert (biomedizinisches Modell) mit mit kurzwirksamen Effekten, häufig nicht extern evidenzbasiert, subjektiv und anwenderspezifisch, medikalisiert, nicht selbstwirksam und mit wenig Eigenverantwortung und daher nicht nachhaltig für den Sportler.
Sie entsprechen daher häufig nicht den empfohlenen wissenschaftlichen Leitlinien und Empfehlungen.
- Die Therapien sollten nach dem biopsychosozialen Modell am Patienten durchgeführt werden und somit nicht nur am, sondern mit dem Patienten. Die Physiotherapie sollte sich nach den natürlichen Bedürfnissen des menschlichen Körpers ausrichten, um nicht nur symptomlindernd, sondern insbesondere belastungssteigernd zu wirken.
In der Sportphysiotherapie hat sich dadurch ein Paradigmenwechsel vollzogen und die drei wesentlichen Säulen der Physiotherapie und Sportphysiotherapie bestehen allgemein und unabhängig von der Verletzung aus:
Edukation (Kommunikation mit Beratung und Aufklärung über u. a. die Pathologie, die genaue Diagnose, den möglichen Grund von Schmerzen, die Prognose der Verletzung, den Inhalten und Verlauf der Therapien und Ziele im Sinne eines Goal-setting)
Aktiven Therapien mit progressiven Trainings- und Belastungsmanagement im Sinne der Wundheilung und natürlichen Selbstregulationsmechanismen des Körpers. Der menschliche Körper mit all seinen verschiedenen Strukturen (Muskel, Sehnen, Bänder u. a.) heilt mit Bewegung und Belastungen am besten („Mechanotransduktion“ – turning movement into repair). Kurzfristige Schonungen und Ruhe sind sicherlich im Einzelfall notwendig. Der schrittweise Aufbau sollte mit klaren Assessments (valide, reliabel, sensitiv / spezifisch), subjektiven Einschätzungen (Fragebögen u. a. Schmerz, Kinesiophobien, Angst-Vermeidungsverhalten) und objektiven Befunden (i.d.R. aktiv vom Patienten mit Messungen) durchgeführt werden.
Passiven Maßnahmen wie Manuelle Therapien und physikalische Therapie je nach Setting und Add-on zur kurzfristigen symptomatischen Therapie. Grundsätzlich sollte die Sportphysiotherapie nicht nur am Sportler, sondern mit dem Sportler durchgeführt werden. Passive Therapien verbessern nicht die Belastungstoleranz und -kapazität von Gewebe und Strukturen. Dieses ist nur mit aktiver Therapie physiologisch möglich. Die neuromodulativen und biochemischen Soforteffekte von passiven Maßnahmen können aber indikationsgerecht und gezielt insbesondere im Setting Leistungssport eingesetzt werden (Symptommodifikation).
Die Merkmale und Aufgabenbereiche der Sportphysiotherapie sind sehr komplex, heterogen und vielfältig im Bereich der Prävention, Therapie und Rehabilitation. In diesem Artikel soll es um den allgemeinen Ansatz in der Sportphysiotherapie im Bereich einer Verletzung und spezifischen Pathologien in Form von Kasuistiken (akut und chronisch) gehen, um dadurch einige aktuelle Aspekte im Wissen, Denken und Handeln von modernen Sportphysiotherapeuten im evidence-based practice im biopsychosozialen Denkmodell zu erläutern. Das Ziel der angewandten Sportphysiotherapie sind selbstwirksame, aufgeklärte Sportler, die eine Eigenverantwortung im Reha-Prozess haben. Für komplexe Probleme gibt es keine „Knopfdruck-Therapie“. Basis ist die evidenzbasierte Medizin im Modell nach David Sacket. Neben den beschriebenen wissenschaftlichen evaluierten Therapien (Edukation, Aktivität) spielt das individuelle Setting des Sportlers (Werte, Ziele, Alter, Beruf, Vorverletzungen“…) eine bedeutende Rolle. Die Prognose und der Verlauf einer Verletzung werden wesentlich von der Erwartung und dem Wissensstand sowie der Persönlichkeit von Sportlern beeinflusst. Dieses zeigt deutlich, dass Sportphysiotherapie individuell und kontextabhängig ist und der Faktor Mensch eine herausragende Rolle einnimmt (biopsychosoziales Modell). Es gibt niemals die gleiche Verletzung. Der dritte Faktor ist der Therapeut selbst: die eigenen Werte, die Persönlichkeit, die Haltung und Idee zur Medizin (Berufsidentität), die Reflexion, das kritische klinische Denken.
Fallbeispiel
Ein 26-jähriger männlicher Student der Sportwissenschaft (8. Semester) stellt sich in der Praxis zur ärztlichen Zweitmeinung vor. Vor ihm liegen zwei Praxisprüfungen im Semester (Leichtathletik mit Lauf- und Wurfbelastungen sowie eine „Tennisprüfung“ in Theorie und Praxis). Er klagt seit neun Wochen über linksseitige rezidivierende Achillessehnenschmerzen, die vor allem bei Belastungen auftreten. Kein Ruheschmerz, kein Bewegungsschmerz. Die Achillessehne „sei verdickt“ und er mache sich Sorgen, dass die Sehne „reißen“ könne beim Laufen. Der Schmerz verunsichert ihn, da er nicht verschwindet trotz 4-wöchiger Sportkarenz und Physiotherapie mit der Diagnose „Achillodynie“ (Querfriktionen nach Cyriax, Triggerpunktbehandlung Wadenmuskulatur, Kinesiotape sowie Elektrotherapie). Ein Laufversuch wurde nach 2 km abgebrochen (6.Woche). Eine antientzündliche Schmerzmedikation über fünf Tage sowie Salbenverbände zur Nacht brachten ebenfalls keine wesentliche Linderung. Eine paratendinöse Infiltration mit pflanzlichen Substraten wurde zweimal durchgeführt. Bei einer osteopathischen Behandlung „sei die Ursache festgestellt worden“: Eine Blockierung im Sprunggelenk sowie ein Beckenschiefstand wurde laut Aussage des Patienten „korrigiert“. Der Patient führt in Eigenregie „Übungen aus dem Internet“ durch (Faszienrolle und Dehnungen). Bei Vorstellung des Patienten in der Praxis zeigte sich ein verunsicherter und ratloser, aber differenzierter Patient. Eine Belastungsfähigkeit der Sehne war aus Sicht des Sportlers nicht gegeben.
Die oben beschrieben Grundzüge der Therapie (Edukation, Aktivität und Neuromodulation) nach der evidenzbasierten Physiotherapie im biopsychosozialen Modell würden dann folgendermaßen durchgeführt (in Kürze und zusammengefasst) werden: Rezidivierende Achillessehnenbeschwerden gehören zu den häufigsten Pathologien in der Sportmedizin. Ohne fundiertes Fachwissen aus der Forschung und Erfahrungen im Umgang mit diesem Beschwerdebild sind kaum gute und zufriedenstellende Lösungen für den Sportler möglich. Ohne auf Details einzugehen, sollen allgemein ein paar Grundprinzipien der Diagnostik und Therapie dargestellt werden und mit typischen Meinungen oder Mythen aufgeräumt werden.
Edukation
Der Sportphysiotherapeut muss insbesondere zunächst eine klare Beziehungsebene zum Patienten aufbauen. In der Regel treffen in solch einem Setting „fremde“ Menschen aufeinander. Jeder schlecht informierte Therapeut ist ein potenzieller Chronifizierungsfaktor.
„Es ist wichtiger, den Patient zu kennen, der Krankheit hat, als die Krankheit zu kennen,
die der Patient hat.“ William Osler
Von daher ist es wichtig, einen patientenzentrierten, offenen und positiven Kommunikationsstil zu benutzen, um die Ängste, Sorgen, aber auch Unsicherheiten bezüglich der Diagnose und der Belastungsfähigkeit zu nehmen.
the patient’s story will tell you more than any special test
Klassische Fragen an den Sportler wären zum Beispiel: Was denken Sie über Ihre AS-Beschwerden? Warum glauben Sie, dass die Sehne schmerzt? Welche Ängste haben Sie, wenn Sie weiter belasten würden? Was wissen Sie über die Achillessehne? Wie würden Sie Ihre Diagnose beschreiben? Welche Belastungen und Aktivitäten funktionieren noch gut?
- Ziel ist es, die Gedanken des Sportlers über die Schmerzen und die Diagnose zu verstehen, um hemmende limitierende negative Gedanken und Einstellungen (Nozebo) sowie negative Überzeugungen zu verändern, um dann entsprechende Therapieziele gemeinsam zu besprechen und festzulegen (Understanding the
why behind the therapy). - Dieses ist notwendig, denn man kann keinen Sportler in ein notwendiges Trainingsprogramm bekommen, wenn man ihm erzählt, dass „seine Sehne reißen könne“ oder andere negative Wörter benutzt („words matter“).
- The Kieran O’Sullivan Test: „Ask your patient to describe how they will explain your consultation findings to their family, or significant other, when they get home“
- Die 4 Fragen nach Gifford sollten in der ersten Sitzung als Richtlinie thematisiert werden. Dadurch wird die Akzeptanz, der Sinn und die Adhärenz des Sportlers erhöht.
Aus der wissenschaftlichen Literatur ist bekannt, dass eine degenerierte Sehne belastungsfähig ist (step by step), mit Ruhigstellung negativ reagiert (Verlust der Stiffness und Sehnenmatrixeigenschaften wie Energiespeicherung und Katapulteffekt). Dadurch wird die 2. Säule der Sportphysiotherapie bestimmt:
Aktive Therapieformen
(Isometrie, exzentrisches Training, plyometrisches Training oder „Heavy Slow Restance Training“ z. B.) sind sog. „first -line treatment“. Deshalb sollten Sportphysiotherapeuten ein progressives Bewegungs- und Belastungsmanagement mit pain monitoring durchführen, d. h. die weitere Belastungssteigerung richtet sich u. a. nach der Reaktion des Gewebes (z. B. flare up) und Assessmentverfahren (z. B. Fragebögen, klinische Testungen wie Hauttemperatur, aktiven Tests). Sehnengewebe reagiert sehr negativ auf längere Immobilisation und Ruhe. Aktivität ist daher von Beginn an notwendig. „Schmerzfreiheit bedeutet nicht Belastungsfähigkeit“!
Im Setting Praxis ist die Zeit außerhalb der Therapie wichtig. Nur durch konstanten Gewebereiz (und nicht einmaliger kurzfristiger manueller Therapie) kann die Struktur (durch Bioproteinsynthese) oder die Eigenschaften von Gewebe (z. B. Stiffness und Energiespeicherkapazität) erhöht werden. Dafür ist die Zeit außerhalb der Therapie (in der Regel 2 x 20 Minuten in der Praxis) notwendig. Progressives Sehnentraining nach pain-monitoring (load-management)- graded exercise.
“When is it okay to have pain with exercise?” Diese Frage muss mit dem Sportler besprochen werden, da es für Sportler häufig nicht verständlich ist, schmerzendes Gewebe zu belasten (Edukation über die übungsinduzierte Hypoalgesie). Aber: Einem Menschen zu erzählen, sein Körper wäre beschädigt und anschließend erwarten, er wäre aktiver, funktioniert nicht. „We need to change cognition and understanding about pain before a movement-based-program can be successful…!“ (Gifford, 2014). Mit begleitenden passiven Therapien (Stoßwelle, Laser, MT, Tape usw.) kann man kurzfristige Effekte (z. B. Schmerzlinderung) erhalten.
Passive Therapie
„Moderne Physiotherapie wird mit dem Patienten und nicht nur am Patienten durchgeführt!“
Es soll also nicht nur Medizin am Patienten, sondern mit dem Patienten durchgeführt werden. Übersetzt soll es bedeuten, dass wir häufig keine Lösungen mit therapeutenfixierten passiven Therapien „auf der Behandlungsbank“ bekommen, da die Achillessehne nur mit Belastung heilen kann. Mit passiven Therapien kann man kurzfristige Effekte (z.B. Schmerzlinderung) erhalten, die Struktur und die kinematische Belastungsanforderungen werden nicht optimiert dadurch. Passive Therapien sind im Leistungssport kein Luxus. Ihre unspezifischen symptomlindernden kurzfristigen Effekte sind in vielen Bereich als Add-on hilfreich. Sie verbessern aber nicht die Gewebe- und Struktureigenschaften, die für eine volle sportartspezifische Belastungsfähigkeit oder gar Performancesteigerung (Stiffness, Sehnenmatrix, properties) notwendig sind. Sie sollten gezielt und stadien- und indikationsgerecht eigesetzt werden eingesetzt werden. Die vielen begleitenden Therapien (Stoßwelle, Laser, MT, Tape usw.) sind nach heutigem Stand im Sport sicherlich kein Luxus, sollten jedoch als “second-line-treatment“ eingeordnet werden.
Fazit
Sportphysiotherapie ist eine aktiv therapeutische und verhaltensorientierte Intervention, durch die das dem Sportler innewohnende Adaptationspotenzial aktiviert wird, sodass die allgemeine und sportartspezifische Funktions- und Belastungsfähigkeit verbessert werden kann (= evidenzbasiertes Sportlercoaching).
Evidenzbasiertes sportlerzentrierte Physiotherapie sollte folgendes beinhalten:
- Patientenzentrierte Medizin („Patient als Experte“)
- Physiotherapeut handelt als Coach
- Biopsychosozialer Denkansatz
- Selbstwirksame Patienten (shared decision, goal setting)
- Grundprinzip („first-line-treatment“):
- Edukation (z. B. making sense of pain; patientenverständliche Diagnose)
- Kommunikation („words matter, Positivismus): patientenorientierte offene Sprache
- Aktive Therapie („first-line-treatment“) mit Go-Regeln
- Neuromodulation („passive treatment“)
- Förderung von Unabhängigkeit und Selbstwirksamkeit
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Sportphysiotherapie Ausbildung
Kompetenzzentrum Fußballmedizin Hannover
Kontakt & weitere Infos: dominik.suslik@hannover96.de
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Autoren
ist Sportmediziner und Facharzt für Unfallchirurgie und Orthopädie. Aktuell ist er Mannschaftsarzt von Hannover 96 sowie bei der U21-Nationalmannschaft des Deutschen Fußballbundes. Außerdem betreute er langjährig die Spieler des THW Kiel, der SG Flensburg Handewitt, des FC Schalke 04 und des FC St. Pauli.