2017 war das sicherste Jahr der zivilen und kommerziellen Luftfahrt. Weltweit starben 44 Menschen bei über vier Milliarden transportierten Fluggästen. Ist es einfach nur Glück oder minimiert die eingesetzte Technik das Risiko? Sind es weltweit vorgegebene Gesetze und Regeln oder ist es doch am Ende der Mensch als entscheidendes Individuum, der einen maßgeblichen Beitrag zu diesem Erfolg liefert?
Wahrscheinlich ist es ein Mix aus vielen Faktoren. Vor- und Unfälle haben zu neuen Vorgaben, Checklisten, Trainings und Regularien geführt, die Fehleranfälligkeit des Menschen wurde durch neue Technologien und Automation reduziert und Airlines haben Safety Management Systeme und eine Sicherheitskultur eingeführt und diese über Jahre etabliert. Das Kompetenzprofil des Piloten wurde neben technischen und prozeduralen Kompetenzen mit interpersonellen Kompetenzen erweitert. Solche Veränderungen passieren und greifen nicht über Nacht – es hat Jahre gedauert, um Effekte und Erfolge zu sehen. In den 1980iger Jahren lag der menschliche Fehler in der Luftfahrt bei 80 %. Steile Hierarchien, mangelnde Kommunikation, fehlende interpersonelle Fähigkeiten oder CRM (Crew Ressource Management) waren Ursachen für katastrophale Flugunfälle. Heute, 30 Jahre später, haben sich CRM, Checklisten und sogar flache Hierarchien in der Branche fest etabliert.
Luftfahrt und Medizin – voneinander Lernen
Die Situation in der Medizin kann man natürlich nicht eins zu eins mit der Luftfahrt vergleichen. Zu groß sind die Unterschiede in manchen Bereichen. Aber wenn wir genauer hinsehen, können Luftfahrt und Medizin viel von- und miteinander lernen. Die DGOU (Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie) und LAT (Lufthansa Aviation Training) haben 2017 eine Umfrage mit über 600 Unfallchirurgen durchgeführt. Eine Frage lautete: „Was sind die Gründe für Fehler in Ihrem Umfeld?“ Die Ergebnisse sind in Abb. 1 dargestellt. Zeitdruck und Personalmangel wird es auch in der Zukunft in der Medizin und in allen anderen Industrien geben. Aber mangelnde Kommunikation, schlechte Teamarbeit, Führungsmangel, steile Hierarchien und Stress, das sind Themen, die angegangen werden können. Mit Hilfe von Trainings und konkreten Handlungsempfehlungen lassen sich Verbesserungen erzielen für alle Beteiligten. Fehler werden auch in der Zukunft passieren. Jeder erlebt täglich im Kleinen wie auch im Großen Situationen bei der Behandlung von Patienten, die nicht rund laufen. Mit mehr oder weniger viel Aufwand wird der „Fehler“ dann wieder „glattgebügelt“. Im besten Fall hat der Patient die resultierende Verzögerung gar nicht bemerkt und hat auch keinen Schaden genommen. Manchmal kann aber aus einer kleinen Unachtsamkeit doch eine relevante Komplikation entstehen. Reflexhaft wird dann nach mehr und besserer Technik oder noch mehr Standardisierung der Behandlungsabläufe gerufen. Wenn aber 70 % aller Fehler in der Medizin nicht auf die Technik oder die Behandlungsabläufe, sondern nachweislich auf den Faktor Mensch zurückgehen, warum kümmert man sich dann noch immer so wenig um diesen Faktor?
Faktor Mensch und gezielte Trainings
Die Luftfahrt hat schon vor vielen Jahren erkannt, dass interpersonelle Kompetenzen die Sicherheit in der Aviatik maßgeblich erhöhen. Schon in der Auswahl wird viel Wert auf Grundlagen gelegt, dann geht es in die technische und praktische Ausbildung inkl. vieler Überprüfungen. Nur wenn alle drei Kompetenzbereiche geschult sind und die Anwendung durch die Piloten belegt werden kann, geht es auf „Strecke“, den ersten Flug. In der Medizin ist es häufig so, dass viel bzw. fast alles in die Ausbildung der technischen und prozeduralen Fähigkeiten gelegt wird. Die interpersonellen Kompetenzen sollte man sich bestmöglich selbst aneignen, gar schon mitbringen. Die Medizin muss sich verändern, der Faktor Mensch muss mehr in den Vordergrund gestellt werden. Wie Piloten brauchen Ärzte und Pflegekräfte neben technischen und prozeduralen Fähigkeiten auch interpersonelle Kompetenzen. Es reicht eben nicht, der beste Operateur zu sein bzw. wenn eine der drei Kompetenzen fehlt.
Experten von Lufthansa Aviation Training (LAT) und Experten aus den Bereichen Medizin, der DGOU und Pflege haben daher vor einigen Jahren ihre Kräfte vereint: Mit gezielten Trainings werden die interpersonellen Kompetenzen von medizinischem Fachpersonal verbessert. Nur so wird der Risikofaktor Mensch zum Sicherheitsfaktor. Ein besonderer Fokus liegt in der Patientenversorgung auf dem behandelnden Team. Hier braucht es als Grundlage psychologische Sicherheit. Psychologisch sichere Teams zeichnen sich dadurch aus, dass es ausdrücklich gewünscht ist, aktiv Vorschläge einzubringen und Fragen zu stellen. Niemand fühlt sich hierbei „auf den Schlips getreten“, sondern Vertrauen, Respekt und das übergeordnete Ziel Sicherheit stehen an erster Stelle. Erfolge werden gemeinsam gefeiert, aus Misserfolgen wird gelernt und Silo- und Konkurrenzdenken haben bei diesen Teams nichts zu suchen. Und genau diese Werte, diese so sehr benötigten interpersonellen und Führungskompetenzen haben wir definiert und trainieren wir mit einem interprofessionellen, interdisziplinären und vor allem nachhaltigen Schulungskonzept, dem sogenannten IC-Training.
Beispiel Arzt / Ärztin
Abb. 2 zeigt eine mögliche Karriere eines Arztes / einer Ärztin. Das IC 1 der Basiskurs sollte nach ca. 1,5 – 2 Jahren nach Universitätsausbildung stattfinden. Inhalte sind Entscheidungsfindung, Teamarbeit, Stress- und Workloadmanagement, Sicherheitskultur, das persönliche Auftreten, Kommunikation und Situationsbewusstsein. Dann nach 3 – 4 Jahren sollten diese Kompetenzen mit dem IC 2 aufgefrischt werden. Ist man bereits in einer Führungsposition oder steht kurz davor, folgt das IC 3. Hier geht es um Empathie, Inspiration, Führungsstile, Konfliktmanagement, Delegieren, Kultur, Vertrauen, Resilienz und Umgang mit dem Alltag sowie kritischen Situationen als Führungskraft. Das IC 4 richtet sich an das Top Management. Schwerpunkte sind hier das Etablieren einer Sicherheitskultur, Vertrauen, Identifikation, Risikomanagement, der Faktor Mensch und Kommunikation. Die Trainer kommen aus den Bereichen Medizin und Luftfahrt und bilden die perfekte Kombination, um auch im Training von und miteinander zu lernen. Zusätzlich gibt es noch ein IC-Pflege, das sich an Pflegekräfte wendet und das IC-Notfall, das alle Schnittstellen der Erstversorgung (Notärzte, Notfallsanitäter, Feuerwehr, Luftrettung, Leitstelle) zusammenbringt und ein gemeinsames Rollenverständnis und notwendige interpersonelle Kompetenzen für den Alltag bietet. Alle Trainings sind von der Ärztekammer zertifiziert und als offene und inhouse Kurse bei der LAT zu buchen.
Wenn wir aus dem Risikofaktor Mensch den Sicherheitsfaktor machen wollen, müssen wir analog aus dem Risikoumfeld Krankenhaus/Arztpraxis ein Sicherheitsumfeld machen. Das geht nur mit einer holistischen Ansichtsweise. Die Grundlage hierfür bildet eine funktionierende Organisations-/Sicherheitskultur. Es gilt zu entscheiden, was dabei an erster Stelle steht. Ist es der wirtschaftliche Erfolg, der Patient, die Sicherheit? In der Luftfahrt steht die Sicherheit an erster Stelle. Vielleicht ist ein passendes Motto für die Medizin „Mission first – safety always“. Die Kultur und die vorgegebenen Ziele müssen transparent sein und gelebt werden, denn nur so führt es zu Identifikation und Vertrauen. Vertrauen der Mitarbeiter gegenüber dem Unternehmen, aber auch Vertrauen der Patienten in das medizinische Fachpersonal. Neben der Kultur muss der Fokus, wie oben beschrieben, auf die Auswahl der richtigen Mitarbeiter und Führungskräfte gelegt werden. Diese müssen gut selektiert und gut trainiert werden. Es braucht ein funktionierendes Reportingsystem. Natürlich muss das in einer Arztpraxis anders aussehen als in einer Klinik, aber am Ende ist das Ziel, aus Fehlern zu lernen und Fehler in Zukunft zu vermeiden und Bedrohungen früh am Horizont zu erkennen. Und es braucht eine 100 %ige Compliance bei Checklisten und Vorgaben. Automation und Technologie sind wichtig, die Einhaltung der Vorgaben dabei die Grundlage, aber auch das Wissen darüber, wie die Technologie funktioniert und was zu tun ist, wenn die Technologie versagt.
Fazit
Dieser Ansatz soll verdeutlichen, dass interpersonelle Kompetenzen nicht nur das Individuum, das Team und die Organisation stärken, sondern auch die Patientensicherheit erhöhen. Auch in Krankenhäusern und Arztpraxen benötigen wir eine Atmosphäre wie an Bord von Verkehrsflugzeugen: „Vertrauen statt Misstrauen, Teamwork anstelle von Einzelkampf und Offenheit statt Stillschweigen“. Nur dann wird es auch einen nachweislichen und positiven Effekt bei der Patientenversorgung und der Patientensicherheit geben. Ein Effekt, der dringend notwendig ist.
Autoren
ist Psychologe und seit mehr als 15 Jahren als Senior Human Factors Experte bei Lufthansa Aviation Training (LAT) tätig. Er ist für die Standardisierung von Human Factors-Training innerhalb der Lufthansa Group zuständig und als Process Manager für den Bereich Beyond Aviation / Healthcare. Für den Bereich Medizin wurde ein nachhaltiges Schulungskonzept entwickelt, um die interpersonellen Kompetenzen und Führungsqualitäten für medizinisches Fachpersonal zu trainieren.
Mehr Infos: www.interpersonalcompetence-training.com