Leistungssportler stehen regelmäßig und überdurchschnittlich unter Stress. Einige von ihnen werden deswegen krank. Aber warum eigentlich? Einige Antworten liefert ein Blick auf ein bisher unterschätztes System: die Darm-Hirn-Achse.
Leistungsdruck kann Stress auslösen – dies ist auch Nichtsportlern bekannt. Schnell macht man das moderne Leben dafür verantwortlich, aber Menschen mussten sich früher, als sie noch als sogenannte Jäger und Sammler lebten, etlichen und mitunter auch weitaus gefährlicheren Herausforderungen stellen und hatten deshalb nicht per se weniger Stress. Was allerdings anders war, ist die Dauer der Stressmomente. Das moderne Leben mit seinen technischen Möglichkeiten, das Bedürfnis nach fast ständiger Erreichbarkeit und die vor allem bei jüngeren Generationen immer stärkere Affinität zu den sozialen Medien lassen unsere Aufmerksamkeit in einer Art Daueraktivität verbleiben. Während das Leben unserer Vorfahren zwar ständige Herausforderungen bot, waren diese Belastungen nie von großer Dauer. Stress oder besser „Belastung“ war zeitlich begrenzt: es ging eher um Minuten, Stunden, manchmal Tage, selten aber Wochen, Monate oder gar Jahre und schon gar nicht pausenlos. Unser Stress-Adaptations-System konnte sich so über Jahrtausende entwickeln – mit dem Ergebnis, dass dauerhafte und multiple Stressbelastungen eher schlechter – dagegen aber unterbrochene, intermittierende, wenn auch hohe Belastungen, weitaus besser toleriert werden können. Das heißt, Erholung oder Regeneration spielen eine wesentliche Rolle in der Toleranz gegenüber Stressbelastungen.
Stehen Sportler unter Dauerstress?
Der moderne Lebensstil gilt auch für Sportler mit dem Unterschied, dass sie sich dazu noch in mitunter extremer Weise körperlich belasten. Aber bekommen Sportler ihre so wichtigen Pausen? Eigentlich sollte dies ein durchdachter Trainings- und Regenerationsplan hergeben, denn am Ende kommen die Faktoren Wettkampfbelastung und Leistungsdruck ja noch hinzu. Es lohnt sich also einen kurzen Blick auf die menschliche Stressreaktion zu werfen. Dabei geht es um physiologische Mechanismen, die eine erfolgreiche Reaktion gegen Stressoren oder im Extremfall das Überleben garantieren. Und dies ist als allererstes eine verlässliche Energiebereitstellung für die unter der Stressreaktion am meisten genutzten Organe: Gehirn, Muskulatur, einige Organe und – sollte der Stressor gegebenenfalls ein Pathogen sein – sogar das Immunsystem.
Die Gewährleistung einer zuverlässigen Energiebereitstellung wird zunächst durch den Sympathikus übernommen: Adrenalin wird freigesetzt und setzt den Körper unter „Alarm“. Dabei wird die Energieversorgung insbesondere von Gehirn, Herz-Kreislaufsystem und Muskulatur gesichert. Dauert der Stressor jedoch an, so übernimmt nach und nach das Hormonsystem, an dessen Ende Cortisol produziert wird (die sogenannte HPA Achse) die Aufgabe der Stressbewältigung. Cortisol stabilisiert ebenfalls den Blutzucker, reguliert die Priorisierung der Energieverteilung und hält die Kreislauffunktion aufrecht. Zusätzlich übt es noch eine Art Kontrolle auf das Immunsystem aus. Eigentlich funktioniert dieses System bei Sportlern überdurchschnittlich gut und deshalb zeigt sich bei dieser Personengruppe dann auch eine verbesserte Stresstoleranz [1]. Bleibt die HPA Achse allerdings über einen längeren Zeitraum aktiv oder kann sich dieses System nicht oder nur unzureichend regenerieren, ist die Wirkung des Hormons Cortisol nicht mehr vollständig garantiert [2]. Dies bedeutet sogar, dass die Cortisolfreisetzung erhöht sein kann. Eine regenerative Pause kann dies wieder kompensieren. Bleibt diese allerdings aus oder ist unzureichend, kann dieser Zustand bestehen bleiben. Vor allem im Leistungssport kommt dies durch Training und Wettkampf zusätzlich zu den oben angeführten Alltagsbelastungen relativ häufig vor und zahlreiche Athleten leiden deshalb auch unter Symptomen wie Erschöpfung, Stimmungsschwankungen, eingeschränkter Leistungsfähigkeit sowie Verdauungsstörungen, aber auch Schlafproblemen, Appetitstörungen, Gewichtsschwankungen, bis zu Motivationsproblemen, Konzentrationsstörungen, Entzündungen und Infektanfälligkeit [3].
Auswirkungen auf den Darm
Man schätzt, dass etwas mehr als die Hälfte aller Athleten unter Stress durch Überbelastung und unzureichender Regeneration leiden. Dies zeigt sich besonders deutlich im Ausdauersport, wo tägliche Belastungen von vier bis sechs Stunden an sechs Tagen pro Woche über Zeiträume von mehreren Wochen ohne wirklich ausreichende Pausen keine Seltenheit sind. Erst die neuere wissenschaftliche Forschung konnte nachweisen, dass sich eine derartige Stressbelastung massiv auf ein Organ auswirken kann, welches bisher nicht so im Fokus stand: der Darm. Die Kommunikation zwischen den Stresssystemen im Gehirn und dem sogenannten „Darmhirn“ läuft dabei im Wesentlichen über den Vagusnerv. Schaut man etwas genauer hin, sieht man sogar, dass der Darm zusätzlich über z. B. Botenstoffe (z. B. GABA) oder auch Metaboliten wie kurzkettige Fettsäuren oder gar Aminosäuren kommuniziert. Einige dieser Stoffwechselprodukte werden vom Darm selbst, andere sogar von der sogenannten Darmflora produziert. Das heißt: unser Gehirn – vor allem der für die Stressreaktion verantwortliche Teil – ist jederzeit über die Aktivität und den Zustand des Darms auf dem aktuellen Stand. Findet somit eine Stressbelastung auch im Darm statt? Die Antwort ist eindeutig: Ja. Und dies kann deutliche Spuren hinterlassen. So weiß man z. B., dass sich die Darmflora unter intensiver körperlicher Belastung verändert. In Tierexperimenten konnte sogar nachgewiesen werden, dass diese Veränderungen unterschiedlich ausfallen können, je nachdem ob die Tiere gezwungen wurden, sich zu bewegen oder das Ganze freiwillig stattfand [4]. Änderungen der Darmflora können positive wie negative Effekte mit sich ziehen. Negative Effekte wie z. B. eine Reizung der Darmschleimhaut oder Aktivierung des Immunsystems kann eine Ernährung mit reichlich Faserstoffen (komplexen Kohlenhydraten) im Vorfeld verhindern bzw. kompensieren. Im Sport sieht man allerdings, dass gerade Faserstoffe (v.a. aus Gemüse) häufig nicht ausreichend empfohlen oder konsumiert werden, da sich der Konsum bezüglich der Ver-dauung als zeitaufwändiger darstellt und oft mit Training oder Wettkampf nicht immer vereinbar ist. Vielmehr versucht man deshalb, vermehrt Kohlenhydratquellen einzusetzen, welche den Verdauungstrakt weniger beeinträchtigen, aber die Energieversorgung erheblich verbessern können [5]. Und gerade diese Kohlenhydrate sind auf Dauer für unsere Darmflora eben keine Regeneration, sondern verringern ihre Diversität [6].
Zusätzlich zur Änderung der Darmflora konnte man feststellen, dass sich die Darmschleimhaut oder -barriere bei intensiver körperlicher Belastung verändert: sie erhöht ihre Permeabilität [7]. Die Hauptauslöser hierfür sind in erster Linie unsere Stresshormone Adrenalin und Cortisol. Man sieht aber auch, dass sich durch das Immunsystem freigesetzte Zytokine an diesem Szenario beteiligen können [8]. Die Permeabilität der Darmschleimhaut insbesondere im Dickdarm ist zum einen maßgeblich dafür verantwortlich, inwiefern das Organ sich selbst reparieren muss. Zum anderen wird hier entschieden, inwiefern und wieviel „Fremdmaterial“ wie z. B. unverdaute Nahrungsbestandteile oder Mikroben aus dem Darmlumen durch diese Barriere in das Gewebe eindringen kann. Man kann sich vorstellen, dass diese durchaus eine Situation hervorrufen kann, die erstens eine erhöhte Reparaturintensität im Darm erfordert und zweitens in einer gesteigerten Immunaktivität enden kann, denn das mesenteriale Gewebe ist immunologisch gut ausgerüstet. Bei Radsportlern mit einem Trainingsumfang von ca. 4 – 10 Stunden pro Woche konnte bereits nach einer Stunde Belastung mit ca. 70 % der maximalen Belastungsintensität eine viszerale Minderdurchblutung festgestellt werden, die durchaus in der Lage ist die intestinale Permeabilität signifikant zu erhöhen und somit Schaden an der Barriere hervorzurufen [9]. Erhöhte Mengen Adrenalin bzw. Cortisol erhöhen zusätzlich die Durchlässigkeit der Barrieren. Und schließlich führt eine Ernährung reich an einfach verdaubaren Kohlenhydraten und wenig Faserstoffen zu einer verringerten Diversität der Darmflora und somit ebenfalls zu einer erhöhten Durchlässigkeit der Darmschleimhaut. Diese Permeabilitätsveränderung kann durchaus die bakterielle Translokation erhöhen. Und dies wiederum kann zu einem Zustand führen, den man als Endotoxämie bezeichnet [10]. Eine Endotoxämie wiederum belastet die Stresssysteme zusätzlich [11]. Die Folge kann eine weitere Erhöhung der Stresshormonproduktion mit nach und nach schlechterer Stresstoleranz sein [12].
Fazit
Die Lösung des Problems einer gestörten Darm-Hirn-Achse zeigt sich in der Regel als vielschichtiger Ansatz. Selten reichen Interventionen, die lediglich auf den Darm, das Immunsystem bzw. das Zentralnervensystem abzielen, wobei eine Behandlung des Darms inklusive der sogenannten Mikroflora sehr häufig einer der ersten Schritte darstellt. Die Erläuterung solch einer komplexen Behandlung ist lediglich in erweiterten Ausführungen darstellbar. Wichtig für die Auswahl einer guten Interventionsstrategie ist sicherlich die Beobachtung der folgenden Kriterien:
- Belastungsfähigkeit der/des Athleten (Leistungssteuerung und -diagnostik)
- Gemütszustand (Stressbelastbarkeit)
- Biorhythmus (v.a. Schlafverhalten)
- Ernährungsgewohnheiten (v.a. außerhalb der Trainings- und Wettkampfphasen)
- gegebenenfalls bestehender Nahrungsergänzungsplan bzw. Medikamenteneinnahme
- Regeneration außerhalb der Phasen sportlicher Belastung (Training und Wettkampf)
Literatur
[1] Rimmele, U.: The level of physical activity affects adrenal and cardiovascular reactivity to psychosocial stress Psychoneuroendocrinology (2009) 34, 190 – 198
[2] Lehmann M, Foster C, Dickhuth HH, et al. Autonomic imbalance hypothesis and overtraining syndrome. Med Sci Sports Exerc. 1998;30:1140 – 5
[3] Clark, A.: Exercise-induced stress behavior, gut- microbiota-brain axis and diet: a systematic review for athletes Journal of the International Society of Sports Nutrition (2016) 13:43
[4] Allen JM, Berg Miller ME, Pence BD, et al. Voluntary and forced exercise differentially alters the gut microbiome in c57bl/6j mice. J Appl Physiol (1985). 2015;118:1059 – 66
[5] Rodriguez NR, Di Marco NM, Langley S. American college of sports medicine position stand. Nutrition and athletic performance. Med Sci Sports Exerc. 2009;41:709 – 31
[6] David LA, Maurice CF, Carmody RN, et al. Diet rapidly and reproducibly alters the human gut microbiome. Nature. 2014;505:559 – 63
[7] Zheng, G.: Chronic stress and intestinal barrier dysfunction: Glucocorticoid receptor and transcription repressor HES1 regulate tight junction protein Claudin-1 promoter Nature Scientific Reports, 7, 4502, 2017
[8] de Punder K: Stress induces endotoxemia and low-grade inflammation by increasing barrier permeability. Front. Immunol. 6:223. 2015
[9] van Wijck K, Lenaerts K, Grootjans J, et al. Physiology and pathophysiology of splanchnic hypoperfusion and intestinal injury during exercise: Strategies for evaluation and prevention. Am J Physiol Gastrointest Liver Physiol. 2012;303:155 – 68
[10] Brock-Utne JG, Gaffin SL, Wells MT, et al. Endotoxaemia in exhausted runners after a long-distance race. S Afr Med J. 1988;73:533-6.
[11] Beishuizen, A.: Endotoxin and hypothalamo-pituitary-adrenal (HPA) axis J Endotoxin Res 2003;9(1):3 – 24
[12] Raison, C.: Cytokines sing the blues: Inflammation and the pathogenesis of depression TRENDS in Immunology Vol.27 No.1 January 2006
Autoren
ist Heilpraktiker mit den Schwerpunkten klinische PNI und Ernährungstherapie sowie Dipl. Sportwissenschaftler mit Weiterbildung Sportphysiotherapie. Er ist in eigener Praxis tätig und leitet die deutschlandweit aktive kPNI-Akademie in Bonn. Neben seiner Arbeit in der klinischen Praxis mit Patienten und Betreuung von Sportlern in Ernährungsfragen unterrichtet er als Dozent im Fachbereich klinische PNI und Ernährungsphysiologie.