Nach den Weihnachts- und Neujahrs-Feiertagen sind Ernährungsthemen besonders präsent. Dann entbrennt eine Art Religionskrieg – ist es Paleo oder Vegan oder gar veganes Paleo, das allen das ersehnte Heil bringt? „Vollwert“, „fettarm“ oder „Low-Carb“ sind in den sozialen Medien und auf dem Buchmarkt schon fast out. Sicherlich wartet bereits eine neue Diät-Sau, die im Frühjahr durchs Dorf getrieben werden soll.
„Ernährung“ ist ein äußerst schwierig zu erforschendes Gebiet, weil es von so vielen individuellen genetischen und psychosozialen Einflüssen begleitet und beeinflusst wird, die wissenschaftlich-methodisch nie hinreichend in den Griff zu bekommen sind. Dennoch versprechen alle möglichen Institutionen und Gurus „die gesunde Ernährung“ zu kennen – doch alleine schon ob unserer individuell unterschiedlichen Genetik kann es „die eine“ für alle nicht geben. Befragt man Fachgesellschaften, wie beispielsweise die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE), bekommt man seit langem eine Schablone abgebildet, die dennoch „die eine“ gesunde Ernährung verspricht. Wenig bekannt ist, dass deren aktuellste Empfehlungen im Grunde seit 1956 inhaltlich praktisch unverändert abgegeben werden – nur die Formulierungen und graphischen Aufmachungen sind moderner und PR-konformer geworden. Demnach sei auf eine „ausgewogene“ Ernährung zu achten, wobei „ausgewogen“ à la DGE interessanterweise bedeutet, dass der Großteil durch einen Makronährstoff abgedeckt werden soll, während die beiden anderen Makronährstoffe in der Minderheit bleiben.
Die „offiziellen“ Ernährungsempfehlungen mit einem Kohlenhydratanteil von mindestens 55 % der Energie (bei 10 – 15 En% Protein und höchstens 30 En% Fett), stammen also aus Zeiten, als die Menschen überwiegend schlank waren und sich täglich körperlich (zwangsläufig) intensiv belasten mussten – wer kein Bild davon hat, wie das Leben in Deutschland 1956 aussah, sollte sich Dokumentationsfilme zu dieser Nachkriegszeit ansehen. Für die damalige Zeit waren diese Ernährungsempfehlungen absolut sinnvoll: Nur wenig Geld stand für die teure Nahrung zur Verfügung (fast die Hälfte des Einkommens musste für die Ernährung ausgegeben werden!), aber andererseits benötigte man viel Energie für die arbeitenden Muskeln in Beruf, Haushalt und Freizeit. Unter diesen Umständen sind Brot, Backwaren und Kartoffeln ein idealer Grundstock. Große Mengen von Stärke schufen unter diesen Lebensbedingungen keine metabolischen Probleme – sie wurden täglich in den arbeitenden Muskeln verbrannt. Doch die Voraussetzungen haben sich radikal verändert. Inzwischen sind knapp zwei Drittel der Erwachsenen übergewichtig, knapp ein Viertel sogar adipös – und das typischerweise gepaart mit chronisch sitzender Lebensweise. Viele, meist zu viele Kalorien für den ob der untätigen Muskeln geschrumpften Bedarf und dann auch noch mehrheitlich aus raffinierten, industriell stark verarbeiteten, ballaststoffarmen Kohlenhydratquellen. Diese Kombination schafft Stoffwechselprobleme. Die Folgen erkennt man per Augenschein auf der Straße, wie auch an der Statistik: die Prävalenz von metabolischem Syndrom, Fettleber und Typ-2-Diabetes nimmt stetig zu, was wiederum kardiovaskuläre Erkrankungen, Krebs und Demenz-Erkrankungen nach sich zieht. Neueste Daten aus den USA lassen die 5-Jahresprognose für Deutschland düster erscheinen: Nur noch 12 % der Erwachsenen dort weisen keine Stoffwechselstörungen auf, die auf Insulinresistenz bzw. metabolisches Syndrom zurück zu führen sind.
Muskelmasse und Muskelaktivität entscheiden über Ernährung
Nach dem Essen sollen Muskeln und Leber die angebotenen Kohlenhydrate als Glykogen speichern. Die Speichkapazität der Leber für Glykogen ist auf 80 bis 100 g beschränkt und die der Muskeln ist ja nach Muskelmasse individuelle unterschiedlich – 300 oder 400 g. Mit der neuen Volkskrankheit „Sarkopenie“, dem vorzeitigen Muskelschwund, sind es vielleicht nur noch 200 g. Damit diese Tanks immer wieder befüllt werden können, müssten sie auch immer wieder entleert werden. Untätige Muskelzellen verbrauchen aber wenig Energie und bei geringer Muskelintensität werden vor allem Fette als Energiequelle herangezogen. Andererseits werden bei den empfohlenen drei Haupt- und zwei Zwischenmahlzeiten (damit der Blutzucker nicht absinkt) ständig weitere Kohlenhydrate nachgetankt. Ein Art „Überlaufen“ von Tanks findet dann auch im Körper statt: Einerseits schützen sich die Muskelzellen vor dieser ständiger energetischer Überladung, die zu oxidativem Stress in den Mitochondrien führt, indem sie „zu“ machen und „Insulinresistenz“ einschalten. Dadurch werden die angebotenen Kohlenhydratkalorien bequem in andere Speicherorgane umgeleitet – in die Leber- und Fettzellen und dort in Form von Fett gelagert. Andererseits muss der Körper versuchen, so viele Kohlenhydrate wie möglich durch „Verbrennung“ wieder loszuwerden. Deswegen schaltet er nun auch in Ruhe oder auch bei geringer muskulärer Belastung auf Kohlenhydratoxidation um und fährt dafür die Fettoxidation herunter – am Respiratorischen Quotienten kann man das leicht prüfen.
Die Leber als Knackpunkt
In alten Tierernährungsbüchern steht: Gänse müssen „genudelt“ werden, um ihre Leber fett zu bekommen. Das klappt unter den heutigen wenig artgerechten Lebensbedingungen auch beim Menschen. Die nicht-alkoholisch bedingte Fettleber (abkürzt NAFLD aus dem Englischen „Non Alcoholic Fatty Liver Disease“) ist inzwischen eine Volkskrankheit: eine aktuelle Studie aus Mecklenburg-Vorpommern weist aus, dass bereits 42 % der Erwachsenen dort eine entwickelt haben. Eine Fettleber wird insulinresistent und gibt unkontrolliert zu viel Glukose an das Blut ab, sowohl nüchtern als auch nach dem Essen: Der Einstieg zum Typ-2-Diabetes. Und die NAFL ist direkt für die häufigste vorkommende Fettstoffwechselstörung verantwortlich – hohe Trirglyceridspiegel, niedriges HDL-Cholesterin und hohe Anteile von zahlreichen kleinen, dichten LDL-Cholesterin-Partikeln. Zudem nimmt die Gerinnungsneigung des Blutes bzw. das Thromboserisiko bei NAFLD zu. Somit wird klar, warum die NAFLD inzwischen auch als Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen anerkannt ist.
Wege aus der Lebensstilfalle
Die Lösung wäre einfach: Zurück zum artgerechten Lebensstil! Wer traditionell essen will, muss auch traditionell leben: Tägliche, anstrengende muskuläre Aktivität, am besten im Sonnenlicht und dazu eine kalorisch knappe, naturbelassene Kost, gepaart mit ausreichend Ruhe und Schlaf. Doch die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. So müssen Verbraucher einfach nur verstehen: hochtechnologisiert, ohne Muskelanstrengung leben und traditionell essen – das wird mit Krankheit bestraft. Wer heute „modern“ leben will, muss auch „modern“ essen!
Flexi-Carb – ein modernes Ernährungskonzept
Eine zeitgemäße Ernährung muss selbstverständlich alle lebensnotwendigen Makro- und Mikronährstoffe liefern, zudem reichlich sekundäre Pflanzenstoffe und Ballaststoffe. Jedoch sollte die Kalorienaufnahme dem niedrigen Bedarf angepasst sein. Entsprechend sollte die Kost eine niedrige Energiedichte und eine hohe Nährstoffdichte aufweisen und weitgehend naturbelassen sein. In der Tat sprechen nunmehr auch wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse dafür, dass der „Vollwert-Gedanke“, die Nahrung so naturbelassen wie möglich zu konsumieren, vieles für sich hat. Vorsicht allerdings bei den Kohlenhydraten: Je fettleibiger und je weniger muskelaktiv, desto insulinresistenter und größer die Probleme mit Kohlenhydraten – und das gilt auch für die angebliche so „guten“ komplexen Kohlenhydrate (Stärke) und nicht nur für die kurzkettigen und „bösen“ Zucker. Umgekehrt gilt: Je schlanker und je körperlich aktiver, desto höher darf der Kohlenhydratkonsum sein. Anders ausgedrückt: Kohlenhydrate muss man sich heute erst durch anstrengende Muskelaktivität „verdienen“. Bei dem Flexi-Carb-Konzept geht es deshalb um eine flexible Anpassung an die individuellen Lebensbedingungen. Für die Mehrheit der Bevölkerung – übergewichtig mit sitzendem Lebensstil – gilt: Teilweiser oder weitgehender Austausch von Brot und Backwaren, Kartoffeln, Reis, Nudeln und Süßwaren gegen Gemüse, Salate, Pilze, Beeren und Früchte.
Die Flexi-Carb-Pyramide symbolisiert eine „moderne“ Zusammensetzung der Nahrung nach dem Flexi-Carb-Konzept. Die Gruppierung der Nahrungsmittel erfolgte auf der Basis von vier einfach nachvollziehbaren und objektiv messbaren Kriterien: Energiedichte, Nährstoffdichte, Kohlenhydratgehalt/glykämische Last und Verarbeitungsgrad. Sie sagt aus: Kohlenhydrate sind nicht per se „böse“ sondern ihre Zufuhr muss an die individuell unterschiedlichen körperlichen Bedingungen und an die Lebensweise angepasst werden. Dabei vereint das Flexi-Carb Konzept alle gesundheitsrelevanten Aspekte der mediterranen Ernährung wie auch ihren hohen Genusswert.
Fazit
Ohne regelmäßige Muskelaktivität macht die für uns traditionelle Verzehrmenge kohlenhydratreicher Lebensmittel Probleme. Für den heutigen bequemen Lebensstil ist eine mediterran ausgerichtete, kohlenhydratreduzierte Ernährung ideal, bei der Gemüse, Salate, Pilze, Beeren und Früchte die Sättigungsgrundlage bilden.
Autoren
studierte Oecotrophologie an der TU München und promovierte an der Universität Gießen. Von 1979 bis 1985 war er am Institut für Sozialmedizin, Prävention und Rehabilitation in Tutzing/Starnberger See als wiss. Mitarbeiter tätig. Seit 1986 ist er selbstständig als wiss. Berater und Dozent tätig. Unter anderem übernahm er Lehrtätigkeiten im Bereich Sporternährung (TrainerAkademie, Deutscher Sportbund, Köln; Universität Innsbruck). Seit 2008 ist er Professor an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement (DHPG) in Saarbrücken.